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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet

von Kügelgen heute entschieden nicht mehr. Es war das gute Recht seiner
Zeit, ihn als Porträtmaler zu schätzen, namentlich wenn man an seine
Miniaturen denkt, und wir hören, daß er während seines Petersburger
Aufenthalts deu Kaiser Alexander fünfundfünfzigmal in Miniatur malen
mußte, wofür er jedesmal zweihundert Rudel bekam. Der Verfasser aber
stellt ihn im Bildnis hoch über seine Zeitgenossen, mit Einschränkung sogar
über Anton Graff "S. 92), und von der spielenden klassizistischen Mytho¬
logiemalerei, die nur konventionell dem Stil ihrer Zeit folgt und in
einzelnen sauber polierten Figürchen allerhöchstens die Höhe eines Adriaan
van der Werff erreicht, spricht er mit einem Ernst und in Ausdrücken
(Geist der Antike, Renaissance, Meisterkranz, Meisterjahre usw., wozu auch die
ganze feierliche Periodeneinteilung gehört), die man im Interesse einer guten
Sache nur bedauern kann. Die Teilnahme des lesenden Publikums für die
"Jugenderinnerungen" hat nicht dem Maler Gerhard von Kügelgen gegolten,
sondern dem Menschen, darauf allein beruht der ungewöhnliche Erfolg des viel¬
gelesenen Buchs, und die wenigsten von denen, die es kennen, haben auch nur
ein einziges Bild des Malers gesehen oder eins zu sehen verlangt. Im Gegen¬
teil! Die "Jugend von heute" will das einst so beliebt gewesene Buch, wenn
man es ihr empfiehlt, schon gar nicht mehr lesen, weil es von einem ihrer
Meinung nach viel zu untergeordneten Künstler handelt. Wir wissen, daß das
so ist, und wir meinen, es liegt auf der Hand: wer hier die Maßstäbe durch¬
einander wirft, der muß mit seinen knnstkritischen Fehlgriffen seinen wohlge¬
meinten Absichten entgegenwirken! Persönlich hat uns noch eine Äußerlichkeit
-- nun ja, wir sind doch auch Mensch von Fleisch und Blut -- verstimmt,
dürfen wir also wohl sagen. Während an dem herrlichen Lebensbilde der
Marie Helene alles so echt und schlicht ist, daß es als Motto die Worte
tragen könnte: Euer Wandel ist im Himmel, hat die Künstlerbiographie ihres
Gemahls, auf deren Umschlag der Verfasser das neubackne Wappen derer
von Kügelgen in Buntdruck hat setzen lassen, beinahe etwas herausforderndes,
von der Art, die das Gegenteil des gewünschten Eindrucks bewirkt: Setz deinen
Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist!




Shakespeares Falstaff
vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet
August Müller vonin
(Schluß)

eberschaueu wir das ganze Drama, so bemerken wir, daß
die Figur Falstaffs eine Entwicklung durchmacht. Überwiegend
komische Wirkung hat Falstaffs Auftreten fast nur im ersten
Teil, und auch dort nimmt sie mit dem Fortschritt der Hand¬
lung immer mehr ab. In demselben Maße aber, wie die
Komik abnimmt, tritt die Gemeinheit des Falstasfschen Charakters immer un¬
verhüllter zu Tage. Dabei aber vermindert sich nicht der Raum, den Falstaff


Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet

von Kügelgen heute entschieden nicht mehr. Es war das gute Recht seiner
Zeit, ihn als Porträtmaler zu schätzen, namentlich wenn man an seine
Miniaturen denkt, und wir hören, daß er während seines Petersburger
Aufenthalts deu Kaiser Alexander fünfundfünfzigmal in Miniatur malen
mußte, wofür er jedesmal zweihundert Rudel bekam. Der Verfasser aber
stellt ihn im Bildnis hoch über seine Zeitgenossen, mit Einschränkung sogar
über Anton Graff «S. 92), und von der spielenden klassizistischen Mytho¬
logiemalerei, die nur konventionell dem Stil ihrer Zeit folgt und in
einzelnen sauber polierten Figürchen allerhöchstens die Höhe eines Adriaan
van der Werff erreicht, spricht er mit einem Ernst und in Ausdrücken
(Geist der Antike, Renaissance, Meisterkranz, Meisterjahre usw., wozu auch die
ganze feierliche Periodeneinteilung gehört), die man im Interesse einer guten
Sache nur bedauern kann. Die Teilnahme des lesenden Publikums für die
„Jugenderinnerungen" hat nicht dem Maler Gerhard von Kügelgen gegolten,
sondern dem Menschen, darauf allein beruht der ungewöhnliche Erfolg des viel¬
gelesenen Buchs, und die wenigsten von denen, die es kennen, haben auch nur
ein einziges Bild des Malers gesehen oder eins zu sehen verlangt. Im Gegen¬
teil! Die „Jugend von heute" will das einst so beliebt gewesene Buch, wenn
man es ihr empfiehlt, schon gar nicht mehr lesen, weil es von einem ihrer
Meinung nach viel zu untergeordneten Künstler handelt. Wir wissen, daß das
so ist, und wir meinen, es liegt auf der Hand: wer hier die Maßstäbe durch¬
einander wirft, der muß mit seinen knnstkritischen Fehlgriffen seinen wohlge¬
meinten Absichten entgegenwirken! Persönlich hat uns noch eine Äußerlichkeit
— nun ja, wir sind doch auch Mensch von Fleisch und Blut — verstimmt,
dürfen wir also wohl sagen. Während an dem herrlichen Lebensbilde der
Marie Helene alles so echt und schlicht ist, daß es als Motto die Worte
tragen könnte: Euer Wandel ist im Himmel, hat die Künstlerbiographie ihres
Gemahls, auf deren Umschlag der Verfasser das neubackne Wappen derer
von Kügelgen in Buntdruck hat setzen lassen, beinahe etwas herausforderndes,
von der Art, die das Gegenteil des gewünschten Eindrucks bewirkt: Setz deinen
Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist!




