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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Das englische Rechtswesen

sind die Ruhegehälter, 1000 Pfund bei Grafschaftrichtern und 3500 und mehr
bei den andern.

Bei der allmählichen Entwicklung des englischen Ncchtswesens wie aller
englischen Einrichtungen kann man oft schwer angeben, zu welcher Zeit eine
bedeutende Neuerung eingetreten ist. Wenn sich ein Mangel merkbar macht,
so wird ihm abgeholfen in einer Weise, die das Wesen des Ganzen möglichst
wenig berührt, und erst lauge nachher wird es ans den Folgen klar, wie
wichtig die Änderung war. Dieser konservative Zug geht so weit, daß man,
wo das Wesen geschwunden ist, wenigstens deu Namen zu retten sucht, und
das; sogar gänzlich überlebten Einrichtungen noch ein gesetzliches Dasein ge¬
lassen wird, wofern sie nur sonst nicht störend wirken. So halten die Nach¬
folger der mittelalterlichen Feudalherren noch heutzutage ihren baronialcn
Gerichtshof, obgleich das ganze Fendalwesen längst dahin, und die ehalt^, der
Treueid der Gerichtspslichtigeu, von dem noch immer geredet wird, nichts als
eine hohle Redensart ist. Einen verwandten Vorgänger hatte der Court Bcirvu
schon in dem Hofgerichte der angelsächsischen Großen, und seine größte Be¬
deutung erlangte er in der Blütezeit der Barone, in der es ihm gelang, dem
alten Hundertschaftgericht Licht und Luft zu nehmen. Aber er konnte nie
mehr als eine örtliche Bedeutung haben, und sobald die zentralisierenden Be¬
strebungen des Königtums den pnrtikularistischen Widerstand des Adels über¬
wunden hatten, wurde er zu einer bloßen Reliquie, die wegzufegen kaum der
Mühe lohnt, von deren Vorhandensein die meisten nicht einmal wissen. Der
Court Baron ragt in unsre Zeit hinein wie das .Klage- und Rügegericht zu
Bolkmmmrode in: Harz, das als letzter Nest der alten dentschen Gerichtsver¬
fassung noch vor wenig Jahren bestand.

Was im englischen Nechtswcsen wirklich lebendig ist, hat als seine Grund¬
lage die Einrichtungen, die von der einheitlichen Macht des Königtums ge¬
schaffen wurde". So groß die Unterschiede von heute und von damals sind, überall
kann man doch eine Anknüpfung an das Alte und einen allmählichen Übergang
nachweisen. In seinem Aufbau ist das englische Nechtswesen, wie es sich jetzt
darstellt, von dein dentschen sehr verschieden. Das deutsche ist eine systematisch
gebaute Pyramide, die im Reichsgericht in Leipzig gipfelt. Das englische sieht
eher aus wie ein massiger Würfel. Ein niedriges Untergeschoß wird in voller
Ausdehnung von einem wuchtigen Obergeschoß bedeckt, über das sich als Dach
der Bernfnngsgerichtshof erhebt, und als Dachreiter thront oben das Richter¬
kollegium der Lords. Das bescheidne Erdgeschoß ist wieder in zwei Hälften
geteilt, deren Insassen voneinander nichts wissen. Auf der einen Seite
wohnen die Grafschnftgerichtc für bürgerliche Streitigkeiten, auf der andern
Seite mit eignem Eingange ist das Heim der strafenden Themis. In den
Prächtigen Räumen oben, wo die Richter in deu großen Perücken und faltigen
Talaren zu Hause siud, gibt es keine solche Scheidung. Doch von der Strcif-
rechtspflegc sei hier ganz abgesehen.'

Wie die Grafschaftgerichte jetzt eingerichtet sind, haben sie erst ein kurzes
Dasein. Im Mittelalter waren sie Versammlungen, in denen die Freisassen
der Grafschaft unter dem Vorsitze des Sheriffs die Streitfälle entschieden.


