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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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a" den neuen Auflagen beseitigen lassen. Daß das nicht geschah, was um der
Zukunft des Werkes willen zu bedauern ist, scheint zunächst einen äußern
Grund gehabt zu haben: auf die gesammelte Ruhe der Göttinger Zeit folgte
bald die letzte Berliner Periode, die es mit ihren vielseitigen an- und auf¬
regenden Interessen und Beziehungen doch nur zu einem äußerlichen und stück¬
weise erfolgenden Verbessern, nicht zu einer wirklichen Durcharbeitung der
Griechischen Geschichte mehr kommen ließ. Sodann lag es in Curtius Natur,
auf Getanes nicht gern zurückzugreifen, er sah sein Leben lang vorwärts,
neuen Aufgaben entgegen. Der Jüngling müsse nicht rückwärts sehen, schreibt
er schon 1836. "Daran hat man gerade den besten Maßstab für die innern
Fortschritte, ob der Blick immer mehr vorwärts sich richtet, immer seltener um
sich und hinter sich abirre, ob der Wille immer energischer wird und Gedanken,
die zu Taten drängen oder selbst Taten sind, unser ganzes Inneres erfüllen
und alles andre zu verdrängen imstande sind." Und noch im höchsten Alter,
1891: "Ich könnte mir gar kein Wohlsein denken ohne Spannung des Geistes
auf ein zu erreichendes Ziel. Man muß jeden Augenblick etwas vor Augen
haben, dein man nachstrebt."

Es hat wohl keinen Menschen gegeben, dem die Retrospektive mehr zu¬
wider war als ihm! Diese innere Lebensansicht hatte um aber auch zur
Folge, daß er einmal gefaßte Meinungen und einmal begründete Auffassungen,
was ihm auch dagegen eingewandt werden mochte, mit einer Beharrlichkeit
festhielt, die ihm oft als Eigensinn ausgelegt worden ist, deren Ursache aber
tiefer lag, in jener Abneigung gegen das Zurücksehen. Jede seiner größern
Arbeiten gibt dafür Beispiele, die man dem Kundigen nicht aufzuzählen braucht.
So war es auch mit der Griechischen Geschichte. Sprach man ihm von einer
wünschenswerten und auch durchführbaren Vervollkommnung des Werkes, dessen
äußerer Erfolg ihm doch eine Herzensfreude war, so bekam man bald den Ein¬
druck, daß er innerlich damit abgeschlossen hatte. Das Ganze, pflegte er dann
Wohl zu sagen, muß für sich zeugen, es mag stehn oder fallen, da ist nichts
zu ändern, und Änderungen an Einzelnem, soweit sie nicht offenbare Fehler
beseitigen, machens nicht, das wäre ja endlos.

Am wenigsten machte der dritte Band von sich reden, er behandelte
hauptsächlich das demosthenische Zeitalter, und Curtius Gegner betonten es gern,
daß ihm hier Arnold Schäfer die wesentliche Vorarbeit geliefert habe. In der
Tat enthält auch dieser Band viel weniger Curtius eigentümliches als die
frühern. Sogar die Darstellung ist matter und farbloser. Die attischen Redner,
die Hauptgewührsmüuner dieser Periode, waren ihm durchaus nicht vertraut;
er hatte eben, was ihm nicht sehr übel genommen werden kann, kein Verhältnis
zu ihnen gewinnen können.

