Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.standen, so verloren in den ersten Jahren nach der Gründung Petersburgs Mit welchen Mitteln der Zar für Zucht und Ordnung zu sorgen wußte, In den Straßen der am völkerverbindenden Meer erbautet, Hauptstadt standen, so verloren in den ersten Jahren nach der Gründung Petersburgs Mit welchen Mitteln der Zar für Zucht und Ordnung zu sorgen wußte, In den Straßen der am völkerverbindenden Meer erbautet, Hauptstadt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239654"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_439" prev="#ID_438"> standen, so verloren in den ersten Jahren nach der Gründung Petersburgs<lb/> Hunderte von Menschen durch diese Laune des Zaren ihr Leben. Jeder vor¬<lb/> nehme Mann, der sich in der neuen Residenz ansiedelte, erhielt die strenge<lb/> Weisung, ein Fahrzeug mit drei Matrosen zu unterhalten. War er zu Hofe<lb/> geladen, so durfte er kein andres Beförderungsmittel benutzen. Ferner hatte<lb/> er sich regelmäßig an den Übungen der sogenannten „Newnflotte" zu be¬<lb/> teiligen. Nach Peters Tode wurden die Übungen auf dem Wasser noch eine<lb/> Zeit lang fortgesetzt, schliefen aber bei der angebornen Abneigung der Russen<lb/> gegen ungewohnte Anstrengungen schließlich ganz ein.</p><lb/> <p xml:id="ID_440"> Mit welchen Mitteln der Zar für Zucht und Ordnung zu sorgen wußte,<lb/> geht aus folgendem Vorkommnis hervor. Im Jahre 1710 hatten mehrere<lb/> Soldaten aus den in Brand geratnen Bretterbuden des Marktes Waren ge¬<lb/> stohlen. Dn die Täter nicht zu ermitteln waren, so wurden vier Mann der<lb/> Garnison durchs Los für den Galgen bestimmt. Mit Knute und Henkerbeil<lb/> trieb der ungeduldige Despot sein Volk in den Fortschritt hinein. Er hat<lb/> seinen Willen durchgesetzt und wäre mit weniger Härte und Schonungslosigkeit<lb/> wohl nicht halb so weit gekommen. Er streute mit gewaltigem Wurf eine<lb/> reiche Zukunftssaat aus. Es waren aber nicht bloß fruchtbringende Keime,<lb/> sondern auch gefährliche Gärstoffe, die er in Rußlands Boden senkte. Nie<lb/> hat eine Zeit in schrofferen Widerspruch zu allen organischen Entwicklungs¬<lb/> gesetzen gestanden, als die petrinische Neformära. Peter begründete seine<lb/> eigentümliche Kulturarbeit mit barbarischen Zwangsmitteln, die ein geist¬<lb/> voller Beurteiler mit deu Worten gekennzeichnet hat: „In Nußland gibt es<lb/> nur Gemachtes im Gegensatz zum Gewordnen, nur Gesetz im Gegensatz zum<lb/> Recht." Alles, was Peter schuf, nahm den Weg von oben nach unten, für<lb/> die geistige und wirtschaftliche Hebung der breiten Massen geschah so gut wie<lb/> nichts. Er rief Lateinschulen, Fachanstalten, die Akademie der Wissenschaften<lb/> ins Leben; das Volk verharrte in sklavischer Gebundenheit und dumpfer Un¬<lb/> wissenheit. Den Adel zog er uach sich, das „schwarze Volk" vermochte auch<lb/> er mit seinen Riesenkräften nicht von der Stelle zu bewegen. So konnte denn<lb/> mit Recht der Zustand der russischen Gesellschaft mit einem „Tarnntaß" ver¬<lb/> glichen werden, dessen Vorreiter mit den Zugpferden davongaloppiert waren<lb/> und das schwerfällige Geführt unbekümmert in Schlamm und Steppe hatten<lb/> stecken lassen. Der russische Bauer ist heute im Grunde noch derselbe, der er<lb/> zu Peters Zeit war, ja er steht zum Teil noch tiefer, denn er beginnt wieder<lb/> in die migeerbten Nomadentriebe zurückzusinken, während er damals an die<lb/> Scholle gefesselt und zu ihrer Bearbeitung und Pflege gezwungen war.</p><lb/> <p xml:id="ID_441" next="#ID_442"> In den Straßen der am völkerverbindenden Meer erbautet, Hauptstadt<lb/> des modernen Rußlands ist sicher soviel Blut geflossen, wie auf dein berühmten<lb/> „Noten Platz" in Moskau, der Hinrichtungsstätte der alten Zarendespoten.<lb/> Der Kampf zwischen Fortschritt und trägem Beharren, den Peter mit so un¬<lb/> geheurer Energie eröffnet hatte, kleidete sich später in die mannigfachsten Formen.<lb/> Während des achtzehnten Jahrhunderts war es meist die der Palastrevolution<lb/> und des Prätorinnerhandstreichs. In mancher dunkeln Winternacht kündete<lb/> der dumpfe Gleichschritt heranmarschiercnder Garderegimenter der herrschenden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0098]
standen, so verloren in den ersten Jahren nach der Gründung Petersburgs
Hunderte von Menschen durch diese Laune des Zaren ihr Leben. Jeder vor¬
nehme Mann, der sich in der neuen Residenz ansiedelte, erhielt die strenge
Weisung, ein Fahrzeug mit drei Matrosen zu unterhalten. War er zu Hofe
geladen, so durfte er kein andres Beförderungsmittel benutzen. Ferner hatte
er sich regelmäßig an den Übungen der sogenannten „Newnflotte" zu be¬
teiligen. Nach Peters Tode wurden die Übungen auf dem Wasser noch eine
Zeit lang fortgesetzt, schliefen aber bei der angebornen Abneigung der Russen
gegen ungewohnte Anstrengungen schließlich ganz ein.
