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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Feuer!

brannten. Das Pappdach hatte es gerettet. Vor der Tür stand unter dem Vor¬
dache Iwan. Er schmauchte mit Genuß sein Pfeifchen.

Ich gratuliere zum Regen, Euer Wohlgeboren, rief er mir munter entgegen.

Ich entließ die Soldaten. Wenn auch alles rund umher brannte, gab es für
das Stadtteilhaus einstweilen keine Gefahr. So lange der Regen anhielt und auch
noch länger, bis die Dächer und Wände wieder trockneten, konnte vom Feuer nicht
ergriffen werden, was noch nicht in Brand geraten war.

Ich rauchte in der Dienststube eine Papiros, die einzige, die noch halb trocken
war, ging dann wieder zurück, ließ das Regenwasser an mir niederfließen und
überlegte. Über den Fluß setzen -- das hatte nun keinen Sinn mehr. Die Feuer¬
wehr hatte nach dem Wechsel des Windes drüben jedenfalls nichts zu tun und
würde gewiß zurückkehren, denn wenn sich trotz dem Regen ihr Eingreifen nötig
erweisen konnte, so war das nur der Fall an der Grenze des ersten und des zweiten
Stadtteils diesseits des Markes, wo große Steingebliude Mauer an Mauer neben¬
einander standen, sodaß sich die Flamme im Innern weiterzuarbeiten vermochte, und
wo die verschiednen Negierungsanstaltcn ganz besonders Schutz nötig hatten. Die
Brücke konnte nicht passiert werden, einerlei ob sie verbrannt und eingestürzt war
oder noch stand. Der Zugang zu ihr war von beiden Seiten durch die Feuers-
brunst gesperrt. Die Feuerwehr mußte also über die Fähre am untern Ende der
Stadt und von dort über den Markt. Ich hatte nichts zu versäumen und dürfte
ihr gemütlich entgegenspazieren. Ich konnte bei dieser Gelegenheit auch zu Mahada --
hin, ich hatte währeud der langen Zeit nicht ein einzigesmal an Mahada ge¬
dacht. Als ich sie verlassen hatte, war es etwa zwei Uhr gewesen, und jetzt -- ich
zog die Uhr, die von Wasser triefte -- wahrhaftig, es ging schon auf sieben, war
aber so dunkel wie an den vorhcrgegangnen Tagen um zehn. Vier Stunden war
mir Mahada nicht in den Sinn gekommen. Freilich war ich von dem Feuer in
Anspruch genommen gewesen, aber -- bisher hatte sie mir bei meiner nicht selten
aufregenden Arbeit immer vorgeschwebt. Und auch jetzt dachte ich an sie einiger¬
maßen ruhig und kühl. Ich hatte zu viel Schrecken, zu viel Elend in diesen
Stunden gesehen. Und zudem -- ich machte mir Vorwürfe über meine Kleinlich¬
keit -- der letzte Blick in ihr Gesicht, der Eindruck, den ihr unvernünftig un¬
bändiges Wesen auf mich gemacht hatte, steckte mir in den Gliedern. Es war das
etwas neues gewesen. Früher hatte ich nie ähnliches an ihr bemerkt. Im Augen¬
blick unerwarteter Gefahr pflegt der Mensch sich unverhüllt in seinem wahren
Werte zu zeigen, und -- in einem solchen Augenblick hatte sie mich durch ihr
Versälle", sogar durch ihr Aussehen -- nur, nicht gerade abgestoßen, aber -- Ob
sie wohl vor dem Regen nach Hause gekommen war, und wie?

In den Straßen, in denen es vorhin von Menschen gewimmelt hatte, war es
jetzt stiller, aber der stumme Jammer, der sich bei dem Lichte des Feuers auf den
Zügen der Begegnenden malte, zerriß mir noch mehr das Herz als der frühere
verzweifelte, sinnlose Lärm. Teils schleppten die Leute ihre vom Regen durch¬
weichten Habseligkeiten zurück in die vom Brande verschonten Wohnungen, teils
kauerten und lagen sie bei ihrer Habe in Pfützen, die überall entstanden waren.
Großer Gott! sollte es wirklich möglich sein, daß menschliche Wesen so weit sinken,
so sehr zu Ungeheuern werden konnten, wie der Alte auf dem Markte und Iwan
behaupteten!

Ich schritt über den Markt, in dessen Umgebung die letzten glimmenden Über¬
reste schon verloschen waren. Nur dnrch die Öffnungen des großen dreistöckigen
Gebäudes stahl sich noch hin und wieder ein Lichtstrahl, und leichter, gegen den
dunkeln Himmel und das Feuer weißlich erscheinender Dampf stieg zwischen den
Mauern auf. Vou der Feuerwehr war noch nichts zu vernehmen. Sie konnte
auf denk großen Umwege und bei der Umständlichkeit des Üoersetzens jedenfalls
auch erst nach eiuer Stunde oder noch später eintreffen. Bis dahin durfte ich bei
Mahada bleiben, wo -- ich schüttelte mich vor Kälte -- einige Gläser heißen Tees


Feuer!

brannten. Das Pappdach hatte es gerettet. Vor der Tür stand unter dem Vor¬
dache Iwan. Er schmauchte mit Genuß sein Pfeifchen.

