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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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HU den Ingendennnermigen eines alten Mannes

nach Rußland, die dieser sauber abgeschrieben hinterließ, allein drei starke
Bände füllten. Bekanntlich zeichnet sich das Leben der Ballen in den Ostsee-
provinzen durch ein starkes Gefühl für Verwandtschaft und Häuslichkeit aus;
diesen Sinn hat offenbar die Mutter in ihre neue Heimat mit herübergebracht,
und durch ihre Hand laufen alle Fäden, die ihre Angehörigen untereinander
verbinden.

Wilhelm schreibt über sie in ihren letzten Jahren, als sie schon von
Dresden zu ihm unes Ballenstedt gezogen war: "Sie hat noch ganz die alte
Lebendigkeit des Geistes, die sich leider auf keins ihrer Kinder vererbt hat,
da wir alle wie die Träumender durchs Leben gehn, und besonders ich erst
werde totgeschlagen werden müssen, ehe ich zu vollständigem Erwachen gelange.
Ja sogar die angeheirateten Kinder sind von dieser mordsüchtigen Art."
Ihre geistige Überlegenheit über alle die andern und ihr bei aller Gemüts¬
wärme klarer Verstand geben sich durch das ganze Buch kund. Sie schreibt
dem Sohne zu seinem Geburtstag nach Rom 1825: "Als man dich hente
vor dreiundzwanzig Jahren mir in die Arme legte, da glaubte ich nicht zu er¬
leben, was ich erlebt habe, meine Kinder erwachsen zu sehen, ohne von ihnen
betrübt worden zu sei", und so hoffe ich denn ans Gottes fernere Gnade,
dieser Schmerz soll mir ewig fern bleiben, und Freude an meinen Kindern
mein jetzt so schnell eintretendes Alter erhellen und verklären." Gleich darauf
hatte Vater Krummacher seinen Segen zu Juliens Verlobung gegeben, und
nun schreibt die Mutter dem inzwischen in Rom erkrankten: "Mir ist es, als
stünde des Herrn Engel selbst da mit dem Schwert und triebe dich aus jenem
Lande, das so viele ein Paradies nennen -- ich aber habe es nie so genannt!"
Wilhelm, der im Gefühl seines Glücks seiner Braut und dem Schwiegervater
höchst exaltiert nach Bremen geschrieben hat, verständigt darüber seine Mutter:
"Julie, das gute Kind, habe ich nicht zum Ehestand eingeladen als zu einer
Frende, soudern als zu einer beschwerlichen Pilgerreise, die sie mit mir teilen,
als zu einem beständigen Tode, den sie mit mir sterben soll -- jedoch mit
andern Worten." "Werden Sie mir nicht irre an dem armen kranken Jungen,
wenn er seine Geliebte zu einem gemeinsamen Sterben einladet; ich empfinde,
wie er es meint," erklärt dazu die Mutter an Krummacher. Und dem Sohne
schreibt sie: "Mein Tagewerk bei dir ist vollendet von dein Tage an, da ich
deine Hand in Juliens legen werde. Sie wird dann deine Freundin, deine
Gattin, ja deine verpflegende Mutter sein, wie auch abwechselnd dein dir ge¬
horchendes Kind, nie deine Magd, deine Sklavin. Ich aber verliere darum
als Mutter nichts, und dn bleibst mein Sohn, mein lieber gewünschter Sohn."
Dagegen will der aufgeregte Sohn noch zehn Jahre später einem Neugebornen
in der Taufe unter andern den Namen Hiob beigelegt wissen, weil es ihm,
dem Vater, vorher nicht sehr behaglich zu Mute gewesen ist -- "zum Andenken
an meine gegenwärtige Lage" --, das Lächerliche dabei solle sie alle erquicken,
sowie die ernste Bedeutung auch, den festlichen Tag aber bringt er ganz still
hin, "um im Geiste alle seine Kinder dem Herrn zu schlachten, soweit man
dies kann und vermag."

