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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

ein Ällinml sooi^is, weil er vieler Dinge bedarf, die er sich ohne die Hilfe
andrer Menschen nicht verschaffen kann. Demnach hat er eine vernünftige Gesell¬
schaftsordnung herzustellen. Diese Ordnung hat zu verhüten, daß die Menschen
einander hindern, sie muß also die Eintracht und den Frieden erhalten. Dazu gehört,
daß einem jeden das seine gesichert, also Gerechtigkeit geübt werde. Es find also
göttliche Gebote nötig, die einen jeden im ruhigen Besitz und Genuß dessen, was
ihm zukommt, schützen. Diesen Zweck erfüllen die Gebote: Du sollst Vater und
Mutter ehren, du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen,
du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten, du sollst deines
Nächsten Weib und Eigentum nicht begehren. Diese Gebote Gottes zu beobachten,
wird der Mensch auf zweierlei Weise geneigt gemacht, innerlich und äußerlich. Inner-
lich durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten; denn wer einen andern liebt, der
gibt ihm freiwillig und freudig, was er ihm schuldig ist, und mehr als dieses
(liböi'Alitsr sunerxMit). Weil aber nicht alle so geartet sind, so müssen die übrigen
durch die Furcht vor Strafe zur Erfüllung des Gesetzes angehalten werden. Die die
Liebe haben, sind sich selbst Gesetz (sibi ixsi sunt lsx); für sie hätte also kein äußeres
Gesetz gegeben zu werden brauchen; dieses war nur für die andern nötig, die nicht
von selbst dem Guten zuneigen, weshalb Paulus sagt, das Gesetz ist nicht für die
Gerechten sondern für die Ungerechten gegeben. Was aber nicht so zu Verstehn ist,
wie es einige mißdeutet haben, daß die Gerechten zur Erfüllung des Gesetzes nicht
verpflichtet wären, sondern nur so, daß sie auch ohne Gesetz von selbst die Forderungen
der Gerechtigkeit erfüllen." Über diese schon der Sprache nach recht kindliche Moral¬
lehre werden ja unsre modernen höchst erhabnen Ethiker die Nase rümpfen, aber
sie hat wenigstens den doch vielleicht nicht ganz wertlosen Vorzug, daß man sie
versteht. Bei der Erörterung des Verhältnisses der katholischen Moral zur weltlichen
Kultur hebt Mausbach hervor, die hergebrachte Anklage unterschiede dem Grad¬
unterschiede einen Gegensatz; weil der Katholik die himmlischen Güter höher schätze
als die irdischen, so beschuldige mau ihn, daß er alles Irdische und Weltliche für
böse erkläre. "Nicht Mangel an natürlicher Liebe, stoische Apathie oder buddhistischer
Weltschmerz, soudern das Übergewicht eiuer höhern Liebe ist es, das dem christ¬
lichen Asketen den Glanz irdischer Reize erbleichen läßt. Nicht die Negation als
solche, sondern die durch sie gewonnene Freiheit für eine größere, unmittelbar Gott
und der Gesamtheit dienende Lebensaufgabe gibt dem christlichen Verzicht auf die
Welt den höhern sittlichen Wert. Geistvoll, aber auch sachlich zutreffend, sagt der
heilige Johannes Chrhsvstomus- Wäre in den Augen der Christen die Ehe, das
häusliche Streben und Arbeiten etwas Verächtliches oder Geringes, so würde er
das Opfer dieser Güter nicht als etwas Heroisches preisen; denn nur, wer Großes
opfert, verdient den Namen eines Helden." Die lutherische Orthodoxie bestreitet
grundsätzlich, daß es Grade der Sittlichkeit, Stufen gebe, auf denen der Christ zur
Vollkommenheit aufsteige. Ich halte an dieser katholischen Anschauung fest. Mit diesen
Stufen und Graden fallen die Kreise eines sozusagen esoterischen und exoterischen
Christentums nicht zusammen, die ich bei einer andern Gelegenheit beschrieben habe.