Ich gratuliere zum Regen, Euer Wohlgeboren, rief er mir munter entgegen.

Ich entließ die Soldaten. Wenn auch alles rund umher brannte, gab es für
das Stadtteilhaus einstweilen keine Gefahr. So lange der Regen anhielt und auch
noch länger, bis die Dächer und Wände wieder trockneten, konnte vom Feuer nicht
ergriffen werden, was noch nicht in Brand geraten war.

Ich rauchte in der Dienststube eine Papiros, die einzige, die noch halb trocken
war, ging dann wieder zurück, ließ das Regenwasser an mir niederfließen und
überlegte. Über den Fluß setzen — das hatte nun keinen Sinn mehr. Die Feuer¬
wehr hatte nach dem Wechsel des Windes drüben jedenfalls nichts zu tun und
würde gewiß zurückkehren, denn wenn sich trotz dem Regen ihr Eingreifen nötig
erweisen konnte, so war das nur der Fall an der Grenze des ersten und des zweiten
Stadtteils diesseits des Markes, wo große Steingebliude Mauer an Mauer neben¬
einander standen, sodaß sich die Flamme im Innern weiterzuarbeiten vermochte, und
wo die verschiednen Negierungsanstaltcn ganz besonders Schutz nötig hatten. Die
Brücke konnte nicht passiert werden, einerlei ob sie verbrannt und eingestürzt war
oder noch stand. Der Zugang zu ihr war von beiden Seiten durch die Feuers-
brunst gesperrt. Die Feuerwehr mußte also über die Fähre am untern Ende der
Stadt und von dort über den Markt. Ich hatte nichts zu versäumen und dürfte
ihr gemütlich entgegenspazieren. Ich konnte bei dieser Gelegenheit auch zu Mahada —
hin, ich hatte währeud der langen Zeit nicht ein einzigesmal an Mahada ge¬
dacht. Als ich sie verlassen hatte, war es etwa zwei Uhr gewesen, und jetzt — ich
zog die Uhr, die von Wasser triefte — wahrhaftig, es ging schon auf sieben, war
aber so dunkel wie an den vorhcrgegangnen Tagen um zehn. Vier Stunden war
mir Mahada nicht in den Sinn gekommen. Freilich war ich von dem Feuer in
Anspruch genommen gewesen, aber — bisher hatte sie mir bei meiner nicht selten
aufregenden Arbeit immer vorgeschwebt. Und auch jetzt dachte ich an sie einiger¬
maßen ruhig und kühl. Ich hatte zu viel Schrecken, zu viel Elend in diesen
Stunden gesehen. Und zudem — ich machte mir Vorwürfe über meine Kleinlich¬
keit — der letzte Blick in ihr Gesicht, der Eindruck, den ihr unvernünftig un¬
bändiges Wesen auf mich gemacht hatte, steckte mir in den Gliedern. Es war das
etwas neues gewesen. Früher hatte ich nie ähnliches an ihr bemerkt. Im Augen¬
blick unerwarteter Gefahr pflegt der Mensch sich unverhüllt in seinem wahren
Werte zu zeigen, und — in einem solchen Augenblick hatte sie mich durch ihr
Versälle», sogar durch ihr Aussehen — nur, nicht gerade abgestoßen, aber — Ob
sie wohl vor dem Regen nach Hause gekommen war, und wie?

In den Straßen, in denen es vorhin von Menschen gewimmelt hatte, war es
jetzt stiller, aber der stumme Jammer, der sich bei dem Lichte des Feuers auf den
Zügen der Begegnenden malte, zerriß mir noch mehr das Herz als der frühere
verzweifelte, sinnlose Lärm. Teils schleppten die Leute ihre vom Regen durch¬
weichten Habseligkeiten zurück in die vom Brande verschonten Wohnungen, teils
kauerten und lagen sie bei ihrer Habe in Pfützen, die überall entstanden waren.
Großer Gott! sollte es wirklich möglich sein, daß menschliche Wesen so weit sinken,
so sehr zu Ungeheuern werden konnten, wie der Alte auf dem Markte und Iwan
behaupteten!