Mit welchen Mitteln der Zar für Zucht und Ordnung zu sorgen wußte,
geht aus folgendem Vorkommnis hervor. Im Jahre 1710 hatten mehrere
Soldaten aus den in Brand geratnen Bretterbuden des Marktes Waren ge¬
stohlen. Dn die Täter nicht zu ermitteln waren, so wurden vier Mann der
Garnison durchs Los für den Galgen bestimmt. Mit Knute und Henkerbeil
trieb der ungeduldige Despot sein Volk in den Fortschritt hinein. Er hat
seinen Willen durchgesetzt und wäre mit weniger Härte und Schonungslosigkeit
wohl nicht halb so weit gekommen. Er streute mit gewaltigem Wurf eine
reiche Zukunftssaat aus. Es waren aber nicht bloß fruchtbringende Keime,
sondern auch gefährliche Gärstoffe, die er in Rußlands Boden senkte. Nie
hat eine Zeit in schrofferen Widerspruch zu allen organischen Entwicklungs¬
gesetzen gestanden, als die petrinische Neformära. Peter begründete seine
eigentümliche Kulturarbeit mit barbarischen Zwangsmitteln, die ein geist¬
voller Beurteiler mit deu Worten gekennzeichnet hat: „In Nußland gibt es
nur Gemachtes im Gegensatz zum Gewordnen, nur Gesetz im Gegensatz zum
Recht." Alles, was Peter schuf, nahm den Weg von oben nach unten, für
die geistige und wirtschaftliche Hebung der breiten Massen geschah so gut wie
nichts. Er rief Lateinschulen, Fachanstalten, die Akademie der Wissenschaften
ins Leben; das Volk verharrte in sklavischer Gebundenheit und dumpfer Un¬
wissenheit. Den Adel zog er uach sich, das „schwarze Volk" vermochte auch
er mit seinen Riesenkräften nicht von der Stelle zu bewegen. So konnte denn
mit Recht der Zustand der russischen Gesellschaft mit einem „Tarnntaß" ver¬
glichen werden, dessen Vorreiter mit den Zugpferden davongaloppiert waren
und das schwerfällige Geführt unbekümmert in Schlamm und Steppe hatten
stecken lassen. Der russische Bauer ist heute im Grunde noch derselbe, der er
zu Peters Zeit war, ja er steht zum Teil noch tiefer, denn er beginnt wieder
in die migeerbten Nomadentriebe zurückzusinken, während er damals an die
Scholle gefesselt und zu ihrer Bearbeitung und Pflege gezwungen war.
In den Straßen der am völkerverbindenden Meer erbautet, Hauptstadt
des modernen Rußlands ist sicher soviel Blut geflossen, wie auf dein berühmten
„Noten Platz" in Moskau, der Hinrichtungsstätte der alten Zarendespoten.
Der Kampf zwischen Fortschritt und trägem Beharren, den Peter mit so un¬
geheurer Energie eröffnet hatte, kleidete sich später in die mannigfachsten Formen.
Während des achtzehnten Jahrhunderts war es meist die der Palastrevolution
und des Prätorinnerhandstreichs. In mancher dunkeln Winternacht kündete
der dumpfe Gleichschritt heranmarschiercnder Garderegimenter der herrschenden
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