Zieht man das Fazit, so war dies ein Werk, das, einmal in Angriff ge¬
nommen, eines Mannes ganze Lebensarbeit forderte, das aber nicht bei sehr
vielem andern noch gleichsam nebenher getan werden konnte. So wie es nun
geworden ist, in aller seiner Unzulänglichkeit, bezeugt es doch eine erstaunliche
Arbeitskraft; groß ist die Kunst der klaren Gruppierung, und die Schilderungen
der allgemeinen Zustände sowie namentlich die manchmal sehr schönen Charcck


a» den neuen Auflagen beseitigen lassen. Daß das nicht geschah, was um der
Zukunft des Werkes willen zu bedauern ist, scheint zunächst einen äußern
Grund gehabt zu haben: auf die gesammelte Ruhe der Göttinger Zeit folgte
bald die letzte Berliner Periode, die es mit ihren vielseitigen an- und auf¬
regenden Interessen und Beziehungen doch nur zu einem äußerlichen und stück¬
weise erfolgenden Verbessern, nicht zu einer wirklichen Durcharbeitung der
Griechischen Geschichte mehr kommen ließ. Sodann lag es in Curtius Natur,
auf Getanes nicht gern zurückzugreifen, er sah sein Leben lang vorwärts,
neuen Aufgaben entgegen. Der Jüngling müsse nicht rückwärts sehen, schreibt
er schon 1836. „Daran hat man gerade den besten Maßstab für die innern
Fortschritte, ob der Blick immer mehr vorwärts sich richtet, immer seltener um
sich und hinter sich abirre, ob der Wille immer energischer wird und Gedanken,
die zu Taten drängen oder selbst Taten sind, unser ganzes Inneres erfüllen
und alles andre zu verdrängen imstande sind." Und noch im höchsten Alter,
1891: „Ich könnte mir gar kein Wohlsein denken ohne Spannung des Geistes
auf ein zu erreichendes Ziel. Man muß jeden Augenblick etwas vor Augen
haben, dein man nachstrebt."

Es hat wohl keinen Menschen gegeben, dem die Retrospektive mehr zu¬
wider war als ihm! Diese innere Lebensansicht hatte um aber auch zur
Folge, daß er einmal gefaßte Meinungen und einmal begründete Auffassungen,
was ihm auch dagegen eingewandt werden mochte, mit einer Beharrlichkeit
festhielt, die ihm oft als Eigensinn ausgelegt worden ist, deren Ursache aber
tiefer lag, in jener Abneigung gegen das Zurücksehen. Jede seiner größern
Arbeiten gibt dafür Beispiele, die man dem Kundigen nicht aufzuzählen braucht.
So war es auch mit der Griechischen Geschichte. Sprach man ihm von einer
wünschenswerten und auch durchführbaren Vervollkommnung des Werkes, dessen
äußerer Erfolg ihm doch eine Herzensfreude war, so bekam man bald den Ein¬
druck, daß er innerlich damit abgeschlossen hatte. Das Ganze, pflegte er dann
Wohl zu sagen, muß für sich zeugen, es mag stehn oder fallen, da ist nichts
zu ändern, und Änderungen an Einzelnem, soweit sie nicht offenbare Fehler
beseitigen, machens nicht, das wäre ja endlos.

Am wenigsten machte der dritte Band von sich reden, er behandelte
hauptsächlich das demosthenische Zeitalter, und Curtius Gegner betonten es gern,
daß ihm hier Arnold Schäfer die wesentliche Vorarbeit geliefert habe. In der
Tat enthält auch dieser Band viel weniger Curtius eigentümliches als die
frühern. Sogar die Darstellung ist matter und farbloser. Die attischen Redner,
die Hauptgewührsmüuner dieser Periode, waren ihm durchaus nicht vertraut;
er hatte eben, was ihm nicht sehr übel genommen werden kann, kein Verhältnis
zu ihnen gewinnen können.

