Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Feuer!

nicht zu kümmern. Das Hains, wo sie wohnte, lag links hinter mir über dem
Winde, war also völlig außer aller Gefahr. Ich mußte zur Feuerwehr. Das
konnte unter diesen Umständen aber nur geschehn, indem ich weit links zurück, wo
es am Ende der Stadt eine Fahre und Übersetzcrbvote gab, den Fluß passierte.
Da hatte ich es doch näher, wenn ich in meinen Stadtteil eilte und dnrch die
Verkündigungsstraße zum User gelaugte, wo es mir glücken konnte, jemand zu
finden, der mich in seinem Boot um das jenseitige Ufer brachte.

Während ich rasch durch die Straßen ging, durch die ich am Morgen ge¬
kommen war, erhielt ich allmählich erst den richtigen Begriff von der Ausdehnung
der Feuersbrunst, die zu meiner Linken wütete. Je weiter ich gelangte, desto mehr
erschrak ich vor der grausenerregendem Furchtbarkeit des Bildes, das sich mir dnrch
jede Quergasse, durch jede Lücke zwischen deu Gebäuden bot. Wie ein ungeheurer
Strom geschmolznen Metalls, dunkelrot, ohne Unterbrechung oder Zwischenräume,
schoß die Flamme dahin, und nur an dem äußern, mir zugewandten Rande waren
i" diesem Strom einzelne Schornsteine und Dachgerippe zu sehen. Über dem Strom
aber lag eine ebenso unuuterbrochue Schicht schwarzen, wallenden Rauches. Un¬
beweglich wäre diese Schicht dem Auge erschienen, wenn sich nicht hin und wieder
gelbe und graue Streifen von unregelmäßiger Form mit der Schnelligkeit des
Windes, der alles zusammentrieb, in ihr fortgeschlängelt hätten. Und schauerlicher
"och als das Auge wurde das Ohr berührt. Die Flamme sauste und heulte, Mauern
stürzten, Dächer brachen zufammen, Balken barsten. Es war ein Lärm, von dem
das Haar sich sträuben, die Besinnung schwinden konnte.

Kein Wunder, daß sich die Menschen, die sich und ihre Habe aus dem Be¬
reich der Gefahr zum Stadtmude zu schaffen suchten, wie Unsinnige gebärdeten, sich
gegenseitig hinderten und stießen oder wirres Zeug zueinander redeten, ohne sich
zu versteh". In immer größerer Menge kreuzten sie meinen Weg. An immer jammer¬
vollern, immer wahnsinnigem Szenen ging ich vorüber.

Menschen, die vielleicht das Beste von dem, was sie besaßen, einzubüßen im
Begriff waren, zankten sich um ein paar alte Stiefel und beschuldigten sich gegen¬
seitig, sie gestohlen zu haben. Mütter, die ihre Kinder an den Händen führten,
schrieen nach ihnen und hörten nicht ans die Kleinen, die unter verzweifelten Tränen
versicherten, daß sie ja da feien. Ein junger Mann in Hemdärmeln schleppte mit
conr jungen Dame im Feiertagsstaat eiuen schweren Kasten, worin sie wohl ihre
besten Sachen gepackt hatten. Sie kamen aus eiuer Quergasse, die auf der andern
Seite der Straße keine gerade Fortschuug hatte. Atemlos vor Angst und An¬
strengung erreichten sie quer über die Straße den Zaun, der ihnen den weitern
Weg versperrte Sie starrten den Zaun eine Weile an, und dann ließ der Mann
den Kasten los und machte sich daran, an den Brettern des Zauns zu rütteln und
^' breche". Er riß sich die Nägel von den Fingern. Das Blut lief an den
Handen nieder. Er ließ nicht nach. Er wollte den Zaun niederbrechen. Und
nur etwa zwanzig Schritte zur Seite war die Fortsetzung der Quergasse deutlich
sichtbar.

