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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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König Lcinrin

stellen sie sich in einer Gruppe ans, leise untereinander flüsternd. Amalasunta steht
inzwischen regungslos, die Begrüßung der Senatoren kaum erwidernd. Die Musik,
die währenddem hinter der Szene weiter ertönt ist, bricht ab; im Augenblick, wo
sie abbricht, kommt von links Justinian im kaiserlichen Staatsgewand. Einen Schritt
hinter ihm kommt Johannes von Kappadozien, dann eine Abteilung von Leibwächtern
in goldnen Panzern mit goldnen Speeren. Diese bleiben ebenso wie Johannes
links an der Tür stehn; während Justinian bis ungefähr in die Mitte der Bühne
vorgeschritten ist, wo er nun ganz für sich steht. Wie er eingetreten ist, hat er,
ebenso wie vorhin die Senatoren, mit den Angen umhergesucht, jetzt, wo er Amalasunta
auf den Stufen droben gewahrt, zuckt er zusammen, seine Blicke bleiben starr an
ihr hängen. Amcilasunta sieht in gleicher Weise auf ihn herab; beide stehn regungs¬
los; in der ganzen Versammlung regt sich kein Laut.

Der Kaiser, der am Schluß des vorhergehenden Akts, nachdem er vom Ver-
nicmeru des Thevdorascheu Zimmers gesprochen hatte, in eine Anrufung der Gott¬
heit nusgebrocheu war, mit den Worten:


Sprich ein Gottesurteil!
Die Stunde naht - Werd ich durch sie erfahren,
Daß Seele mehr im Menschen kann als Sinn?
Erkennen laß mich das. - Wenn Aug in Auge
Wir uns gegenüberstelln, der erste Blick,
Zeichen soll er mir sein . . .

gibt in leise vor sich hingesprochnen Worten seinen ersten Eindruck, während er
Amalasunta beobachtet, so wieder:


Dort -- Schicksal! -- Welch ein Wesen das? Ein Weib?
Menschenerscheinung nie gesehner Art!
Schön wie ein Wunder -- wie das kalte Wunder
Unnahbar auch! Verheißung und Versagung
In einem Körper; Lippen ohne Küsse,
Herrlich und schrecklich! Augen ohne Traum,
Arme, als wären Engelsfittiche
Vom Flug zur Ruh gekommen. Ob Umarmung
In ihnen wohnt? Vernehmen diese Ohren
Den Lockruf vom Geschlechte zum Geschlecht?

Man weiß nicht recht, ob man über die in den Armen wohnende Umarmung
'"it den an das Anerhahnrevier erinnernden Lockruf lachen oder dabei ernst bleiben
>°it: keine der von Moliere seinen gespaßigen Zierlicher in den Mund gelegten
^erballhornuugen des damals üblichen beau I-mssuag-o reicht an diese Stilblüten
heran, und doch ist es Wildenbruch und seinem Justinian mit ihren sonderbaren
"ragen voller Ernst. Die Unterredung kommt, nachdem man sich auf halbem
^ege getroffen und die Hand gereicht hat, leidlich genug in Gang. Amalasunta
beschreibt das Verhältnis zwischen ihr und Justinian, 'wie sie es sich vorstellt,
folgendermaßen:


Was ich meine?
Aus dumpfem Bann der Satzungen entrückt,
Wie Götter, meint ich, wie die lachenden,
solidor wir in die greise Welt hinabsehen,
Ins Labyrinth der ttberkommnen Wirrsal,
Gedanken tauschend, wie kein Haupt sie dachte.
Und noch kein Mund sie sprach; in Einsamkeit,
Bon niemandem belauscht, nicht Mann, nicht Weib,
Der Mensch zum Menschen --

Also kein Lockruf vom Geschlechte zum Geschlecht, eine Spezialität, auf die
>us, wie der vierte Akt vielleicht etwas zu deutlich erkennen läßt, Theodora be¬
sonders gut versteht. Wenn an Amalasnntas Übermenschentum, das ihr freilich
M)leche genug bekommt, Nietzsche durch die Vermittlung des Wildenbruchschen Me-
ouims Schuld tragen sollte - und "die Gedanken, wie kein Haupt sie dachte und


