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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Irrtümer der Demokratie

Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Ihn verkündet zu haben, bleibt
ein unvergängliches Verdienst der französischen Revolution.

Allerdings hat die Demokratie selbst der Ausbreitung und der Vertiefung
dieses Grundsatzes am meisten geschadet, indem sie aus dieser Gleichheit vor
dem Gesetz und aus der Eröffnung der Staatsämter für alle Bürger ohne
Unterschied des Standes eine politische Gleichheit folgerte und auf diesem Wege
zur Souveränität des Volkswillens gelangen wollte. Sie verwechselte die not¬
wendige Gleichheit in der Behandlung aller Staatsbürger durch das Gesetz
mit einer unmöglichen Gleichheit ihres Handelns; aus dem Rechtsobjekte Volk
machte sie ein Rechtssubjekt und schmälerte so selbst ihre einzige große Er¬
rungenschaft. Indem die Demokratie einerseits die Menschheit von den Fesseln
der Standesvorrechte zu befreien suchte und damit den Weg einschlug, auf dem
allein der politische Fortschritt möglich ist, weil er Raum für die Entfaltung
der Einzelnen bietet, hemmte sie anderseits diese Entfaltung dadurch, daß sie
grundsätzlich jede Einzelherrschaft in jeder Form verwarf. So wenig die
Monarchie es hindert, daß die Gewalt dem Fähigsten anvertraut werde -- es
hat ja neben Kaiser Wilhelm dem Ersten ein Bismcirck Platz gehabt --, so
wenig findet man in demokratischen Staaten Menschen, die auch nur über das
Mittelmaß hinausreichen. Gres rühmt der englischen Verfassung nach, daß
sie zwar nicht große gewaltige Staatsmänner aber doch eine gute Mittelsvrte
erzeuge, wodurch eine gewisse Stetigkeit in der Regierung des Landes gewähr¬
leistet werde. Wir aus dem Festlande, die wir die jahrhuudertealte Vorschule
des englischen Parlamentarismus nicht haben, entbehren jedoch auch dieses
Vorteils. Gerade die festländischen repräsentativen Verfassungen haben sich
nicht als geeignet erwiesen, eine Auslese der Fähigsten zu bewirken; die Auslese
fällt aber umso schlimmer aus, je stärker diese Verfassungen mit demokratischen
Elementen durchsetzt sind. Indem sie das ganze politische Leben in eine end¬
lose Reihe jämmerlicher Parteiknmpfe und Intrigen auflösen, in denen sich
im besten Falle geriebne Taktiker, nimmer aber Politiker bilden, sperren sie
den Fähigen geradezu den Weg zur Macht, wenn es nicht Größen ersten
Ranges, Gewaltmenschen sind, die sich mit eiserner Faust den Weg durch das
Gestrüpp der Demokratie bahnen. Der unter den wirklich Gebildeten immer
mehr um sich greifende Ekel am öffentlichen politischen Leben, ihre Flucht aus
den Parlamenten, das sind alles Belege dafür, daß in dem Schatten der auf
den Trümmern der französischen Verfassung von 1791 aufgebauten Repräsentativ¬
verfassungen Politiker nicht gedeihen können, daß sich aber auch die Geschichte
unsrer Volksvertretungen selbst schon stark in absteigender Linie bewegt.

Staatsstreich! Das politische Elend der Gegenwart verleiht dem Worte
vielfach einen erlösenden Klang. Aber wozu von einem Staatsstreiche sprechen?
Ist unser auf die Macht und die Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Geistes
sonst so stolzes Geschlecht wirklich so beschränkt, daß es nicht erkennen sollte,
ein Menschenwerk und noch dazu ein so mangelhaftes wie unsre Verfassungen
könne nicht für die Ewigkeit bestimmt sein? Das Volk steckt allerdings noch
tief im politischen Aberglauben, dem die neue Zeit ebenso huldigt, wie das
Mittelalter dem physikalischen und dem religiösen. Die Menge glaubt auch


Die Irrtümer der Demokratie

Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Ihn verkündet zu haben, bleibt
ein unvergängliches Verdienst der französischen Revolution.