Shakespeares Falstaff
vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet
August Müller vonin
(Schluß)

eberschaueu wir das ganze Drama, so bemerken wir, daß
die Figur Falstaffs eine Entwicklung durchmacht. Überwiegend
komische Wirkung hat Falstaffs Auftreten fast nur im ersten
Teil, und auch dort nimmt sie mit dem Fortschritt der Hand¬
lung immer mehr ab. In demselben Maße aber, wie die
Komik abnimmt, tritt die Gemeinheit des Falstasfschen Charakters immer un¬
verhüllter zu Tage. Dabei aber vermindert sich nicht der Raum, den Falstaff


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[0472] Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet von Kügelgen heute entschieden nicht mehr. Es war das gute Recht seiner Zeit, ihn als Porträtmaler zu schätzen, namentlich wenn man an seine Miniaturen denkt, und wir hören, daß er während seines Petersburger Aufenthalts deu Kaiser Alexander fünfundfünfzigmal in Miniatur malen mußte, wofür er jedesmal zweihundert Rudel bekam. Der Verfasser aber stellt ihn im Bildnis hoch über seine Zeitgenossen, mit Einschränkung sogar über Anton Graff «S. 92), und von der spielenden klassizistischen Mytho¬ logiemalerei, die nur konventionell dem Stil ihrer Zeit folgt und in einzelnen sauber polierten Figürchen allerhöchstens die Höhe eines Adriaan van der Werff erreicht, spricht er mit einem Ernst und in Ausdrücken (Geist der Antike, Renaissance, Meisterkranz, Meisterjahre usw., wozu auch die ganze feierliche Periodeneinteilung gehört), die man im Interesse einer guten Sache nur bedauern kann. Die Teilnahme des lesenden Publikums für die „Jugenderinnerungen" hat nicht dem Maler Gerhard von Kügelgen gegolten, sondern dem Menschen, darauf allein beruht der ungewöhnliche Erfolg des viel¬ gelesenen Buchs, und die wenigsten von denen, die es kennen, haben auch nur ein einziges Bild des Malers gesehen oder eins zu sehen verlangt. Im Gegen¬ teil! Die „Jugend von heute" will das einst so beliebt gewesene Buch, wenn man es ihr empfiehlt, schon gar nicht mehr lesen, weil es von einem ihrer Meinung nach viel zu untergeordneten Künstler handelt. Wir wissen, daß das so ist, und wir meinen, es liegt auf der Hand: wer hier die Maßstäbe durch¬ einander wirft, der muß mit seinen knnstkritischen Fehlgriffen seinen wohlge¬ meinten Absichten entgegenwirken! Persönlich hat uns noch eine Äußerlichkeit — nun ja, wir sind doch auch Mensch von Fleisch und Blut — verstimmt, dürfen wir also wohl sagen. Während an dem herrlichen Lebensbilde der Marie Helene alles so echt und schlicht ist, daß es als Motto die Worte tragen könnte: Euer Wandel ist im Himmel, hat die Künstlerbiographie ihres Gemahls, auf deren Umschlag der Verfasser das neubackne Wappen derer von Kügelgen in Buntdruck hat setzen lassen, beinahe etwas herausforderndes, von der Art, die das Gegenteil des gewünschten Eindrucks bewirkt: Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist! Shakespeares Falstaff vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet August Müller vonin (Schluß) eberschaueu wir das ganze Drama, so bemerken wir, daß die Figur Falstaffs eine Entwicklung durchmacht. Überwiegend komische Wirkung hat Falstaffs Auftreten fast nur im ersten Teil, und auch dort nimmt sie mit dem Fortschritt der Hand¬ lung immer mehr ab. In demselben Maße aber, wie die Komik abnimmt, tritt die Gemeinheit des Falstasfschen Charakters immer un¬ verhüllter zu Tage. Dabei aber vermindert sich nicht der Raum, den Falstaff

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/472>, abgerufen am 24.11.2024.