Aber auch der geistliche, der Ordensstand und der Lnienstand sind nach katholischer
Kirchenlehre nicht gleichbedeutend mit höhern und niedern Stufen des sittlichen
Lebens; obwohl die Priester und die Klosterleute strenger zur Erfüllung der gött¬
lichen Gebote verpflichtet sind als die Laien und eigentlich alle vollkommen sein
sollten, hat doch die katholische Kirche niemals geleugnet, daß viele verheiratete
Laien aller Stände sehr tugendhaft, viele Priester und Mönche sehr lasterhaft leben.
Die Beobachtung der sogenannten evangelischen Räte macht nicht die Vollkommenheit
aus, sondern wird nur als ein Hilfsmittel zu ihrer Erreichung empfohlen, sowie
allen Gläubigen ohne Unterschieds auch den Laien, Gebet und Fasten als solche
Mittel geboten werden. Bezeichnet doch das Wort Askese nichts andres, als was
der Sportmann Training und der Militär Drill nennt. Mausbach gibt zu, daß
die mittelalterlichen asketischen Schriftsteller, die ja meistens Mönche waren, ebenso
auch die Kirchenväter, hie und da "den offnen Blick für die sittliche Bedeutung


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ein Ällinml sooi^is, weil er vieler Dinge bedarf, die er sich ohne die Hilfe
andrer Menschen nicht verschaffen kann. Demnach hat er eine vernünftige Gesell¬
schaftsordnung herzustellen. Diese Ordnung hat zu verhüten, daß die Menschen
einander hindern, sie muß also die Eintracht und den Frieden erhalten. Dazu gehört,
daß einem jeden das seine gesichert, also Gerechtigkeit geübt werde. Es find also
göttliche Gebote nötig, die einen jeden im ruhigen Besitz und Genuß dessen, was
ihm zukommt, schützen. Diesen Zweck erfüllen die Gebote: Du sollst Vater und
Mutter ehren, du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen,
du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten, du sollst deines
Nächsten Weib und Eigentum nicht begehren. Diese Gebote Gottes zu beobachten,
wird der Mensch auf zweierlei Weise geneigt gemacht, innerlich und äußerlich. Inner-
lich durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten; denn wer einen andern liebt, der
gibt ihm freiwillig und freudig, was er ihm schuldig ist, und mehr als dieses
(liböi'Alitsr sunerxMit). Weil aber nicht alle so geartet sind, so müssen die übrigen
durch die Furcht vor Strafe zur Erfüllung des Gesetzes angehalten werden. Die die
Liebe haben, sind sich selbst Gesetz (sibi ixsi sunt lsx); für sie hätte also kein äußeres
Gesetz gegeben zu werden brauchen; dieses war nur für die andern nötig, die nicht
von selbst dem Guten zuneigen, weshalb Paulus sagt, das Gesetz ist nicht für die
Gerechten sondern für die Ungerechten gegeben. Was aber nicht so zu Verstehn ist,
wie es einige mißdeutet haben, daß die Gerechten zur Erfüllung des Gesetzes nicht
verpflichtet wären, sondern nur so, daß sie auch ohne Gesetz von selbst die Forderungen
der Gerechtigkeit erfüllen." Über diese schon der Sprache nach recht kindliche Moral¬
lehre werden ja unsre modernen höchst erhabnen Ethiker die Nase rümpfen, aber
sie hat wenigstens den doch vielleicht nicht ganz wertlosen Vorzug, daß man sie
versteht. Bei der Erörterung des Verhältnisses der katholischen Moral zur weltlichen
Kultur hebt Mausbach hervor, die hergebrachte Anklage unterschiede dem Grad¬
unterschiede einen Gegensatz; weil der Katholik die himmlischen Güter höher schätze
als die irdischen, so beschuldige mau ihn, daß er alles Irdische und Weltliche für