Das englische Rechtswesen

sind die Ruhegehälter, 1000 Pfund bei Grafschaftrichtern und 3500 und mehr
bei den andern.

Bei der allmählichen Entwicklung des englischen Ncchtswesens wie aller
englischen Einrichtungen kann man oft schwer angeben, zu welcher Zeit eine
bedeutende Neuerung eingetreten ist. Wenn sich ein Mangel merkbar macht,
so wird ihm abgeholfen in einer Weise, die das Wesen des Ganzen möglichst
wenig berührt, und erst lauge nachher wird es ans den Folgen klar, wie
wichtig die Änderung war. Dieser konservative Zug geht so weit, daß man,
wo das Wesen geschwunden ist, wenigstens deu Namen zu retten sucht, und
das; sogar gänzlich überlebten Einrichtungen noch ein gesetzliches Dasein ge¬
lassen wird, wofern sie nur sonst nicht störend wirken. So halten die Nach¬
folger der mittelalterlichen Feudalherren noch heutzutage ihren baronialcn
Gerichtshof, obgleich das ganze Fendalwesen längst dahin, und die ehalt^, der
Treueid der Gerichtspslichtigeu, von dem noch immer geredet wird, nichts als
eine hohle Redensart ist. Einen verwandten Vorgänger hatte der Court Bcirvu
schon in dem Hofgerichte der angelsächsischen Großen, und seine größte Be¬
deutung erlangte er in der Blütezeit der Barone, in der es ihm gelang, dem
alten Hundertschaftgericht Licht und Luft zu nehmen. Aber er konnte nie
mehr als eine örtliche Bedeutung haben, und sobald die zentralisierenden Be¬
strebungen des Königtums den pnrtikularistischen Widerstand des Adels über¬
wunden hatten, wurde er zu einer bloßen Reliquie, die wegzufegen kaum der
Mühe lohnt, von deren Vorhandensein die meisten nicht einmal wissen. Der
Court Baron ragt in unsre Zeit hinein wie das .Klage- und Rügegericht zu
Bolkmmmrode in: Harz, das als letzter Nest der alten dentschen Gerichtsver¬
fassung noch vor wenig Jahren bestand.

Was im englischen Nechtswcsen wirklich lebendig ist, hat als seine Grund¬
lage die Einrichtungen, die von der einheitlichen Macht des Königtums ge¬
schaffen wurde». So groß die Unterschiede von heute und von damals sind, überall
kann man doch eine Anknüpfung an das Alte und einen allmählichen Übergang
nachweisen. In seinem Aufbau ist das englische Nechtswesen, wie es sich jetzt
darstellt, von dein dentschen sehr verschieden. Das deutsche ist eine systematisch
gebaute Pyramide, die im Reichsgericht in Leipzig gipfelt. Das englische sieht
eher aus wie ein massiger Würfel. Ein niedriges Untergeschoß wird in voller
Ausdehnung von einem wuchtigen Obergeschoß bedeckt, über das sich als Dach
der Bernfnngsgerichtshof erhebt, und als Dachreiter thront oben das Richter¬
kollegium der Lords. Das bescheidne Erdgeschoß ist wieder in zwei Hälften
geteilt, deren Insassen voneinander nichts wissen. Auf der einen Seite
wohnen die Grafschnftgerichtc für bürgerliche Streitigkeiten, auf der andern
Seite mit eignem Eingange ist das Heim der strafenden Themis. In den
Prächtigen Räumen oben, wo die Richter in deu großen Perücken und faltigen
Talaren zu Hause siud, gibt es keine solche Scheidung. Doch von der Strcif-
rechtspflegc sei hier ganz abgesehen.'

Wie die Grafschaftgerichte jetzt eingerichtet sind, haben sie erst ein kurzes
Dasein. Im Mittelalter waren sie Versammlungen, in denen die Freisassen
der Grafschaft unter dem Vorsitze des Sheriffs die Streitfälle entschieden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/145>, abgerufen am 24.07.2024.