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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Im Lazarett

Schar von neunzehn angeblich marschfähigen Lazarettgenossen unsers Saales Gewehr
bei Fuß. Einige packten noch in Tornister und Brodsack, was sie an Brotkrumen
finden konnten. Es war sicherlich eine lächerliche Gesellschaft, und so mochte es
auch jedem Einzelnen davon vorkommen, wenn er seinen Nebenmann ansah. Aber
der Ernst der Lage und die Disziplin wirkten auch hier Wunder. Diese Jammer¬
gestalten stellten sich in Reih und Glied, die Flügelmänner waren gleich herausgefunden,
und ein pommerscher Unteroffizier, dem der Helm ganz sonderbar auf dem ver-
bundnen Kopf schwankte, stellte zurecht, teilte Sektionen ab, kommandierte "still¬
gestanden!" und ließ "Ju Reihen gesetzt, rechtsum!" machen, dann Front, worauf
er erklärte, in Reihen gesetzt würden wir abmarschieren, wenn der Befehl dazu
käme, jetzt sollte sich jeder einstweilen an seinen Platz begeben. Das Gewehrfeuer
hatte sich indessen offenbar immer weiter von der Stadt weggezogen, doch blieben
unten im Hof die Wagen bespannt, die vorhin aufgefahren waren, und jetzt hörte
man, wie einzelne beordert wurden, in der Richtung auf Longpre' hinauszufahren,
um Verwundete hereinzuholen. Noch an demselben Abend wurden unserm Saal
zwei Leichtverwundete zugeteilt, ein Musketier und ein Sergeant, die das Gefecht
des Nachmittags mitgemacht hatten und noch Zeugen des Rückzugs der Franzosen
gewesen waren. Ich sehe den Sergeanten, dem zwei Finger der linken Hand ab¬
geschossen waren, vor mir, wie er mit Begeisterung die drei siebengliedrigen Salven
schilderte, die seine quer über die Straße liegende Kompagnie in die Franzosen
abgegeben hatte, die man auf fünfzig Schritte hatte herankommen lassen. Mit
Recht war er besonders stolz darauf, daß kein Schuß vor dem Kommando los¬
gegangen war. Das war ein Unterschied, das Hcckenfeuer von den Franzosen, das
nur so prasselte, und unsre Salven, ein Unterschied, wie wenn ihr kleingcspaltnes
Kienholz oder einen buchnen Klotz in den Ofen legt. Ja, Salven kann man gar
nicht genug üben, fügte er hinzu, als ob er sich Vornahme, gleich bei der Rück¬
kunft in die Garnison diese Kriegserfahrung kräftigst auszunutzen.




Die letzten Gefechte hatten zahlreiche Verwundete gebracht, und der frühe
Frost viele Kranke. Da wurde es nun Ernst mit dein "Evakuieren." Zwei Tage
uach diesem aufgeregten Abend hielten Leiterwagen, mit Stroh gefüllt, in denen
zwanzig von uns ein paar Etappen weiter rückwärts befördert wurden. Daß wir
erst in Luneville Halt machen würden, wußten wir damals nicht. Es war eine
kalte Fahrt, auf der einige von uns die Lehre, daß man bei fünfzehn bis zwanzig
Grad unter Null unbeweglich auf dem Stroh offner Wagen liegend die Zehen
erfriert, wenn man nicht die Stiefel auszieht und die Füße mit Stroh umwickelt^
mit erneuter Erkrankung bezahlten.

Ganz andre Lehren trug ich aber in meinem Innern rin. Dem Lazarett,
wo ich genau vier Wochen gelegen hatte, sagte ich mit dem Gefühl Lebewohl, reicher
zu gehn, als ich gekommen war. Den Krieg, den ich bis zu meiner Verwundung
wie einen abwechslungsreichen Spaziergang mitgemacht hatte, lernte ich hier von
der ernstesten Seite kennen. Früher hatte mich schon der Gedanke an eine chirur¬
gische Operation aus einem Krankenzimmer vertreiben können, und an den Aus¬
bruch epileptischer Krämpfe, dessen Zeuge ich mehrmals gewesen war, hatte ich nur
mit Grausen zurückgedacht. Hier erfuhr ich nun zum erstenmal den Segen der
Selbstaufopferung, der vielen edeln Menschen das Leben erst lebenswert macht.
Nun übertrug sich die Kameradschaft mit Gesunden ganz selbstverständlich in das
Selbstgebot tätiger Teilnahme an den Leiden der Kranken. Ich habe mit der
Zeit meinen Aufenthalt und meine Tätigkeit als eine Art von freiwilligem Lazarett¬
gehilfen liebgewonnen.