böse erkläre. „Nicht Mangel an natürlicher Liebe, stoische Apathie oder buddhistischer
Weltschmerz, soudern das Übergewicht eiuer höhern Liebe ist es, das dem christ¬
lichen Asketen den Glanz irdischer Reize erbleichen läßt. Nicht die Negation als
solche, sondern die durch sie gewonnene Freiheit für eine größere, unmittelbar Gott
und der Gesamtheit dienende Lebensaufgabe gibt dem christlichen Verzicht auf die
Welt den höhern sittlichen Wert. Geistvoll, aber auch sachlich zutreffend, sagt der
heilige Johannes Chrhsvstomus- Wäre in den Augen der Christen die Ehe, das
häusliche Streben und Arbeiten etwas Verächtliches oder Geringes, so würde er
das Opfer dieser Güter nicht als etwas Heroisches preisen; denn nur, wer Großes
opfert, verdient den Namen eines Helden." Die lutherische Orthodoxie bestreitet
grundsätzlich, daß es Grade der Sittlichkeit, Stufen gebe, auf denen der Christ zur
Vollkommenheit aufsteige. Ich halte an dieser katholischen Anschauung fest. Mit diesen
Stufen und Graden fallen die Kreise eines sozusagen esoterischen und exoterischen
Christentums nicht zusammen, die ich bei einer andern Gelegenheit beschrieben habe.
Aber auch der geistliche, der Ordensstand und der Lnienstand sind nach katholischer
Kirchenlehre nicht gleichbedeutend mit höhern und niedern Stufen des sittlichen
Lebens; obwohl die Priester und die Klosterleute strenger zur Erfüllung der gött¬
lichen Gebote verpflichtet sind als die Laien und eigentlich alle vollkommen sein
sollten, hat doch die katholische Kirche niemals geleugnet, daß viele verheiratete
Laien aller Stände sehr tugendhaft, viele Priester und Mönche sehr lasterhaft leben.
Die Beobachtung der sogenannten evangelischen Räte macht nicht die Vollkommenheit
aus, sondern wird nur als ein Hilfsmittel zu ihrer Erreichung empfohlen, sowie
allen Gläubigen ohne Unterschieds auch den Laien, Gebet und Fasten als solche
Mittel geboten werden. Bezeichnet doch das Wort Askese nichts andres, als was
der Sportmann Training und der Militär Drill nennt. Mausbach gibt zu, daß
die mittelalterlichen asketischen Schriftsteller, die ja meistens Mönche waren, ebenso
auch die Kirchenväter, hie und da „den offnen Blick für die sittliche Bedeutung


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[0819] Maßgebliches und Unmaßgebliches ein Ällinml sooi^is, weil er vieler Dinge bedarf, die er sich ohne die Hilfe andrer Menschen nicht verschaffen kann. Demnach hat er eine vernünftige Gesell¬ schaftsordnung herzustellen. Diese Ordnung hat zu verhüten, daß die Menschen einander hindern, sie muß also die Eintracht und den Frieden erhalten. Dazu gehört, daß einem jeden das seine gesichert, also Gerechtigkeit geübt werde. Es find also göttliche Gebote nötig, die einen jeden im ruhigen Besitz und Genuß dessen, was ihm zukommt, schützen. Diesen Zweck erfüllen die Gebote: Du sollst Vater und Mutter ehren, du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten, du sollst deines Nächsten Weib und Eigentum nicht begehren. Diese Gebote Gottes zu beobachten, wird der Mensch auf zweierlei Weise geneigt gemacht, innerlich und äußerlich. Inner- lich durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten; denn wer einen andern liebt, der gibt ihm freiwillig und freudig, was er ihm schuldig ist, und mehr als dieses (liböi'Alitsr sunerxMit). Weil aber nicht alle so geartet sind, so müssen die übrigen durch die Furcht vor Strafe zur Erfüllung