Aus dieser Fortsetzung der Quergasse erschallte plötzlich wildes Gekreisch nnter-
"möcht mit greulichem, rohem Fluchen. Im Galopp kamen mehrere Lastfnhrleute
hintereinander zum Vorschein. Sie standen in den leeren Wagen aufrecht, rissen
an deu Leinen und peitschten unbarmherzig auf die Pferde ein. Ohne Rücksicht
Zagten sie durch das Gedränge, trafen Menschen mit den Wagenstangen, rissen sie
mit den langen Holzachsen nieder und schwangen brüllend und schimpfend die
Peitschen in der Luft. Die roten, erregten Gesichter sagten es deutlich -- sie
Ware" betrunken. Ich sprang ans sie zu. Ich griff nach der Leine des letzten
Pferdes. Der Kerl auf dem Wagen holte mit der Peitsche nach nnr ans. Sie
waren vorüber, hinein in die Quergasse, die zum Feuer führte.

Empört schaute ich ihnen nach. Ob ich ihnen nicht folgen sollte? Doch was
konnte ich allein ausrichten? Hilfe hatte ich von niemand zu erwarten. Schutzleute


Grenzboten II 1903 W
Feuer!

nicht zu kümmern. Das Hains, wo sie wohnte, lag links hinter mir über dem
Winde, war also völlig außer aller Gefahr. Ich mußte zur Feuerwehr. Das
konnte unter diesen Umständen aber nur geschehn, indem ich weit links zurück, wo
es am Ende der Stadt eine Fahre und Übersetzcrbvote gab, den Fluß passierte.
Da hatte ich es doch näher, wenn ich in meinen Stadtteil eilte und dnrch die
Verkündigungsstraße zum User gelaugte, wo es mir glücken konnte, jemand zu
finden, der mich in seinem Boot um das jenseitige Ufer brachte.

Während ich rasch durch die Straßen ging, durch die ich am Morgen ge¬
kommen war, erhielt ich allmählich erst den richtigen Begriff von der Ausdehnung
der Feuersbrunst, die zu meiner Linken wütete. Je weiter ich gelangte, desto mehr
erschrak ich vor der grausenerregendem Furchtbarkeit des Bildes, das sich mir dnrch
jede Quergasse, durch jede Lücke zwischen deu Gebäuden bot. Wie ein ungeheurer
Strom geschmolznen Metalls, dunkelrot, ohne Unterbrechung oder Zwischenräume,
schoß die Flamme dahin, und nur an dem äußern, mir zugewandten Rande waren
i» diesem Strom einzelne Schornsteine und Dachgerippe zu sehen. Über dem Strom
aber lag eine ebenso unuuterbrochue Schicht schwarzen, wallenden Rauches. Un¬
beweglich wäre diese Schicht dem Auge erschienen, wenn sich nicht hin und wieder
gelbe und graue Streifen von unregelmäßiger Form mit der Schnelligkeit des
Windes, der alles zusammentrieb, in ihr fortgeschlängelt hätten. Und schauerlicher
»och als das Auge wurde das Ohr berührt. Die Flamme sauste und heulte, Mauern
stürzten, Dächer brachen zufammen, Balken barsten. Es war ein Lärm, von dem
das Haar sich sträuben, die Besinnung schwinden konnte.

Kein Wunder, daß sich die Menschen, die sich und ihre Habe aus dem Be¬
reich der Gefahr zum Stadtmude zu schaffen suchten, wie Unsinnige gebärdeten, sich
gegenseitig hinderten und stießen oder wirres Zeug zueinander redeten, ohne sich
zu versteh». In immer größerer Menge kreuzten sie meinen Weg. An immer jammer¬
vollern, immer wahnsinnigem Szenen ging ich vorüber.

Menschen, die vielleicht das Beste von dem, was sie besaßen, einzubüßen im
Begriff waren, zankten sich um ein paar alte Stiefel und beschuldigten sich gegen¬
seitig, sie gestohlen zu haben. Mütter, die ihre Kinder an den Händen führten,
schrieen nach ihnen und hörten nicht ans die Kleinen, die unter verzweifelten Tränen
versicherten, daß sie ja da feien. Ein junger Mann in Hemdärmeln schleppte mit
conr jungen Dame im Feiertagsstaat eiuen schweren Kasten, worin sie wohl ihre
besten Sachen gepackt hatten. Sie kamen aus eiuer Quergasse, die auf der andern
Seite der Straße keine gerade Fortschuug hatte. Atemlos vor Angst und An¬
strengung erreichten sie quer über die Straße den Zaun, der ihnen den weitern
Weg versperrte Sie starrten den Zaun eine Weile an, und dann ließ der Mann
den Kasten los und machte sich daran, an den Brettern des Zauns zu rütteln und
^' breche«. Er riß sich die Nägel von den Fingern. Das Blut lief an den
Handen nieder. Er ließ nicht nach. Er wollte den Zaun niederbrechen. Und
nur etwa zwanzig Schritte zur Seite war die Fortsetzung der Quergasse deutlich
sichtbar.