Im Rückblick auf diese Erfahrungen erkenne ich, daß sich in dem alten Lazarett
von D. Ereignisse von entscheidender Bedeutung für mein ganzes Leben ab¬
gespielt haben. Und zwar wurde mir klar, daß es Wohl wichtig für einen Manu
sei, dem Tode nahe ins Auge geblickt und erfahren zu haben, daß ihm das ohne


Im Lazarett

Schar von neunzehn angeblich marschfähigen Lazarettgenossen unsers Saales Gewehr
bei Fuß. Einige packten noch in Tornister und Brodsack, was sie an Brotkrumen
finden konnten. Es war sicherlich eine lächerliche Gesellschaft, und so mochte es
auch jedem Einzelnen davon vorkommen, wenn er seinen Nebenmann ansah. Aber
der Ernst der Lage und die Disziplin wirkten auch hier Wunder. Diese Jammer¬
gestalten stellten sich in Reih und Glied, die Flügelmänner waren gleich herausgefunden,
und ein pommerscher Unteroffizier, dem der Helm ganz sonderbar auf dem ver-
bundnen Kopf schwankte, stellte zurecht, teilte Sektionen ab, kommandierte „still¬
gestanden!" und ließ „Ju Reihen gesetzt, rechtsum!" machen, dann Front, worauf
er erklärte, in Reihen gesetzt würden wir abmarschieren, wenn der Befehl dazu
käme, jetzt sollte sich jeder einstweilen an seinen Platz begeben. Das Gewehrfeuer
hatte sich indessen offenbar immer weiter von der Stadt weggezogen, doch blieben
unten im Hof die Wagen bespannt, die vorhin aufgefahren waren, und jetzt hörte
man, wie einzelne beordert wurden, in der Richtung auf Longpre' hinauszufahren,
um Verwundete hereinzuholen. Noch an demselben Abend wurden unserm Saal
zwei Leichtverwundete zugeteilt, ein Musketier und ein Sergeant, die das Gefecht
des Nachmittags mitgemacht hatten und noch Zeugen des Rückzugs der Franzosen
gewesen waren. Ich sehe den Sergeanten, dem zwei Finger der linken Hand ab¬
geschossen waren, vor mir, wie er mit Begeisterung die drei siebengliedrigen Salven
schilderte, die seine quer über die Straße liegende Kompagnie in die Franzosen
abgegeben hatte, die man auf fünfzig Schritte hatte herankommen lassen. Mit
Recht war er besonders stolz darauf, daß kein Schuß vor dem Kommando los¬
gegangen war. Das war ein Unterschied, das Hcckenfeuer von den Franzosen, das
nur so prasselte, und unsre Salven, ein Unterschied, wie wenn ihr kleingcspaltnes
Kienholz oder einen buchnen Klotz in den Ofen legt. Ja, Salven kann man gar
nicht genug üben, fügte er hinzu, als ob er sich Vornahme, gleich bei der Rück¬
kunft in die Garnison diese Kriegserfahrung kräftigst auszunutzen.




Die letzten Gefechte hatten zahlreiche Verwundete gebracht, und der frühe
Frost viele Kranke. Da wurde es nun Ernst mit dein „Evakuieren." Zwei Tage
uach diesem aufgeregten Abend hielten Leiterwagen, mit Stroh gefüllt, in denen
zwanzig von uns ein paar Etappen weiter rückwärts befördert wurden. Daß wir
erst in Luneville Halt machen würden, wußten wir damals nicht. Es war eine
kalte Fahrt, auf der einige von uns die Lehre, daß man bei fünfzehn bis zwanzig
Grad unter Null unbeweglich auf dem Stroh offner Wagen liegend die Zehen
erfriert, wenn man nicht die Stiefel auszieht und die Füße mit Stroh umwickelt^
mit erneuter Erkrankung bezahlten.

Ganz andre Lehren trug ich aber in meinem Innern rin. Dem Lazarett,
wo ich genau vier Wochen gelegen hatte, sagte ich mit dem Gefühl Lebewohl, reicher
zu gehn, als ich gekommen war. Den Krieg, den ich bis zu meiner Verwundung
wie einen abwechslungsreichen Spaziergang mitgemacht hatte, lernte ich hier von
der ernstesten Seite kennen. Früher hatte mich schon der Gedanke an eine chirur¬
gische Operation aus einem Krankenzimmer vertreiben können, und an den Aus¬
bruch epileptischer Krämpfe, dessen Zeuge ich mehrmals gewesen war, hatte ich nur
mit Grausen zurückgedacht. Hier erfuhr ich nun zum erstenmal den Segen der
Selbstaufopferung, der vielen edeln Menschen das Leben erst lebenswert macht.
Nun übertrug sich die Kameradschaft mit Gesunden ganz selbstverständlich in das
Selbstgebot tätiger Teilnahme an den Leiden der Kranken. Ich habe mit der
Zeit meinen Aufenthalt und meine Tätigkeit als eine Art von freiwilligem Lazarett¬
gehilfen liebgewonnen.

