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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

lisches Blatt, und die deutsche "Freisinnige Zeitung" mit ihm. Man könnte die
Gegenfrage stellen: Wozu braucht England eine solche Flotte, deren 123 Kreuzer
allein schon eine ständige Drohung für den Seehandel aller Nationen sind? England
will damit seine Unabhängigkeit, seine Ehre und seine Interessen verteidigen. Nichts
andres will Deutschland. Keinem Politiker, der die Augen offen hält, kann es
zweifelhaft sein, daß der nächste Krieg zwischen europäischen Großmächten un¬
vermeidlich ein Landkrieg und ein Seekrieg sein wird, und zwar wird dieser
Krieg um so näher sein, je schwächer einer der künftigen Gegner dann zu Lande
oder zur See ist, je schwächer ganz besonders Deutschland zur See ist. Deutsch¬
land hat jedoch damit zu rechnen, daß seine 54 Millionen Einwohner ihren Anteil
verlangen an geschützter Schiffahrt und geschützten überseeischen Handel, weil sie
sich ausschließlich als Binnenländer und Landratten nicht mehr ernähren können;
es hat damit zu rechnen, daß, von Österreich-Ungarn abgesehen, seine sämtlichen
Nachbarn starke Seemächte geworden sind, daß als neue Erscheinungen amerikanische
und japanische Flotten auf den Weltmeeren auftreten. Je schwächer wir zur See
bleiben, desto leichtere Beute würden wir für alle, die zur See stark sind. Man
sage nicht, daß in einem künftigen Kriege das Geschick Europas sich doch zwischen
Metz und Paris entscheiden müsse. Eine tüchtige französische Flotte, die ganz
anders leistungsfähig sein würde als die von 1870, könnte dem Gang der Dinge
eine wesentlich andre Wendung geben, mit oder ohne Verbündete. England hätte von
Deutschland zu fürchten, wenn wir hundert Kreuzer bauen und damit den Handel
auf allen Meeren bedrohen wollten. Aber eine deutsche Flotte, die gerade stark
genug sein wird, daß sie Herrin an unsern Küsten zu bleiben vermag, sollte Eng¬
land aus verschiednen Gründen angenehm sein, schon deshalb, weil sie schon im
Frieden die Unabhängigkeit der deutschen Politik in wesentlich erhöhtem Maße sichert.
Wir begehren von England nichts, Nieder Land noch Leute, aber wir wollen frei
neben ihm die Meere befahren und an fremden Küsten Schiffahrt und Handel treiben
uuter sicherm Schutz für unsre Flagge. Wo dieser Schutz einmal nicht ausreicht, werden
wir uns zunächst vertrauensvoll an England wenden, und keine verständige englische
Regierung wird jemals ihre Politik so einrichten, daß die deutsche Flagge darauf
verzichten müßte, neben der englischen zu wehen. Die Interessen, die Deutschland
und England auf der Welt haben, können sehr gut nebeneinander besteh", wenn
sie gegenseitig von Wohlwollen, Ehrlichkeit und Billigkeit getragen sind. Der Staats¬
mann, der in Berlin oder in London das Signal zu einem -- dem ersten --
Konflikt zwischen beiden Nationen gäbe, würde eine große Verantwortlichkeit auf
sich nehmen. Wir glauben nicht, daß das laufende Jahrhundert einen solchen
sehen wird. Daß keiner weiter davon entfernt war als Bismarck, braucht nicht
h. I. erst wiederholt zu werden.


Bernhard Ernst von Bülow.

Der Tod Delbrücks bringt auch den zweiten
der beiden Dioskuren in Erinnerung, die -- wenn auch nur wenige Jahre gemein¬
sam -- Bismarcks Vertreter im Bundesrat und im Reichstag waren: Bernhard
Ernst von Bülow, den Vater des jetzigen Reichskanzlers. Am 10. Oktober 1873,
vier Wochen vor der Wiederkehr Bismarcks an die Spitze des preußischen Staats-
ministeriums, zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts des Deutschen Reichs mit
dem Range eines preußischen Staatsministers ernannt, hat er diesen Posten mit
großer Umsicht, Treue und Hingebung bis zu seinem leider schon am 20. Ok¬
tober 1879 eingetretenen Hinscheiden ausgefüllt. Er starb auf der Reise nach
Cannes in Frankfurt a. M. an den Folgen der Überanstrengung, mit der er sich
in unermüdlicher Tätigkeit seinen Berufspflichten gewidmet hatte. Wie Bismarck
im Jahre 1815 geboren, nnr wenig Monate jünger als dieser, hat er nur ein
Alter von 64 Jahren erreicht. Namentlich seine angestrengte Tätigkeit während
des Berliner Kongresses, auf dem er als zweiter deutscher Bevollmächtigter tätig
War, hatte seine Gesundheit stark beeinträchtigt. Noch während der Gnsteiner Ver-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