Aus dieser Fortsetzung der Quergasse erschallte plötzlich wildes Gekreisch nnter-
»möcht mit greulichem, rohem Fluchen. Im Galopp kamen mehrere Lastfnhrleute
hintereinander zum Vorschein. Sie standen in den leeren Wagen aufrecht, rissen
an deu Leinen und peitschten unbarmherzig auf die Pferde ein. Ohne Rücksicht
Zagten sie durch das Gedränge, trafen Menschen mit den Wagenstangen, rissen sie
mit den langen Holzachsen nieder und schwangen brüllend und schimpfend die
Peitschen in der Luft. Die roten, erregten Gesichter sagten es deutlich — sie
Ware» betrunken. Ich sprang ans sie zu. Ich griff nach der Leine des letzten
Pferdes. Der Kerl auf dem Wagen holte mit der Peitsche nach nnr ans. Sie
waren vorüber, hinein in die Quergasse, die zum Feuer führte.

Empört schaute ich ihnen nach. Ob ich ihnen nicht folgen sollte? Doch was
konnte ich allein ausrichten? Hilfe hatte ich von niemand zu erwarten. Schutzleute


Grenzboten II 1903 W
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0297" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/240679"/>
            <fw type="header" place="top"> Feuer!</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1478" prev="#ID_1477"> nicht zu kümmern. Das Hains, wo sie wohnte, lag links hinter mir über dem<lb/>
Winde, war also völlig außer aller Gefahr. Ich mußte zur Feuerwehr. Das<lb/>
konnte unter diesen Umständen aber nur geschehn, indem ich weit links zurück, wo<lb/>
es am Ende der Stadt eine Fahre und Übersetzcrbvote gab, den Fluß passierte.<lb/>
Da hatte ich es doch näher, wenn ich in meinen Stadtteil eilte und dnrch die<lb/>
Verkündigungsstraße zum User gelaugte, wo es mir glücken konnte, jemand zu<lb/>
finden, der mich in seinem Boot um das jenseitige Ufer brachte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1479"> Während ich rasch durch die Straßen ging, durch die ich am Morgen ge¬<lb/>
kommen war, erhielt ich allmählich erst den richtigen Begriff von der Ausdehnung<lb/>
der Feuersbrunst, die zu meiner Linken wütete. Je weiter ich gelangte, desto mehr<lb/>
erschrak ich vor der grausenerregendem Furchtbarkeit des Bildes, das sich mir dnrch<lb/>
jede Quergasse, durch jede Lücke zwischen deu Gebäuden bot. Wie ein ungeheurer<lb/>
Strom geschmolznen Metalls, dunkelrot, ohne Unterbrechung oder Zwischenräume,<lb/>
schoß die Flamme dahin, und nur an dem äußern, mir zugewandten Rande waren<lb/>
i» diesem Strom einzelne Schornsteine und Dachgerippe zu sehen. Über dem Strom<lb/>
aber lag eine ebenso unuuterbrochue Schicht schwarzen, wallenden Rauches. Un¬<lb/>
beweglich wäre diese Schicht dem Auge erschienen, wenn sich nicht hin und wieder<lb/>
gelbe und graue Streifen von unregelmäßiger Form mit der Schnelligkeit des<lb/>
Windes, der alles zusammentrieb, in ihr fortgeschlängelt hätten. Und schauerlicher<lb/>
»och als das Auge wurde das Ohr berührt. Die Flamme sauste und heulte, Mauern<lb/>
stürzten, Dächer brachen zufammen, Balken barsten. Es war ein Lärm, von dem<lb/>
das Haar sich sträuben, die Besinnung schwinden konnte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1480"> Kein Wunder, daß sich die Menschen, die sich und ihre Habe aus dem Be¬<lb/>
reich der Gefahr zum Stadtmude zu schaffen suchten, wie Unsinnige gebärdeten, sich<lb/>
gegenseitig hinderten und stießen oder wirres Zeug zueinander redeten, ohne sich<lb/>
zu versteh». In immer größerer Menge kreuzten sie meinen Weg. An immer jammer¬<lb/>