Im Rückblick auf diese Erfahrungen erkenne ich, daß sich in dem alten Lazarett
von D. Ereignisse von entscheidender Bedeutung für mein ganzes Leben ab¬
gespielt haben. Und zwar wurde mir klar, daß es Wohl wichtig für einen Manu
sei, dem Tode nahe ins Auge geblickt und erfahren zu haben, daß ihm das ohne


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[0352] Im Lazarett Schar von neunzehn angeblich marschfähigen Lazarettgenossen unsers Saales Gewehr bei Fuß. Einige packten noch in Tornister und Brodsack, was sie an Brotkrumen finden konnten. Es war sicherlich eine lächerliche Gesellschaft, und so mochte es auch jedem Einzelnen davon vorkommen, wenn er seinen Nebenmann ansah. Aber der Ernst der Lage und die Disziplin wirkten auch hier Wunder. Diese Jammer¬ gestalten stellten sich in Reih und Glied, die Flügelmänner waren gleich herausgefunden, und ein pommerscher Unteroffizier, dem der Helm ganz sonderbar auf dem ver- bundnen Kopf schwankte, stellte zurecht, teilte Sektionen ab, kommandierte „still¬ gestanden!" und ließ „Ju Reihen gesetzt, rechtsum!" machen, dann Front, worauf er erklärte, in Reihen gesetzt würden wir abmarschieren, wenn der Befehl dazu käme, jetzt sollte sich jeder einstweilen an seinen Platz begeben. Das Gewehrfeuer hatte sich indessen offenbar immer weiter von der Stadt weggezogen, doch blieben unten im Hof die Wagen bespannt, die vorhin aufgefahren waren, und jetzt hörte man, wie einzelne beordert wurden, in der Richtung auf Longpre' hinauszufahren, um Verwundete hereinzuholen. Noch an demselben Abend wurden unserm Saal zwei Leichtverwundete zugeteilt, ein Musketier und ein Sergeant, die das Gefecht des Nachmittags mitgemacht hatten und noch Zeugen des Rückzugs der Franzosen gewesen waren. Ich sehe den Sergeanten, dem zwei Finger der linken Hand ab¬ geschossen waren, vor mir, wie er mit Begeisterung die drei siebengliedrigen Salven schilderte, die seine quer über die Straße liegende Kompagnie in die Franzosen abgegeben hatte, die man auf fünfzig Schritte hatte herankommen lassen. Mit Recht war er besonders stolz darauf, daß kein Schuß vor dem Kommando los¬ gegangen war. Das war ein Unterschied, das Hcckenfeuer von den Franzosen, das nur so prasselte, und unsre Salven, ein Unterschied, wie wenn ihr kleingcspaltnes Kienholz oder einen buchnen Klotz in den Ofen legt. Ja, Salven kann man gar nicht genug üben, fügte er hinzu, als ob er sich Vornahme, gleich bei der Rück¬ kunft in die Garnison diese Kriegserfahrung kräftigst auszunutzen. Die letzten Gefechte hatten zahlreiche Verwundete gebracht, und der frühe Frost viele Kranke. Da wurde es nun Ernst mit dein „Evakuieren." Zwei Tage uach diesem aufgeregten Abend hielten Leiterwagen, mit Stroh gefüllt, in denen zwanzig von uns ein paar Etappen weiter rückwärts befördert wurden. Daß wir erst in Luneville Halt machen würden, wußten wir damals nicht. Es war eine kalte Fahrt, auf der einige von uns die Lehre, daß man bei fünfzehn bis zwanzig Grad unter Null unbeweglich auf dem Stroh offner Wagen liegend die Zehen erfriert, wenn man nicht die Stiefel auszieht und die Füße mit Stroh umwickelt^ mit erneuter Erkrankung bezahlten. Ganz andre Lehren trug ich aber in meinem Innern rin. Dem Lazarett, wo ich genau vier Wochen gelegen hatte, sagte ich mit dem Gefühl Lebewohl, reicher zu gehn, als ich gekommen war. Den Krieg, den ich bis zu meiner Verwundung wie einen abwechslungsreichen Spaziergang mitgemacht hatte, lernte ich hier von der ernstesten Seite kennen. Früher hatte mich schon der Gedanke an eine chirur¬ gische Operation aus einem Krankenzimmer vertreiben können, und an den Aus¬ bruch epileptischer Krämpfe, dessen Zeuge ich mehrmals gewesen war, hatte ich nur mit Grausen zurückgedacht. Hier erfuhr ich nun zum erstenmal den Segen der Selbstaufopferung, der vielen edeln Menschen das Leben erst lebenswert macht. Nun übertrug sich die Kameradschaft mit Gesunden ganz selbstverständlich in das Selbstgebot tätiger Teilnahme an den Leiden der Kranken. Ich habe mit der Zeit meinen Aufenthalt und meine Tätigkeit als eine Art von freiwilligem Lazarett¬ gehilfen liebgewonnen. Im Rückblick auf diese Erfahrungen erkenne ich, daß sich in dem alten Lazarett von D. Ereignisse von entscheidender Bedeutung für mein ganzes Leben ab¬ gespielt haben. Und zwar wurde mir klar, daß es Wohl wichtig für einen Manu sei, dem Tode nahe ins Auge geblickt und erfahren zu haben, daß ihm das ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/352>, abgerufen am 25.07.2024.