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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Deutsch-prmlßische Kirchrnpolitik

tief eingeprägt, als daß sie sogar dann, wenn es sich um äußere Verhältnisse
der Kirche handelt, Zweckmäßigkeitsgründen einen entscheidenden Einfluß ein¬
zuräumen geneigt wären, Sie haben sich auch allzusehr daran gewöhnt,
immer nur zu protestiere", also immer nur im Zustande der Abwehr, um nicht
zu sagen der Notwehr zu sein, sie sind in eine Menge größerer und kleinerer, der
Organisation und sogar dein Bekenntnis nach sehr verschiedner Landeskirchen
geteilt, über deren Schranken die wenigsten hinaussehen, ohne jede gemeinsame
Organisation, und sie sind im allgemeinen, soweit sie kirchlich empfinden, von
historisch sehr begreiflichen, tiefem Mißtrauen gegen alles erfüllt, was mit Rom
zusammenhängt, von dem sie doch meist recht wenig wissen. Daß die deutsche
Nation mit der Reformation die Glaubens- lind die Geistesfreiheit, die Voraus¬
setzung der modernen Kultur, begründet hat, das ist ihr berechtigter Stolz;
daß sie damals mit der Trennung ihrer Mehrheit von Rom ihre kirchliche
Weltstellung, den Anteil an der Regierung der römischen Weltkirche, und damit
ihren erdumspannenden Gesichtskreis verloren hat, das wird nicht beachtet.
Auch hier wird der Übergang zu einer Weltpolitik, das heißt zu einem weitern
Horizont unvermeidlich sein. Es ist, trotz alles Widerstrebens, auch wohl nur
eine Aufgabe der nähern Zukunft, den deutschen evangelischen Landeskirchen
irgend eine gemeinsame Organisation zu geben. In der Verfassung und in
äußerlichen Zuchtmitteln hat freilich niemals ihre Stärke beruht und soll sie
nicht beruhen, sondern im Geist; aber wenn sie dem Katholizismus, dessen
Stärke eben in der Organisation liegt, oft genug zum Schaden des innern
Lebens, die Wage halten sollen, dann werden sie das Bewußtsein der Gemein¬
samkeit lebendiger entwickeln müssen, als es jetzt ist, und dazu genügen nicht
Verbindungen wie der Gustav-Adolf-Verein oder der Evangelische Bund, so
wertvoll sie sind, dazu sind irgendwelche gemeinsame Organe nötig, nicht hier¬
archischer Art, sondern solche, die auf dein Grunde tatkräftiger Teilnahme der
Gemeinden erwachsen. Einmal ausgesprochen, wie das vom Kaiser am 26. De¬
zember 1901 in Gotha geschehn ist, kann diese Idee nicht wieder verschwinden,
denn sie kommt einem unleugbaren Bedürfnis entgegen, das nur die Eng¬
herzigkeit verkennen kann. Die deutschen Landeskirchen waren das Ergebnis
der territorialen Zersplitterung des alten Reichs; dem neuen im Vundesstant
geordneten Reich würde eine föderative Zusammenfassung seiner evangelischen
Landeskirchen entsprechen. Die mannigfach gehegte Befürchtung vor einer zu
weit gehenden Zentralisation und Unifizieruug unsers so reich und vielseitig
entwickelten kirchlich-evangelischen Lebens ist ganz gewiß gegenstandslos. Denn
weder die Verfassung noch der Bekenntnisstand der einzelnen Landeskirchen soll
in Frage gestellt werden, und schon der ganze Charakter unsers Volks, dessen
einzelne Gruppen viel mehr zum Abschluß als zum Zusammenschluß neigen,
" bietet gegen die getrnumte Gefahr eine wahrhaftig genügende Bürgschaft.




Deutsch-prmlßische Kirchrnpolitik

tief eingeprägt, als daß sie sogar dann, wenn es sich um äußere Verhältnisse
der Kirche handelt, Zweckmäßigkeitsgründen einen entscheidenden Einfluß ein¬
zuräumen geneigt wären, Sie haben sich auch allzusehr daran gewöhnt,
immer nur zu protestiere», also immer nur im Zustande der Abwehr, um nicht
zu sagen der Notwehr zu sein, sie sind in eine Menge größerer und kleinerer, der
Organisation und sogar dein Bekenntnis nach sehr verschiedner Landeskirchen
geteilt, über deren Schranken die wenigsten hinaussehen, ohne jede gemeinsame
Organisation, und sie sind im allgemeinen, soweit sie kirchlich empfinden, von
historisch sehr begreiflichen, tiefem Mißtrauen gegen alles erfüllt, was mit Rom
zusammenhängt, von dem sie doch meist recht wenig wissen. Daß die deutsche
Nation mit der Reformation die Glaubens- lind die Geistesfreiheit, die Voraus¬
setzung der modernen Kultur, begründet hat, das ist ihr berechtigter Stolz;
daß sie damals mit der Trennung ihrer Mehrheit von Rom ihre kirchliche
Weltstellung, den Anteil an der Regierung der römischen Weltkirche, und damit
ihren erdumspannenden Gesichtskreis verloren hat, das wird nicht beachtet.
Auch hier wird der Übergang zu einer Weltpolitik, das heißt zu einem weitern
Horizont unvermeidlich sein. Es ist, trotz alles Widerstrebens, auch wohl nur
eine Aufgabe der nähern Zukunft, den deutschen evangelischen Landeskirchen
irgend eine gemeinsame Organisation zu geben. In der Verfassung und in
äußerlichen Zuchtmitteln hat freilich niemals ihre Stärke beruht und soll sie
nicht beruhen, sondern im Geist; aber wenn sie dem Katholizismus, dessen
Stärke eben in der Organisation liegt, oft genug zum Schaden des innern
Lebens, die Wage halten sollen, dann werden sie das Bewußtsein der Gemein¬
samkeit lebendiger entwickeln müssen, als es jetzt ist, und dazu genügen nicht
Verbindungen wie der Gustav-Adolf-Verein oder der Evangelische Bund, so
wertvoll sie sind, dazu sind irgendwelche gemeinsame Organe nötig, nicht hier¬
archischer Art, sondern solche, die auf dein Grunde tatkräftiger Teilnahme der
Gemeinden erwachsen. Einmal ausgesprochen, wie das vom Kaiser am 26. De¬
zember 1901 in Gotha geschehn ist, kann diese Idee nicht wieder verschwinden,
denn sie kommt einem unleugbaren Bedürfnis entgegen, das nur die Eng¬
herzigkeit verkennen kann. Die deutschen Landeskirchen waren das Ergebnis
der territorialen Zersplitterung des alten Reichs; dem neuen im Vundesstant
geordneten Reich würde eine föderative Zusammenfassung seiner evangelischen
Landeskirchen entsprechen. Die mannigfach gehegte Befürchtung vor einer zu
weit gehenden Zentralisation und Unifizieruug unsers so reich und vielseitig
entwickelten kirchlich-evangelischen Lebens ist ganz gewiß gegenstandslos. Denn
weder die Verfassung noch der Bekenntnisstand der einzelnen Landeskirchen soll
in Frage gestellt werden, und schon der ganze Charakter unsers Volks, dessen
einzelne Gruppen viel mehr zum Abschluß als zum Zusammenschluß neigen,
" bietet gegen die getrnumte Gefahr eine wahrhaftig genügende Bürgschaft.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/16>, abgerufen am 03.07.2024.