des Gesetzes angehalten werden. Die die Liebe haben, sind sich selbst Gesetz (sibi ixsi sunt lsx); für sie hätte also kein äußeres Gesetz gegeben zu werden brauchen; dieses war nur für die andern nötig, die nicht von selbst dem Guten zuneigen, weshalb Paulus sagt, das Gesetz ist nicht für die Gerechten sondern für die Ungerechten gegeben. Was aber nicht so zu Verstehn ist, wie es einige mißdeutet haben, daß die Gerechten zur Erfüllung des Gesetzes nicht verpflichtet wären, sondern nur so, daß sie auch ohne Gesetz von selbst die Forderungen der Gerechtigkeit erfüllen." Über diese schon der Sprache nach recht kindliche Moral¬ lehre werden ja unsre modernen höchst erhabnen Ethiker die Nase rümpfen, aber sie hat wenigstens den doch vielleicht nicht ganz wertlosen Vorzug, daß man sie versteht. Bei der Erörterung des Verhältnisses der katholischen Moral zur weltlichen Kultur hebt Mausbach hervor, die hergebrachte Anklage unterschiede dem Grad¬ unterschiede einen Gegensatz; weil der Katholik die himmlischen Güter höher schätze als die irdischen, so beschuldige mau ihn, daß er alles Irdische und Weltliche für böse erkläre. „Nicht Mangel an natürlicher Liebe, stoische Apathie oder buddhistischer Weltschmerz, soudern das Übergewicht eiuer höhern Liebe ist es, das dem christ¬ lichen Asketen den Glanz irdischer Reize erbleichen läßt. Nicht die Negation als solche, sondern die durch sie gewonnene Freiheit für eine größere, unmittelbar Gott und der Gesamtheit dienende Lebensaufgabe gibt dem christlichen Verzicht auf die Welt den höhern sittlichen Wert. Geistvoll, aber auch sachlich zutreffend, sagt der heilige Johannes Chrhsvstomus- Wäre in den Augen der Christen die Ehe, das häusliche Streben und Arbeiten etwas Verächtliches oder Geringes, so würde er das Opfer dieser Güter nicht als etwas Heroisches preisen; denn nur, wer Großes opfert, verdient den Namen eines Helden." Die lutherische Orthodoxie bestreitet grundsätzlich, daß es Grade der Sittlichkeit, Stufen gebe, auf denen der Christ zur Vollkommenheit aufsteige. Ich halte an dieser katholischen Anschauung fest. Mit diesen Stufen und Graden fallen die Kreise eines sozusagen esoterischen und exoterischen Christentums nicht zusammen, die ich bei einer andern Gelegenheit beschrieben habe. Aber auch der geistliche, der Ordensstand und der Lnienstand sind nach katholischer Kirchenlehre nicht gleichbedeutend mit höhern und niedern Stufen des sittlichen Lebens; obwohl die Priester und die Klosterleute strenger zur Erfüllung der gött¬ lichen Gebote verpflichtet sind als die Laien und eigentlich alle vollkommen sein sollten, hat doch die katholische Kirche niemals geleugnet, daß viele verheiratete Laien aller Stände sehr tugendhaft, viele Priester und Mönche sehr lasterhaft leben. Die Beobachtung der sogenannten evangelischen Räte macht nicht die Vollkommenheit aus, sondern wird nur als ein Hilfsmittel zu ihrer Erreichung empfohlen, sowie allen Gläubigen ohne Unterschieds auch den Laien, Gebet und Fasten als solche Mittel geboten werden. Bezeichnet doch das Wort Askese nichts andres, als was der Sportmann Training und der Militär Drill nennt. Mausbach gibt zu, daß die mittelalterlichen asketischen Schriftsteller, die ja meistens Mönche waren, ebenso auch die Kirchenväter, hie und da „den offnen Blick für die sittliche Bedeutung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/819>, abgerufen am 24.11.2024.