König Lcinrin

stellen sie sich in einer Gruppe ans, leise untereinander flüsternd. Amalasunta steht
inzwischen regungslos, die Begrüßung der Senatoren kaum erwidernd. Die Musik,
die währenddem hinter der Szene weiter ertönt ist, bricht ab; im Augenblick, wo
sie abbricht, kommt von links Justinian im kaiserlichen Staatsgewand. Einen Schritt
hinter ihm kommt Johannes von Kappadozien, dann eine Abteilung von Leibwächtern
in goldnen Panzern mit goldnen Speeren. Diese bleiben ebenso wie Johannes
links an der Tür stehn; während Justinian bis ungefähr in die Mitte der Bühne
vorgeschritten ist, wo er nun ganz für sich steht. Wie er eingetreten ist, hat er,
ebenso wie vorhin die Senatoren, mit den Angen umhergesucht, jetzt, wo er Amalasunta
auf den Stufen droben gewahrt, zuckt er zusammen, seine Blicke bleiben starr an
ihr hängen. Amcilasunta sieht in gleicher Weise auf ihn herab; beide stehn regungs¬
los; in der ganzen Versammlung regt sich kein Laut.

Der Kaiser, der am Schluß des vorhergehenden Akts, nachdem er vom Ver-
nicmeru des Thevdorascheu Zimmers gesprochen hatte, in eine Anrufung der Gott¬
heit nusgebrocheu war, mit den Worten:


Sprich ein Gottesurteil!
Die Stunde naht - Werd ich durch sie erfahren,
Daß Seele mehr im Menschen kann als Sinn?
Erkennen laß mich das. - Wenn Aug in Auge
Wir uns gegenüberstelln, der erste Blick,
Zeichen soll er mir sein . . .

gibt in leise vor sich hingesprochnen Worten seinen ersten Eindruck, während er
Amalasunta beobachtet, so wieder:


Dort — Schicksal! — Welch ein Wesen das? Ein Weib?
Menschenerscheinung nie gesehner Art!
Schön wie ein Wunder — wie das kalte Wunder
Unnahbar auch! Verheißung und Versagung
In einem Körper; Lippen ohne Küsse,
Herrlich und schrecklich! Augen ohne Traum,
Arme, als wären Engelsfittiche
Vom Flug zur Ruh gekommen. Ob Umarmung
In ihnen wohnt? Vernehmen diese Ohren
Den Lockruf vom Geschlechte zum Geschlecht?

Man weiß nicht recht, ob man über die in den Armen wohnende Umarmung
'"it den an das Anerhahnrevier erinnernden Lockruf lachen oder dabei ernst bleiben
>°it: keine der von Moliere seinen gespaßigen Zierlicher in den Mund gelegten
^erballhornuugen des damals üblichen beau I-mssuag-o reicht an diese Stilblüten
heran, und doch ist es Wildenbruch und seinem Justinian mit ihren sonderbaren
»ragen voller Ernst. Die Unterredung kommt, nachdem man sich auf halbem
^ege getroffen und die Hand gereicht hat, leidlich genug in Gang. Amalasunta
beschreibt das Verhältnis zwischen ihr und Justinian, 'wie sie es sich vorstellt,
folgendermaßen:


Was ich meine?
Aus dumpfem Bann der Satzungen entrückt,
Wie Götter, meint ich, wie die lachenden,
solidor wir in die greise Welt hinabsehen,
Ins Labyrinth der ttberkommnen Wirrsal,
Gedanken tauschend, wie kein Haupt sie dachte.
Und noch kein Mund sie sprach; in Einsamkeit,
Bon niemandem belauscht, nicht Mann, nicht Weib,
Der Mensch zum Menschen —

Also kein Lockruf vom Geschlechte zum Geschlecht, eine Spezialität, auf die
>us, wie der vierte Akt vielleicht etwas zu deutlich erkennen läßt, Theodora be¬
sonders gut versteht. Wenn an Amalasnntas Übermenschentum, das ihr freilich
M)leche genug bekommt, Nietzsche durch die Vermittlung des Wildenbruchschen Me-
ouims Schuld tragen sollte - und „die Gedanken, wie kein Haupt sie dachte und