vollern, immer wahnsinnigem Szenen ging ich vorüber.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1481"> Menschen, die vielleicht das Beste von dem, was sie besaßen, einzubüßen im<lb/>
Begriff waren, zankten sich um ein paar alte Stiefel und beschuldigten sich gegen¬<lb/>
seitig, sie gestohlen zu haben. Mütter, die ihre Kinder an den Händen führten,<lb/>
schrieen nach ihnen und hörten nicht ans die Kleinen, die unter verzweifelten Tränen<lb/>
versicherten, daß sie ja da feien. Ein junger Mann in Hemdärmeln schleppte mit<lb/>
conr jungen Dame im Feiertagsstaat eiuen schweren Kasten, worin sie wohl ihre<lb/>
besten Sachen gepackt hatten. Sie kamen aus eiuer Quergasse, die auf der andern<lb/>
Seite der Straße keine gerade Fortschuug hatte. Atemlos vor Angst und An¬<lb/>
strengung erreichten sie quer über die Straße den Zaun, der ihnen den weitern<lb/>
Weg versperrte Sie starrten den Zaun eine Weile an, und dann ließ der Mann<lb/>
den Kasten los und machte sich daran, an den Brettern des Zauns zu rütteln und<lb/>
^' breche«. Er riß sich die Nägel von den Fingern. Das Blut lief an den<lb/>
Handen nieder. Er ließ nicht nach. Er wollte den Zaun niederbrechen. Und<lb/>
nur etwa zwanzig Schritte zur Seite war die Fortsetzung der Quergasse deutlich<lb/>
sichtbar.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1482"> Aus dieser Fortsetzung der Quergasse erschallte plötzlich wildes Gekreisch nnter-<lb/>
»möcht mit greulichem, rohem Fluchen. Im Galopp kamen mehrere Lastfnhrleute<lb/>
hintereinander zum Vorschein. Sie standen in den leeren Wagen aufrecht, rissen<lb/>
an deu Leinen und peitschten unbarmherzig auf die Pferde ein. Ohne Rücksicht<lb/>
Zagten sie durch das Gedränge, trafen Menschen mit den Wagenstangen, rissen sie<lb/>
mit den langen Holzachsen nieder und schwangen brüllend und schimpfend die<lb/>
Peitschen in der Luft. Die roten, erregten Gesichter sagten es deutlich &#x2014; sie<lb/>
Ware» betrunken. Ich sprang ans sie zu. Ich griff nach der Leine des letzten<lb/>
Pferdes. Der Kerl auf dem Wagen holte mit der Peitsche nach nnr ans. Sie<lb/>
waren vorüber, hinein in die Quergasse, die zum Feuer führte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1483" next="#ID_1484"> Empört schaute ich ihnen nach. Ob ich ihnen nicht folgen sollte? Doch was<lb/>
konnte ich allein ausrichten? Hilfe hatte ich von niemand zu erwarten. Schutzleute</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1903 W</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0297] Feuer! nicht zu kümmern. Das Hains, wo sie wohnte, lag links hinter mir über dem Winde, war also völlig außer aller Gefahr. Ich mußte zur Feuerwehr. Das konnte unter diesen Umständen aber nur geschehn, indem ich weit links zurück, wo es am Ende der Stadt eine Fahre und Übersetzcrbvote gab, den Fluß passierte. Da hatte ich es doch näher, wenn ich in meinen Stadtteil eilte und dnrch die Verkündigungsstraße zum User gelaugte, wo es mir glücken konnte, jemand zu finden, der mich in seinem Boot um das jenseitige Ufer brachte. Während ich rasch durch die Straßen ging, durch die ich am Morgen ge¬ kommen war, erhielt ich allmählich erst den richtigen Begriff von der Ausdehnung der Feuersbrunst, die zu meiner Linken wütete. Je weiter ich gelangte, desto mehr erschrak ich vor der grausenerregendem Furchtbarkeit des Bildes, das sich mir dnrch