lisches Blatt, und die deutsche „Freisinnige Zeitung" mit ihm. Man könnte die
Gegenfrage stellen: Wozu braucht England eine solche Flotte, deren 123 Kreuzer
allein schon eine ständige Drohung für den Seehandel aller Nationen sind? England
will damit seine Unabhängigkeit, seine Ehre und seine Interessen verteidigen. Nichts
andres will Deutschland. Keinem Politiker, der die Augen offen hält, kann es
zweifelhaft sein, daß der nächste Krieg zwischen europäischen Großmächten un¬
vermeidlich ein Landkrieg und ein Seekrieg sein wird, und zwar wird dieser
Krieg um so näher sein, je schwächer einer der künftigen Gegner dann zu Lande
oder zur See ist, je schwächer ganz besonders Deutschland zur See ist. Deutsch¬
land hat jedoch damit zu rechnen, daß seine 54 Millionen Einwohner ihren Anteil
verlangen an geschützter Schiffahrt und geschützten überseeischen Handel, weil sie
sich ausschließlich als Binnenländer und Landratten nicht mehr ernähren können;
es hat damit zu rechnen, daß, von Österreich-Ungarn abgesehen, seine sämtlichen
Nachbarn starke Seemächte geworden sind, daß als neue Erscheinungen amerikanische
und japanische Flotten auf den Weltmeeren auftreten. Je schwächer wir zur See
bleiben, desto leichtere Beute würden wir für alle, die zur See stark sind. Man
sage nicht, daß in einem künftigen Kriege das Geschick Europas sich doch zwischen
Metz und Paris entscheiden müsse. Eine tüchtige französische Flotte, die ganz
anders leistungsfähig sein würde als die von 1870, könnte dem Gang der Dinge
eine wesentlich andre Wendung geben, mit oder ohne Verbündete. England hätte von
Deutschland zu fürchten, wenn wir hundert Kreuzer bauen und damit den Handel
auf allen Meeren bedrohen wollten. Aber eine deutsche Flotte, die gerade stark
genug sein wird, daß sie Herrin an unsern Küsten zu bleiben vermag, sollte Eng¬
land aus verschiednen Gründen angenehm sein, schon deshalb, weil sie schon im
Frieden die Unabhängigkeit der deutschen Politik in wesentlich erhöhtem Maße sichert.
Wir begehren von England nichts, Nieder Land noch Leute, aber wir wollen frei
neben ihm die Meere befahren und an fremden Küsten Schiffahrt und Handel treiben
uuter sicherm Schutz für unsre Flagge. Wo dieser Schutz einmal nicht ausreicht, werden
wir uns zunächst vertrauensvoll an England wenden, und keine verständige englische
Regierung wird jemals ihre Politik so einrichten, daß die deutsche Flagge darauf
verzichten müßte, neben der englischen zu wehen. Die Interessen, die Deutschland
und England auf der Welt haben, können sehr gut nebeneinander besteh», wenn
sie gegenseitig von Wohlwollen, Ehrlichkeit und Billigkeit getragen sind. Der Staats¬
mann, der in Berlin oder in London das Signal zu einem — dem ersten —
Konflikt zwischen beiden Nationen gäbe, würde eine große Verantwortlichkeit auf
sich nehmen. Wir glauben nicht, daß das laufende Jahrhundert einen solchen
sehen wird. Daß keiner weiter davon entfernt war als Bismarck, braucht nicht
h. I. erst wiederholt zu werden.


Bernhard Ernst von Bülow.

Der Tod Delbrücks bringt auch den zweiten
der beiden Dioskuren in Erinnerung, die — wenn auch nur wenige Jahre gemein¬
sam — Bismarcks Vertreter im Bundesrat und im Reichstag waren: Bernhard
Ernst von Bülow, den Vater des jetzigen Reichskanzlers. Am 10. Oktober 1873,
vier Wochen vor der Wiederkehr Bismarcks an die Spitze des preußischen Staats-
ministeriums, zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts des Deutschen Reichs mit
dem Range eines preußischen Staatsministers ernannt, hat er diesen Posten mit
großer Umsicht, Treue und Hingebung bis zu seinem leider schon am 20. Ok¬
tober 1879 eingetretenen Hinscheiden ausgefüllt. Er starb auf der Reise nach
Cannes in Frankfurt a. M. an den Folgen der Überanstrengung, mit der er sich
in unermüdlicher Tätigkeit seinen Berufspflichten gewidmet hatte. Wie Bismarck
im Jahre 1815 geboren, nnr wenig Monate jünger als dieser, hat er nur ein
Alter von 64 Jahren erreicht. Namentlich seine angestrengte Tätigkeit während
des Berliner Kongresses, auf dem er als zweiter deutscher Bevollmächtigter tätig
War, hatte seine Gesundheit stark beeinträchtigt. Noch während der Gnsteiner Ver-