Zieht man das Fazit, so war dies ein Werk, das, einmal in Angriff ge¬
nommen, eines Mannes ganze Lebensarbeit forderte, das aber nicht bei sehr
vielem andern noch gleichsam nebenher getan werden konnte. So wie es nun
geworden ist, in aller seiner Unzulänglichkeit, bezeugt es doch eine erstaunliche
Arbeitskraft; groß ist die Kunst der klaren Gruppierung, und die Schilderungen
der allgemeinen Zustände sowie namentlich die manchmal sehr schönen Charcck


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[0661] a» den neuen Auflagen beseitigen lassen. Daß das nicht geschah, was um der Zukunft des Werkes willen zu bedauern ist, scheint zunächst einen äußern Grund gehabt zu haben: auf die gesammelte Ruhe der Göttinger Zeit folgte bald die letzte Berliner Periode, die es mit ihren vielseitigen an- und auf¬ regenden Interessen und Beziehungen doch nur zu einem äußerlichen und stück¬ weise erfolgenden Verbessern, nicht zu einer wirklichen Durcharbeitung der Griechischen Geschichte mehr kommen ließ. Sodann lag es in Curtius Natur, auf Getanes nicht gern zurückzugreifen, er sah sein Leben lang vorwärts, neuen Aufgaben entgegen. Der Jüngling müsse nicht rückwärts sehen, schreibt er schon 1836. „Daran hat man gerade den besten Maßstab für die innern Fortschritte, ob der Blick immer mehr vorwärts sich richtet, immer seltener um sich und hinter sich abirre, ob der Wille immer energischer wird und Gedanken, die zu Taten drängen oder selbst Taten sind, unser ganzes Inneres erfüllen und alles andre zu verdrängen imstande sind." Und noch im höchsten Alter, 1891: „Ich könnte mir gar kein Wohlsein denken ohne Spannung des Geistes auf ein zu erreichendes Ziel. Man muß jeden Augenblick etwas vor Augen haben, dein man nachstrebt." Es hat wohl keinen Menschen gegeben, dem die Retrospektive mehr zu¬ wider war als ihm! Diese innere Lebensansicht hatte um aber auch zur Folge, daß er einmal gefaßte Meinungen und einmal begründete Auffassungen, was ihm auch dagegen eingewandt werden mochte, mit einer Beharrlichkeit festhielt, die ihm oft als Eigensinn ausgelegt worden ist, deren Ursache aber tiefer lag, in jener Abneigung gegen das Zurücksehen. Jede seiner größern Arbeiten gibt dafür Beispiele, die man dem Kundigen nicht aufzuzählen braucht. So war es auch mit der Griechischen Geschichte. Sprach man ihm von einer wünschenswerten und auch durchführbaren Vervollkommnung des Werkes, dessen äußerer Erfolg ihm doch eine Herzensfreude war, so bekam man bald den Ein¬ druck, daß er innerlich damit abgeschlossen hatte. Das Ganze, pflegte er dann Wohl zu sagen, muß für sich zeugen, es mag stehn oder fallen, da ist nichts zu ändern, und Änderungen an Einzelnem, soweit sie nicht offenbare Fehler beseitigen, machens nicht, das wäre ja endlos. Am wenigsten machte der dritte Band von sich reden, er behandelte hauptsächlich das demosthenische Zeitalter, und Curtius Gegner betonten es gern, daß ihm hier Arnold Schäfer die wesentliche Vorarbeit geliefert habe. In der Tat enthält auch dieser Band viel weniger Curtius eigentümliches als die frühern. Sogar die Darstellung ist matter und farbloser. Die attischen Redner, die Hauptgewührsmüuner dieser Periode, waren ihm durchaus nicht vertraut; er hatte eben, was ihm nicht sehr übel genommen werden kann, kein Verhältnis zu ihnen gewinnen können. Zieht man das Fazit, so war dies ein Werk, das, einmal in Angriff ge¬ nommen, eines Mannes ganze Lebensarbeit forderte, das aber nicht bei sehr vielem andern noch gleichsam nebenher getan werden konnte. So wie es nun geworden ist, in aller seiner Unzulänglichkeit, bezeugt es doch eine erstaunliche Arbeitskraft; groß ist die Kunst der klaren Gruppierung, und die Schilderungen der allgemeinen Zustände sowie namentlich die manchmal sehr schönen Charcck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/661>, abgerufen am 24.11.2024.