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[0611] König Lcinrin stellen sie sich in einer Gruppe ans, leise untereinander flüsternd. Amalasunta steht inzwischen regungslos, die Begrüßung der Senatoren kaum erwidernd. Die Musik, die währenddem hinter der Szene weiter ertönt ist, bricht ab; im Augenblick, wo sie abbricht, kommt von links Justinian im kaiserlichen Staatsgewand. Einen Schritt hinter ihm kommt Johannes von Kappadozien, dann eine Abteilung von Leibwächtern in goldnen Panzern mit goldnen Speeren. Diese bleiben ebenso wie Johannes links an der Tür stehn; während Justinian bis ungefähr in die Mitte der Bühne vorgeschritten ist, wo er nun ganz für sich steht. Wie er eingetreten ist, hat er, ebenso wie vorhin die Senatoren, mit den Angen umhergesucht, jetzt, wo er Amalasunta auf den Stufen droben gewahrt, zuckt er zusammen, seine Blicke bleiben starr an ihr hängen. Amcilasunta sieht in gleicher Weise auf ihn herab; beide stehn regungs¬ los; in der ganzen Versammlung regt sich kein Laut. Der Kaiser, der am Schluß des vorhergehenden Akts, nachdem er vom Ver- nicmeru des Thevdorascheu Zimmers gesprochen hatte, in eine Anrufung der Gott¬ heit nusgebrocheu war, mit den Worten: Sprich ein Gottesurteil! Die Stunde naht - Werd ich durch sie erfahren, Daß Seele mehr im Menschen kann als Sinn? Erkennen laß mich das. - Wenn Aug in Auge Wir uns gegenüberstelln, der erste Blick, Zeichen soll er mir sein . . . gibt in leise vor sich hingesprochnen Worten seinen ersten Eindruck, während er Amalasunta beobachtet, so wieder: Dort — Schicksal! — Welch ein Wesen das? Ein Weib? Menschenerscheinung nie gesehner Art! Schön wie ein Wunder — wie das kalte Wunder Unnahbar auch! Verheißung und Versagung In einem Körper; Lippen ohne Küsse, Herrlich und schrecklich! Augen ohne Traum, Arme, als wären Engelsfittiche Vom Flug zur Ruh gekommen. Ob Umarmung In ihnen wohnt? Vernehmen diese Ohren Den Lockruf vom Geschlechte zum Geschlecht? Man weiß nicht recht, ob man über die in den Armen wohnende Umarmung '"it den an das Anerhahnrevier erinnernden Lockruf lachen oder dabei ernst bleiben >°it: keine der von Moliere seinen gespaßigen Zierlicher in den Mund gelegten ^erballhornuugen des damals üblichen beau I-mssuag-o reicht an diese Stilblüten heran, und doch ist es Wildenbruch und seinem Justinian mit ihren sonderbaren »ragen voller Ernst. Die Unterredung kommt, nachdem man sich auf halbem ^ege getroffen und die Hand gereicht hat, leidlich genug in Gang. Amalasunta beschreibt das Verhältnis zwischen ihr und Justinian, 'wie sie es sich vorstellt, folgendermaßen: Was ich meine? Aus dumpfem Bann der Satzungen entrückt, Wie Götter, meint ich, wie die lachenden, solidor wir in die greise Welt hinabsehen, Ins Labyrinth der ttberkommnen Wirrsal, Gedanken tauschend, wie kein Haupt sie dachte. Und noch kein Mund sie sprach; in Einsamkeit, Bon niemandem belauscht, nicht Mann, nicht Weib, Der Mensch zum Menschen — Also kein Lockruf vom Geschlechte zum Geschlecht, eine Spezialität, auf die >us, wie der vierte Akt vielleicht etwas zu deutlich erkennen läßt, Theodora be¬ sonders gut versteht. Wenn an Amalasnntas Übermenschentum, das ihr freilich M)leche genug bekommt, Nietzsche durch die Vermittlung des Wildenbruchschen Me- ouims Schuld tragen sollte - und „die Gedanken, wie kein Haupt sie dachte und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/611>, abgerufen am 27.11.2024.