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[0507] Maßgebliches und Unmaßgebliches lisches Blatt, und die deutsche „Freisinnige Zeitung" mit ihm. Man könnte die Gegenfrage stellen: Wozu braucht England eine solche Flotte, deren 123 Kreuzer allein schon eine ständige Drohung für den Seehandel aller Nationen sind? England will damit seine Unabhängigkeit, seine Ehre und seine Interessen verteidigen. Nichts andres will Deutschland. Keinem Politiker, der die Augen offen hält, kann es zweifelhaft sein, daß der nächste Krieg zwischen europäischen Großmächten un¬ vermeidlich ein Landkrieg und ein Seekrieg sein wird, und zwar wird dieser Krieg um so näher sein, je schwächer einer der künftigen Gegner dann zu Lande oder zur See ist, je schwächer ganz besonders Deutschland zur See ist. Deutsch¬ land hat jedoch damit zu rechnen, daß seine 54 Millionen Einwohner ihren Anteil verlangen an geschützter Schiffahrt und geschützten überseeischen Handel, weil sie sich ausschließlich als Binnenländer und Landratten nicht mehr ernähren können; es hat damit zu rechnen, daß, von Österreich-Ungarn abgesehen, seine sämtlichen Nachbarn starke Seemächte geworden sind, daß als neue Erscheinungen amerikanische und japanische Flotten auf den Weltmeeren auftreten. Je schwächer wir zur See bleiben, desto leichtere Beute würden wir für alle, die zur See stark sind. Man sage nicht, daß in einem künftigen Kriege das Geschick Europas sich doch zwischen Metz und Paris entscheiden müsse. Eine tüchtige französische Flotte, die ganz anders leistungsfähig sein würde als die von 1870, könnte dem Gang der Dinge eine wesentlich andre Wendung geben, mit oder ohne Verbündete. England hätte von Deutschland zu fürchten, wenn wir hundert Kreuzer bauen und damit den Handel auf allen Meeren bedrohen wollten. Aber eine deutsche Flotte, die gerade stark genug sein wird, daß sie Herrin an unsern Küsten zu bleiben vermag, sollte Eng¬ land aus verschiednen Gründen angenehm sein, schon deshalb, weil sie schon im Frieden die Unabhängigkeit der deutschen Politik in wesentlich erhöhtem Maße sichert. Wir begehren von England nichts, Nieder Land noch Leute, aber wir wollen frei neben ihm die Meere befahren und an fremden Küsten Schiffahrt und Handel treiben uuter sicherm Schutz für unsre Flagge. Wo dieser Schutz einmal nicht ausreicht, werden wir uns zunächst vertrauensvoll an England wenden, und keine verständige englische Regierung wird jemals ihre Politik so einrichten, daß die deutsche Flagge darauf verzichten müßte, neben der englischen zu wehen. Die Interessen, die Deutschland und England auf der Welt haben, können sehr gut nebeneinander besteh», wenn sie gegenseitig von Wohlwollen, Ehrlichkeit und Billigkeit getragen sind. Der Staats¬ mann, der in Berlin oder in London das Signal zu einem — dem ersten — Konflikt zwischen beiden Nationen gäbe, würde eine große Verantwortlichkeit auf sich nehmen. Wir glauben nicht, daß das laufende Jahrhundert einen solchen sehen wird. Daß keiner weiter davon entfernt war als Bismarck, braucht nicht h. I. erst wiederholt zu werden. Bernhard Ernst von Bülow. Der Tod Delbrücks bringt auch den zweiten der beiden Dioskuren in Erinnerung, die — wenn auch nur wenige Jahre gemein¬ sam — Bismarcks Vertreter im Bundesrat und im Reichstag waren: Bernhard Ernst von Bülow, den Vater des jetzigen Reichskanzlers. Am 10. Oktober 1873, vier Wochen vor der Wiederkehr Bismarcks an die Spitze des preußischen Staats- ministeriums, zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts des Deutschen Reichs mit dem Range eines preußischen Staatsministers ernannt, hat er diesen Posten mit großer Umsicht, Treue und Hingebung bis zu seinem leider schon am 20. Ok¬ tober 1879 eingetretenen Hinscheiden ausgefüllt. Er starb auf der Reise nach Cannes in Frankfurt a. M. an den Folgen der Überanstrengung, mit der er sich in unermüdlicher Tätigkeit seinen Berufspflichten gewidmet hatte. Wie Bismarck im Jahre 1815 geboren, nnr wenig Monate jünger als dieser, hat er nur ein Alter von 64 Jahren erreicht. Namentlich seine angestrengte Tätigkeit während des Berliner Kongresses, auf dem er als zweiter deutscher Bevollmächtigter tätig War, hatte seine Gesundheit stark beeinträchtigt. Noch während der Gnsteiner Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/507>, abgerufen am 24.11.2024.