Ich schritt über den Markt, in dessen Umgebung die letzten glimmenden Über¬
reste schon verloschen waren. Nur dnrch die Öffnungen des großen dreistöckigen
Gebäudes stahl sich noch hin und wieder ein Lichtstrahl, und leichter, gegen den
dunkeln Himmel und das Feuer weißlich erscheinender Dampf stieg zwischen den
Mauern auf. Vou der Feuerwehr war noch nichts zu vernehmen. Sie konnte
auf denk großen Umwege und bei der Umständlichkeit des Üoersetzens jedenfalls
auch erst nach eiuer Stunde oder noch später eintreffen. Bis dahin durfte ich bei
Mahada bleiben, wo — ich schüttelte mich vor Kälte — einige Gläser heißen Tees


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[0356] Feuer! brannten. Das Pappdach hatte es gerettet. Vor der Tür stand unter dem Vor¬ dache Iwan. Er schmauchte mit Genuß sein Pfeifchen. Ich gratuliere zum Regen, Euer Wohlgeboren, rief er mir munter entgegen. Ich entließ die Soldaten. Wenn auch alles rund umher brannte, gab es für das Stadtteilhaus einstweilen keine Gefahr. So lange der Regen anhielt und auch noch länger, bis die Dächer und Wände wieder trockneten, konnte vom Feuer nicht ergriffen werden, was noch nicht in Brand geraten war. Ich rauchte in der Dienststube eine Papiros, die einzige, die noch halb trocken war, ging dann wieder zurück, ließ das Regenwasser an mir niederfließen und überlegte. Über den Fluß setzen — das hatte nun keinen Sinn mehr. Die Feuer¬ wehr hatte nach dem Wechsel des Windes drüben jedenfalls nichts zu tun und würde gewiß zurückkehren, denn wenn sich trotz dem Regen ihr Eingreifen nötig erweisen konnte, so war das nur der Fall an der Grenze des ersten und des zweiten Stadtteils diesseits des Markes, wo große Steingebliude Mauer an Mauer neben¬ einander standen, sodaß sich die Flamme im Innern weiterzuarbeiten vermochte, und wo die verschiednen Negierungsanstaltcn ganz besonders Schutz nötig hatten. Die Brücke konnte nicht passiert werden, einerlei ob sie verbrannt und eingestürzt war oder noch stand. Der Zugang zu ihr war von beiden Seiten durch die Feuers- brunst gesperrt. Die Feuerwehr mußte also über die Fähre am untern Ende der Stadt und von dort über den Markt. Ich hatte nichts zu versäumen und dürfte ihr gemütlich entgegenspazieren. Ich konnte bei dieser Gelegenheit auch zu Mahada — hin, ich hatte währeud der langen Zeit nicht ein einzigesmal an Mahada ge¬ dacht. Als ich sie verlassen hatte, war es etwa zwei Uhr gewesen, und jetzt — ich zog die Uhr, die von Wasser triefte — wahrhaftig, es ging schon auf sieben, war aber so dunkel wie an den vorhcrgegangnen Tagen um zehn. Vier Stunden war mir Mahada nicht in den Sinn gekommen. Freilich war ich von dem Feuer in Anspruch genommen gewesen, aber — bisher hatte sie mir bei meiner nicht selten aufregenden Arbeit immer vorgeschwebt. Und auch jetzt dachte ich an sie einiger¬ maßen ruhig und kühl. Ich hatte zu viel Schrecken, zu viel Elend in diesen Stunden gesehen. Und zudem — ich machte mir Vorwürfe über meine Kleinlich¬ keit — der letzte Blick in ihr Gesicht, der Eindruck, den ihr unvernünftig un¬ bändiges Wesen auf mich gemacht hatte, steckte mir in den Gliedern. Es war das etwas neues gewesen. Früher hatte ich nie ähnliches an ihr bemerkt. Im Augen¬ blick unerwarteter Gefahr pflegt der Mensch sich unverhüllt in seinem wahren Werte zu zeigen, und — in einem solchen Augenblick hatte sie mich durch ihr Versälle», sogar durch ihr Aussehen — nur, nicht gerade abgestoßen, aber — Ob sie wohl vor dem Regen nach Hause gekommen war, und wie? In den Straßen, in denen es vorhin von Menschen gewimmelt hatte, war es jetzt stiller, aber der stumme Jammer, der sich bei dem Lichte des Feuers auf den Zügen der Begegnenden malte, zerriß mir noch mehr das Herz als der frühere verzweifelte, sinnlose Lärm. Teils schleppten die Leute ihre vom Regen durch¬ weichten Habseligkeiten zurück in die vom Brande verschonten Wohnungen, teils kauerten und lagen sie bei ihrer Habe in Pfützen, die überall entstanden waren. Großer Gott! sollte es wirklich möglich sein, daß menschliche Wesen so weit sinken, so sehr zu Ungeheuern werden konnten, wie der Alte auf dem Markte und Iwan behaupteten! Ich schritt über den Markt, in dessen Umgebung die letzten glimmenden Über¬ reste schon verloschen waren. Nur dnrch die Öffnungen des großen dreistöckigen Gebäudes stahl sich noch hin und wieder ein Lichtstrahl, und leichter, gegen den dunkeln Himmel und das Feuer weißlich erscheinender Dampf stieg zwischen den Mauern auf. Vou der Feuerwehr war noch nichts zu vernehmen. Sie konnte auf denk großen Umwege und bei der Umständlichkeit des Üoersetzens jedenfalls auch erst nach eiuer Stunde oder noch später eintreffen. Bis dahin durfte ich bei Mahada bleiben, wo — ich schüttelte mich vor Kälte — einige Gläser heißen Tees

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/356>, abgerufen am 25.08.2024.