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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Herbstbilder von der Roter und der Pnlsnitz

Mir einmal auf dieser Welt, Besorgt eure Geschäfte, ohne etwas zu fürchten
oder zu hoffen, das ist die Quintessenz aller praktischen Philosophie." Der
andre, längere Aufsatz ist eine Abhandlung über Schopenhauer, dem schon
einige Blätter in den Aufzeichnungen des Wahnsinnigen gewidmet sind: in
diesen wird eine Unterredung mit dein Frankfurter Philosophen erzählt, die
Ehallemcl-Lacour wirklich gehabt hat. Am Schluß der Abhandlung wird der
Pessimismus ans seinen berechtigten Kern zurückgeführt und dem ganzen Buche
der Giftstachel ausgezogen. "In einer Zeit, wo man die Menschen vergöttert,
wo man sicher ist, Beifall zu ernten, wenn man sie emphatisch preist, wäre
eine Lehre, die in einem bescheidnern Tone von den Menschen spricht, nicht
ohne Nutzen, wenn sie weniger übertriebe. Aber ein nnbesieglicher Protest
erhebt sich gegen die praktischen Ergebnisse der schopcnhnuerischen Philosophie.
Man fragt sich, ob nicht die Illusion so gut ihren Wert habe wie die Wahrheit,
ob es nicht besser für den Menschen sei, sich ein wenig zu hoch als gnr zu
niedrig einzuschätzen, und unser Instinkt antwortet mit Ja, ein Instinkt, der
den Menschen zur Tat, zum Glauben, zum Streben nach Glück treibt. Es
ist nicht wahrscheinlich, daß spitzfindige Lehren, die diesen Instinkt der Lüge
oder der Blindheit zeihen, sobald den Sieg davontragen werden."




l^erbstbilder von der Roter und der pulsnitz
Veto Eduard Schmidt von
2. Eine Fahrt um die ^Neißuisch - Lausitzische Nordostgrenze
(Schluß)

le zweite Merkwürdigkeit Kmehlens ist der Flügelaltar der
Kirche. Ich war erstaunt, wie der Kantor des Ortes, mein
freundlicher Mentor, ehe er mir die Kirche aufschloß, ein Opern¬
glas zu sich steckte. Als nur aber vor dem herrlichen Altare
standen, den sein ganzer Aufbnn als ein Werk aus dem Anfange
des sechzehnten Jahrhunderts kennzeichnet, da wurde es mir klar, daß es hier
allerdings lohnt, die Augen aufzutun. Der obere Teil des Altars enthält Christi
Kreuzigung nicht in einem Relief, sondern in meist freistehenden, etwa dreißig
Zentimeter hohen Figuren, die auf einem nach vorn geneigten Sohlbrette stehn;
den Hintergrund bildet ein Relief von Jerusalem. Die ganze Gruppe ist von
dem Bildschnitzer mit der größten Lebhaftigkeit aufgefaßt und dargestellt worden.
Namentlich der Schmerz der Frauen ist in rührender Weise ausgedrückt: Mng-
dalena windet sich in höchster Seclenqnal um den Stamm des Kreuzes, links
davon sinkt Maria, von Frauen gehalten, ans die Kniee; großartig ist auch der
Gesichtsausdruck des Schachers im Mittelgrunde. Das sind nicht mehr die
konventionellen Formen des vierzehnten und der ersten Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts, aus dem Ganzen weht uns der Geist individueller Auffassung,


Herbstbilder von der Roter und der Pnlsnitz

Mir einmal auf dieser Welt, Besorgt eure Geschäfte, ohne etwas zu fürchten
oder zu hoffen, das ist die Quintessenz aller praktischen Philosophie." Der
andre, längere Aufsatz ist eine Abhandlung über Schopenhauer, dem schon
einige Blätter in den Aufzeichnungen des Wahnsinnigen gewidmet sind: in
diesen wird eine Unterredung mit dein Frankfurter Philosophen erzählt, die
Ehallemcl-Lacour wirklich gehabt hat. Am Schluß der Abhandlung wird der
Pessimismus ans seinen berechtigten Kern zurückgeführt und dem ganzen Buche
der Giftstachel ausgezogen. „In einer Zeit, wo man die Menschen vergöttert,
wo man sicher ist, Beifall zu ernten, wenn man sie emphatisch preist, wäre
eine Lehre, die in einem bescheidnern Tone von den Menschen spricht, nicht
ohne Nutzen, wenn sie weniger übertriebe. Aber ein nnbesieglicher Protest
erhebt sich gegen die praktischen Ergebnisse der schopcnhnuerischen Philosophie.
Man fragt sich, ob nicht die Illusion so gut ihren Wert habe wie die Wahrheit,
ob es nicht besser für den Menschen sei, sich ein wenig zu hoch als gnr zu
niedrig einzuschätzen, und unser Instinkt antwortet mit Ja, ein Instinkt, der
den Menschen zur Tat, zum Glauben, zum Streben nach Glück treibt. Es
ist nicht wahrscheinlich, daß spitzfindige Lehren, die diesen Instinkt der Lüge
oder der Blindheit zeihen, sobald den Sieg davontragen werden."