Jede Seite des Buchs sagt dem Leser, daß er hier in einem tief religiös


HU den Ingendennnermigen eines alten Mannes

nach Rußland, die dieser sauber abgeschrieben hinterließ, allein drei starke
Bände füllten. Bekanntlich zeichnet sich das Leben der Ballen in den Ostsee-
provinzen durch ein starkes Gefühl für Verwandtschaft und Häuslichkeit aus;
diesen Sinn hat offenbar die Mutter in ihre neue Heimat mit herübergebracht,
und durch ihre Hand laufen alle Fäden, die ihre Angehörigen untereinander
verbinden.

Wilhelm schreibt über sie in ihren letzten Jahren, als sie schon von
Dresden zu ihm unes Ballenstedt gezogen war: „Sie hat noch ganz die alte
Lebendigkeit des Geistes, die sich leider auf keins ihrer Kinder vererbt hat,
da wir alle wie die Träumender durchs Leben gehn, und besonders ich erst
werde totgeschlagen werden müssen, ehe ich zu vollständigem Erwachen gelange.
Ja sogar die angeheirateten Kinder sind von dieser mordsüchtigen Art."
Ihre geistige Überlegenheit über alle die andern und ihr bei aller Gemüts¬
wärme klarer Verstand geben sich durch das ganze Buch kund. Sie schreibt
dem Sohne zu seinem Geburtstag nach Rom 1825: „Als man dich hente
vor dreiundzwanzig Jahren mir in die Arme legte, da glaubte ich nicht zu er¬
leben, was ich erlebt habe, meine Kinder erwachsen zu sehen, ohne von ihnen
betrübt worden zu sei», und so hoffe ich denn ans Gottes fernere Gnade,
dieser Schmerz soll mir ewig fern bleiben, und Freude an meinen Kindern
mein jetzt so schnell eintretendes Alter erhellen und verklären." Gleich darauf
hatte Vater Krummacher seinen Segen zu Juliens Verlobung gegeben, und
nun schreibt die Mutter dem inzwischen in Rom erkrankten: „Mir ist es, als
stünde des Herrn Engel selbst da mit dem Schwert und triebe dich aus jenem
Lande, das so viele ein Paradies nennen — ich aber habe es nie so genannt!"
Wilhelm, der im Gefühl seines Glücks seiner Braut und dem Schwiegervater
höchst exaltiert nach Bremen geschrieben hat, verständigt darüber seine Mutter:
„Julie, das gute Kind, habe ich nicht zum Ehestand eingeladen als zu einer
Frende, soudern als zu einer beschwerlichen Pilgerreise, die sie mit mir teilen,
als zu einem beständigen Tode, den sie mit mir sterben soll — jedoch mit
andern Worten." „Werden Sie mir nicht irre an dem armen kranken Jungen,
wenn er seine Geliebte zu einem gemeinsamen Sterben einladet; ich empfinde,
wie er es meint," erklärt dazu die Mutter an Krummacher. Und dem Sohne
schreibt sie: „Mein Tagewerk bei dir ist vollendet von dein Tage an, da ich
deine Hand in Juliens legen werde. Sie wird dann deine Freundin, deine
Gattin, ja deine verpflegende Mutter sein, wie auch abwechselnd dein dir ge¬
horchendes Kind, nie deine Magd, deine Sklavin. Ich aber verliere darum
als Mutter nichts, und dn bleibst mein Sohn, mein lieber gewünschter Sohn."
Dagegen will der aufgeregte Sohn noch zehn Jahre später einem Neugebornen
in der Taufe unter andern den Namen Hiob beigelegt wissen, weil es ihm,
dem Vater, vorher nicht sehr behaglich zu Mute gewesen ist — „zum Andenken
an meine gegenwärtige Lage" —, das Lächerliche dabei solle sie alle erquicken,
sowie die ernste Bedeutung auch, den festlichen Tag aber bringt er ganz still
hin, „um im Geiste alle seine Kinder dem Herrn zu schlachten, soweit man
dies kann und vermag."