jede Quergasse, durch jede Lücke zwischen deu Gebäuden bot. Wie ein ungeheurer Strom geschmolznen Metalls, dunkelrot, ohne Unterbrechung oder Zwischenräume, schoß die Flamme dahin, und nur an dem äußern, mir zugewandten Rande waren i» diesem Strom einzelne Schornsteine und Dachgerippe zu sehen. Über dem Strom aber lag eine ebenso unuuterbrochue Schicht schwarzen, wallenden Rauches. Un¬ beweglich wäre diese Schicht dem Auge erschienen, wenn sich nicht hin und wieder gelbe und graue Streifen von unregelmäßiger Form mit der Schnelligkeit des Windes, der alles zusammentrieb, in ihr fortgeschlängelt hätten. Und schauerlicher »och als das Auge wurde das Ohr berührt. Die Flamme sauste und heulte, Mauern stürzten, Dächer brachen zufammen, Balken barsten. Es war ein Lärm, von dem das Haar sich sträuben, die Besinnung schwinden konnte. Kein Wunder, daß sich die Menschen, die sich und ihre Habe aus dem Be¬ reich der Gefahr zum Stadtmude zu schaffen suchten, wie Unsinnige gebärdeten, sich gegenseitig hinderten und stießen oder wirres Zeug zueinander redeten, ohne sich zu versteh». In immer größerer Menge kreuzten sie meinen Weg. An immer jammer¬ vollern, immer wahnsinnigem Szenen ging ich vorüber. Menschen, die vielleicht das Beste von dem, was sie besaßen, einzubüßen im Begriff waren, zankten sich um ein paar alte Stiefel und beschuldigten sich gegen¬ seitig, sie gestohlen zu haben. Mütter, die ihre Kinder an den Händen führten, schrieen nach ihnen und hörten nicht ans die Kleinen, die unter verzweifelten Tränen versicherten, daß sie ja da feien. Ein junger Mann in Hemdärmeln schleppte mit conr jungen Dame im Feiertagsstaat eiuen schweren Kasten, worin sie wohl ihre besten Sachen gepackt hatten. Sie kamen aus eiuer Quergasse, die auf der andern Seite der Straße keine gerade Fortschuug hatte. Atemlos vor Angst und An¬ strengung erreichten sie quer über die Straße den Zaun, der ihnen den weitern Weg versperrte Sie starrten den Zaun eine Weile an, und dann ließ der Mann den Kasten los und machte sich daran, an den Brettern des Zauns zu rütteln und ^' breche«. Er riß sich die Nägel von den Fingern. Das Blut lief an den Handen nieder. Er ließ nicht nach. Er wollte den Zaun niederbrechen. Und nur etwa zwanzig Schritte zur Seite war die Fortsetzung der Quergasse deutlich sichtbar. Aus dieser Fortsetzung der Quergasse erschallte plötzlich wildes Gekreisch nnter- »möcht mit greulichem, rohem Fluchen. Im Galopp kamen mehrere Lastfnhrleute hintereinander zum Vorschein. Sie standen in den leeren Wagen aufrecht, rissen an deu Leinen und peitschten unbarmherzig auf die Pferde ein. Ohne Rücksicht Zagten sie durch das Gedränge, trafen Menschen mit den Wagenstangen, rissen sie mit den langen Holzachsen nieder und schwangen brüllend und schimpfend die Peitschen in der Luft. Die roten, erregten Gesichter sagten es deutlich — sie Ware» betrunken. Ich sprang ans sie zu. Ich griff nach der Leine des letzten Pferdes. Der Kerl auf dem Wagen holte mit der Peitsche nach nnr ans. Sie waren vorüber, hinein in die Quergasse, die zum Feuer führte. Empört schaute ich ihnen nach. Ob ich ihnen nicht folgen sollte? Doch was konnte ich allein ausrichten? Hilfe hatte ich von niemand zu erwarten. Schutzleute Grenzboten II 1903 W

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/297
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/297>, abgerufen am 28.08.2024.