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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Herbstbilder von der Roter "ut der pnlsnitz

Turmbaus zuWeißtrvpp" hinterlassen hat, die mit folgendem klassischen Satze
schließt: "Der Prediger der Zeit ein sehr Vernagelter Mann weil er in wehrenter
Zeit des Baues nicht ein Wort erwähnt in dem der gebraucht, das der Prediger
die an einen solchen Gefährlichen Orte in der Kirche gebehten wird." Mau
weiß genau, was er sagen will, aber welcher Germanist vermag wohl den
grammatisch-logischen Knoten dieses Sprachbildners zu lösen?

Die Bahnfahrt von Köuigsbriick nach Dresden führt uns erst durch die
schönen Wälder der Lausnitzer Heide, dann durch die Dörfer an ihrem Südrande.
Hier qualmen Kohlenmeiler und die Schlote zahlreicher Glasfabriken. Später
sieht man den vornehmen Schloßbau von Hermsdorf aus hohen Baumwipfeln
hervorragen und den schlanken Kirchturm von Lausa. Dieses Gelände wird
uns verklärt durch die Erinnerung an die ehrwürdige Gestalt Samuel Rollers,
der bis zum Jahre 1850 hier als Pfarrer wirkte, und dem Gerhard von Kügelgen
in seinen "Jugenderinnerungen eines alten Mannes" ein unvergängliches Den!
mal gesetzt hat. Ich sehe ihn im Geiste mit seinem Zögling ans der Straße
nach Hermsdorf dnhinwandern, deu echten Heidepastor, der sich in der Einsamkeit
so tief in Gottes Wesen und in die Menschennatur versenkt hatte, daß ihm im
gegebnen Augenblick ein nimmer versiegender Bronnen herzbewegender Rede zur
Verfügung stand, den echten Hcidepastor, in dem auch ein Stück alten Volks-
glaubens lebendig war, wenn er, wie einst Mutter Anna, aus dem verkohlten
Fleische und den Knochen von Elstern und andern Heidevögeln seine hoch¬
geschätzten Pulver und Mixturen gegen Krankheiten aller Art zusammensetzte.
Der Totensonntag ist nahe: da werden wieder Hunderttausende evangelischer
Deutscher in wehmütiger Andacht das Rollersche Lied singen, das die Stimmung
des Tages wiedergibt wie kein andres:

Was Würde der biedre Roller wohl sagen, weiln er heute, nach einem
halben Jahrhundert, seine Gemeinde wiedersähe, eine Gemeinde, in der der
Bauer erdrückt wird von denk eingenisteten Fabrikarbeiter und vom fliegenden
Maurer und Zimmermann, der heute dahin und morgen dorthin zur Arbeit
fährt? Und doch -- er würde sich kraft seiner naturwüchsigen Wichtigkeit auch
in die neue Zeit mit ihren ungelösten sozialen Fragen hineingefunden haben,
nur hätte er noch öfter, als er es ohnehin tat, am Herzen der Natur Trost
suchen müssen. Während ich diesen Gedanken bei sinkender Sonne nachhing,
flammte ein Abendhimmel auf, wie ihn der November wohl uur sehr selten
beschert: ein leuchtendes Orcmgcrot an den ruhenden Rändern des Gewölbes
ging nach oben zu immer mehr in ein lichtes Meergrün über, als wollte der
Himmel selbst uns den Ozean der Zeiten malen, indem wir nach einer kurzen
Spanne des Wirkens alle versinken. Aus dem grünen Meere aber schaute der
silberne Mond tröstend in die Welt wie vor Jahrhunderten und Jahrtausenden.




Herbstbilder von der Roter »ut der pnlsnitz

Turmbaus zuWeißtrvpp" hinterlassen hat, die mit folgendem klassischen Satze
schließt: „Der Prediger der Zeit ein sehr Vernagelter Mann weil er in wehrenter
Zeit des Baues nicht ein Wort erwähnt in dem der gebraucht, das der Prediger
die an einen solchen Gefährlichen Orte in der Kirche gebehten wird." Mau
weiß genau, was er sagen will, aber welcher Germanist vermag wohl den
grammatisch-logischen Knoten dieses Sprachbildners zu lösen?

Die Bahnfahrt von Köuigsbriick nach Dresden führt uns erst durch die
schönen Wälder der Lausnitzer Heide, dann durch die Dörfer an ihrem Südrande.
Hier qualmen Kohlenmeiler und die Schlote zahlreicher Glasfabriken. Später
sieht man den vornehmen Schloßbau von Hermsdorf aus hohen Baumwipfeln
hervorragen und den schlanken Kirchturm von Lausa. Dieses Gelände wird
uns verklärt durch die Erinnerung an die ehrwürdige Gestalt Samuel Rollers,
der bis zum Jahre 1850 hier als Pfarrer wirkte, und dem Gerhard von Kügelgen
in seinen „Jugenderinnerungen eines alten Mannes" ein unvergängliches Den!
mal gesetzt hat. Ich sehe ihn im Geiste mit seinem Zögling ans der Straße
nach Hermsdorf dnhinwandern, deu echten Heidepastor, der sich in der Einsamkeit
so tief in Gottes Wesen und in die Menschennatur versenkt hatte, daß ihm im
gegebnen Augenblick ein nimmer versiegender Bronnen herzbewegender Rede zur
Verfügung stand, den echten Hcidepastor, in dem auch ein Stück alten Volks-
glaubens lebendig war, wenn er, wie einst Mutter Anna, aus dem verkohlten
Fleische und den Knochen von Elstern und andern Heidevögeln seine hoch¬
geschätzten Pulver und Mixturen gegen Krankheiten aller Art zusammensetzte.
Der Totensonntag ist nahe: da werden wieder Hunderttausende evangelischer
Deutscher in wehmütiger Andacht das Rollersche Lied singen, das die Stimmung
des Tages wiedergibt wie kein andres:

Was Würde der biedre Roller wohl sagen, weiln er heute, nach einem
halben Jahrhundert, seine Gemeinde wiedersähe, eine Gemeinde, in der der
Bauer erdrückt wird von denk eingenisteten Fabrikarbeiter und vom fliegenden
Maurer und Zimmermann, der heute dahin und morgen dorthin zur Arbeit
fährt? Und doch — er würde sich kraft seiner naturwüchsigen Wichtigkeit auch
in die neue Zeit mit ihren ungelösten sozialen Fragen hineingefunden haben,
nur hätte er noch öfter, als er es ohnehin tat, am Herzen der Natur Trost
suchen müssen. Während ich diesen Gedanken bei sinkender Sonne nachhing,
flammte ein Abendhimmel auf, wie ihn der November wohl uur sehr selten
beschert: ein leuchtendes Orcmgcrot an den ruhenden Rändern des Gewölbes
ging nach oben zu immer mehr in ein lichtes Meergrün über, als wollte der
Himmel selbst uns den Ozean der Zeiten malen, indem wir nach einer kurzen
Spanne des Wirkens alle versinken. Aus dem grünen Meere aber schaute der
silberne Mond tröstend in die Welt wie vor Jahrhunderten und Jahrtausenden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/543>, abgerufen am 27.07.2024.