l^erbstbilder von der Roter und der pulsnitz
Veto Eduard Schmidt von
2. Eine Fahrt um die ^Neißuisch - Lausitzische Nordostgrenze
(Schluß)

le zweite Merkwürdigkeit Kmehlens ist der Flügelaltar der
Kirche. Ich war erstaunt, wie der Kantor des Ortes, mein
freundlicher Mentor, ehe er mir die Kirche aufschloß, ein Opern¬
glas zu sich steckte. Als nur aber vor dem herrlichen Altare
standen, den sein ganzer Aufbnn als ein Werk aus dem Anfange
des sechzehnten Jahrhunderts kennzeichnet, da wurde es mir klar, daß es hier
allerdings lohnt, die Augen aufzutun. Der obere Teil des Altars enthält Christi
Kreuzigung nicht in einem Relief, sondern in meist freistehenden, etwa dreißig
Zentimeter hohen Figuren, die auf einem nach vorn geneigten Sohlbrette stehn;
den Hintergrund bildet ein Relief von Jerusalem. Die ganze Gruppe ist von
dem Bildschnitzer mit der größten Lebhaftigkeit aufgefaßt und dargestellt worden.
Namentlich der Schmerz der Frauen ist in rührender Weise ausgedrückt: Mng-
dalena windet sich in höchster Seclenqnal um den Stamm des Kreuzes, links
davon sinkt Maria, von Frauen gehalten, ans die Kniee; großartig ist auch der
Gesichtsausdruck des Schachers im Mittelgrunde. Das sind nicht mehr die
konventionellen Formen des vierzehnten und der ersten Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts, aus dem Ganzen weht uns der Geist individueller Auffassung,


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[0534] Herbstbilder von der Roter und der Pnlsnitz Mir einmal auf dieser Welt, Besorgt eure Geschäfte, ohne etwas zu fürchten oder zu hoffen, das ist die Quintessenz aller praktischen Philosophie." Der andre, längere Aufsatz ist eine Abhandlung über Schopenhauer, dem schon einige Blätter in den Aufzeichnungen des Wahnsinnigen gewidmet sind: in diesen wird eine Unterredung mit dein Frankfurter Philosophen erzählt, die Ehallemcl-Lacour wirklich gehabt hat. Am Schluß der Abhandlung wird der Pessimismus ans seinen berechtigten Kern zurückgeführt und dem ganzen Buche der Giftstachel ausgezogen. „In einer Zeit, wo man die Menschen vergöttert, wo man sicher ist, Beifall zu ernten, wenn man sie emphatisch preist, wäre eine Lehre, die in einem bescheidnern Tone von den Menschen spricht, nicht ohne Nutzen, wenn sie weniger übertriebe. Aber ein nnbesieglicher Protest erhebt sich gegen die praktischen Ergebnisse der schopcnhnuerischen Philosophie. Man fragt sich, ob nicht die Illusion so gut ihren Wert habe wie die Wahrheit, ob es nicht besser für den Menschen sei, sich ein wenig zu hoch als gnr zu niedrig einzuschätzen, und unser Instinkt antwortet mit Ja, ein Instinkt, der den Menschen zur Tat, zum Glauben, zum Streben nach Glück treibt. Es ist nicht wahrscheinlich, daß spitzfindige Lehren, die diesen Instinkt der Lüge oder der Blindheit zeihen, sobald den Sieg davontragen werden." l^erbstbilder von der Roter und der pulsnitz Veto Eduard Schmidt von 2. Eine Fahrt um die ^Neißuisch - Lausitzische Nordostgrenze (Schluß) le zweite Merkwürdigkeit Kmehlens ist der Flügelaltar der Kirche. Ich war erstaunt, wie der Kantor des Ortes, mein freundlicher Mentor, ehe er mir die Kirche aufschloß, ein Opern¬ glas zu sich steckte. Als nur aber vor dem herrlichen Altare standen, den sein ganzer Aufbnn als ein Werk aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts kennzeichnet, da wurde es mir klar, daß es hier allerdings lohnt, die Augen aufzutun. Der obere Teil des Altars enthält Christi Kreuzigung nicht in einem Relief, sondern in meist freistehenden, etwa dreißig Zentimeter hohen Figuren, die auf einem nach vorn geneigten Sohlbrette stehn; den Hintergrund bildet ein Relief von Jerusalem. Die ganze Gruppe ist von dem Bildschnitzer mit der größten Lebhaftigkeit aufgefaßt und dargestellt worden. Namentlich der Schmerz der Frauen ist in rührender Weise ausgedrückt: Mng- dalena windet sich in höchster Seclenqnal um den Stamm des Kreuzes, links davon sinkt Maria, von Frauen gehalten, ans die Kniee; großartig ist auch der Gesichtsausdruck des Schachers im Mittelgrunde. Das sind nicht mehr die konventionellen Formen des vierzehnten und der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, aus dem Ganzen weht uns der Geist individueller Auffassung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/534>, abgerufen am 24.11.2024.