Jede Seite des Buchs sagt dem Leser, daß er hier in einem tief religiös


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[0468] HU den Ingendennnermigen eines alten Mannes nach Rußland, die dieser sauber abgeschrieben hinterließ, allein drei starke Bände füllten. Bekanntlich zeichnet sich das Leben der Ballen in den Ostsee- provinzen durch ein starkes Gefühl für Verwandtschaft und Häuslichkeit aus; diesen Sinn hat offenbar die Mutter in ihre neue Heimat mit herübergebracht, und durch ihre Hand laufen alle Fäden, die ihre Angehörigen untereinander verbinden. Wilhelm schreibt über sie in ihren letzten Jahren, als sie schon von Dresden zu ihm unes Ballenstedt gezogen war: „Sie hat noch ganz die alte Lebendigkeit des Geistes, die sich leider auf keins ihrer Kinder vererbt hat, da wir alle wie die Träumender durchs Leben gehn, und besonders ich erst werde totgeschlagen werden müssen, ehe ich zu vollständigem Erwachen gelange. Ja sogar die angeheirateten Kinder sind von dieser mordsüchtigen Art." Ihre geistige Überlegenheit über alle die andern und ihr bei aller Gemüts¬ wärme klarer Verstand geben sich durch das ganze Buch kund. Sie schreibt dem Sohne zu seinem Geburtstag nach Rom 1825: „Als man dich hente vor dreiundzwanzig Jahren mir in die Arme legte, da glaubte ich nicht zu er¬ leben, was ich erlebt habe, meine Kinder erwachsen zu sehen, ohne von ihnen betrübt worden zu sei», und so hoffe ich denn ans Gottes fernere Gnade, dieser Schmerz soll mir ewig fern bleiben, und Freude an meinen Kindern mein jetzt so schnell eintretendes Alter erhellen und verklären." Gleich darauf hatte Vater Krummacher seinen Segen zu Juliens Verlobung gegeben, und nun schreibt die Mutter dem inzwischen in Rom erkrankten: „Mir ist es, als stünde des Herrn Engel selbst da mit dem Schwert und triebe dich aus jenem Lande, das so viele ein Paradies nennen — ich aber habe es nie so genannt!" Wilhelm, der im Gefühl seines Glücks seiner Braut und dem Schwiegervater höchst exaltiert nach Bremen geschrieben hat, verständigt darüber seine Mutter: „Julie, das gute Kind, habe ich nicht zum Ehestand eingeladen als zu einer Frende, soudern als zu einer beschwerlichen Pilgerreise, die sie mit mir teilen, als zu einem beständigen Tode, den sie mit mir sterben soll — jedoch mit andern Worten." „Werden Sie mir nicht irre an dem armen kranken Jungen, wenn er seine Geliebte zu einem gemeinsamen Sterben einladet; ich empfinde, wie er es meint," erklärt dazu die Mutter an Krummacher. Und dem Sohne schreibt sie: „Mein Tagewerk bei dir ist vollendet von dein Tage an, da ich deine Hand in Juliens legen werde. Sie wird dann deine Freundin, deine Gattin, ja deine verpflegende Mutter sein, wie auch abwechselnd dein dir ge¬ horchendes Kind, nie deine Magd, deine Sklavin. Ich aber verliere darum als Mutter nichts, und dn bleibst mein Sohn, mein lieber gewünschter Sohn." Dagegen will der aufgeregte Sohn noch zehn Jahre später einem Neugebornen in der Taufe unter andern den Namen Hiob beigelegt wissen, weil es ihm, dem Vater, vorher nicht sehr behaglich zu Mute gewesen ist — „zum Andenken an meine gegenwärtige Lage" —, das Lächerliche dabei solle sie alle erquicken, sowie die ernste Bedeutung auch, den festlichen Tag aber bringt er ganz still hin, „um im Geiste alle seine Kinder dem Herrn zu schlachten, soweit man dies kann und vermag." Jede Seite des Buchs sagt dem Leser, daß er hier in einem tief religiös

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/468>, abgerufen am 27.11.2024.