Allerdings hat die Demokratie selbst der Ausbreitung und der Vertiefung
dieses Grundsatzes am meisten geschadet, indem sie aus dieser Gleichheit vor
dem Gesetz und aus der Eröffnung der Staatsämter für alle Bürger ohne
Unterschied des Standes eine politische Gleichheit folgerte und auf diesem Wege
zur Souveränität des Volkswillens gelangen wollte. Sie verwechselte die not¬
wendige Gleichheit in der Behandlung aller Staatsbürger durch das Gesetz
mit einer unmöglichen Gleichheit ihres Handelns; aus dem Rechtsobjekte Volk
machte sie ein Rechtssubjekt und schmälerte so selbst ihre einzige große Er¬
rungenschaft. Indem die Demokratie einerseits die Menschheit von den Fesseln
der Standesvorrechte zu befreien suchte und damit den Weg einschlug, auf dem
allein der politische Fortschritt möglich ist, weil er Raum für die Entfaltung
der Einzelnen bietet, hemmte sie anderseits diese Entfaltung dadurch, daß sie
grundsätzlich jede Einzelherrschaft in jeder Form verwarf. So wenig die
Monarchie es hindert, daß die Gewalt dem Fähigsten anvertraut werde — es
hat ja neben Kaiser Wilhelm dem Ersten ein Bismcirck Platz gehabt —, so
wenig findet man in demokratischen Staaten Menschen, die auch nur über das
Mittelmaß hinausreichen. Gres rühmt der englischen Verfassung nach, daß
sie zwar nicht große gewaltige Staatsmänner aber doch eine gute Mittelsvrte
erzeuge, wodurch eine gewisse Stetigkeit in der Regierung des Landes gewähr¬
leistet werde. Wir aus dem Festlande, die wir die jahrhuudertealte Vorschule
des englischen Parlamentarismus nicht haben, entbehren jedoch auch dieses
Vorteils. Gerade die festländischen repräsentativen Verfassungen haben sich
nicht als geeignet erwiesen, eine Auslese der Fähigsten zu bewirken; die Auslese
fällt aber umso schlimmer aus, je stärker diese Verfassungen mit demokratischen
Elementen durchsetzt sind. Indem sie das ganze politische Leben in eine end¬
lose Reihe jämmerlicher Parteiknmpfe und Intrigen auflösen, in denen sich
im besten Falle geriebne Taktiker, nimmer aber Politiker bilden, sperren sie
den Fähigen geradezu den Weg zur Macht, wenn es nicht Größen ersten
Ranges, Gewaltmenschen sind, die sich mit eiserner Faust den Weg durch das
Gestrüpp der Demokratie bahnen. Der unter den wirklich Gebildeten immer
mehr um sich greifende Ekel am öffentlichen politischen Leben, ihre Flucht aus
den Parlamenten, das sind alles Belege dafür, daß in dem Schatten der auf
den Trümmern der französischen Verfassung von 1791 aufgebauten Repräsentativ¬
verfassungen Politiker nicht gedeihen können, daß sich aber auch die Geschichte
unsrer Volksvertretungen selbst schon stark in absteigender Linie bewegt.

Staatsstreich! Das politische Elend der Gegenwart verleiht dem Worte
vielfach einen erlösenden Klang. Aber wozu von einem Staatsstreiche sprechen?
Ist unser auf die Macht und die Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Geistes
sonst so stolzes Geschlecht wirklich so beschränkt, daß es nicht erkennen sollte,
ein Menschenwerk und noch dazu ein so mangelhaftes wie unsre Verfassungen
könne nicht für die Ewigkeit bestimmt sein? Das Volk steckt allerdings noch
tief im politischen Aberglauben, dem die neue Zeit ebenso huldigt, wie das
Mittelalter dem physikalischen und dem religiösen. Die Menge glaubt auch


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[0460] Die Irrtümer der Demokratie Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Ihn verkündet zu haben, bleibt ein unvergängliches Verdienst der französischen Revolution. Allerdings hat die Demokratie selbst der Ausbreitung und der Vertiefung dieses Grundsatzes am meisten geschadet, indem sie aus dieser Gleichheit vor dem Gesetz und aus der Eröffnung der Staatsämter für alle Bürger ohne Unterschied des Standes eine politische Gleichheit folgerte und auf diesem Wege zur Souveränität des Volkswillens gelangen wollte. Sie verwechselte die not¬ wendige Gleichheit in der Behandlung aller Staatsbürger durch das Gesetz mit einer unmöglichen Gleichheit ihres Handelns; aus dem Rechtsobjekte Volk machte sie ein Rechtssubjekt und schmälerte so selbst ihre einzige große Er¬ rungenschaft. Indem die Demokratie einerseits die Menschheit von den Fesseln der Standesvorrechte zu befreien suchte und damit den Weg einschlug, auf dem allein der politische Fortschritt möglich ist, weil er Raum für die Entfaltung der Einzelnen bietet, hemmte sie anderseits diese Entfaltung dadurch, daß sie grundsätzlich jede Einzelherrschaft in jeder Form verwarf. So wenig die Monarchie es hindert, daß die Gewalt dem Fähigsten anvertraut werde — es hat ja neben Kaiser Wilhelm dem Ersten ein Bismcirck Platz gehabt —, so wenig findet man in demokratischen Staaten Menschen, die auch nur über das Mittelmaß hinausreichen. Gres rühmt der englischen Verfassung nach, daß sie zwar nicht große gewaltige Staatsmänner aber doch eine gute Mittelsvrte erzeuge, wodurch eine gewisse Stetigkeit in der Regierung des Landes gewähr¬ leistet werde. Wir aus dem Festlande, die wir die jahrhuudertealte Vorschule des englischen Parlamentarismus nicht haben, entbehren jedoch auch dieses Vorteils. Gerade die festländischen repräsentativen Verfassungen haben sich nicht als geeignet erwiesen, eine Auslese der Fähigsten zu bewirken; die Auslese fällt aber umso schlimmer aus, je stärker diese Verfassungen mit demokratischen Elementen durchsetzt sind. Indem sie das ganze politische Leben in eine end¬ lose Reihe jämmerlicher Parteiknmpfe und Intrigen auflösen, in denen sich im besten Falle geriebne Taktiker, nimmer aber Politiker bilden, sperren sie den Fähigen geradezu den Weg zur Macht, wenn es nicht Größen ersten Ranges, Gewaltmenschen sind, die sich mit eiserner Faust den Weg durch das Gestrüpp der Demokratie bahnen. Der unter den wirklich Gebildeten immer mehr um sich greifende Ekel am öffentlichen politischen Leben, ihre Flucht aus den Parlamenten, das sind alles Belege dafür, daß in dem Schatten der auf den Trümmern der französischen Verfassung von 1791 aufgebauten Repräsentativ¬ verfassungen Politiker nicht gedeihen können, daß sich aber auch die Geschichte unsrer Volksvertretungen selbst schon stark in absteigender Linie bewegt. Staatsstreich! Das politische Elend der Gegenwart verleiht dem Worte vielfach einen erlösenden Klang. Aber wozu von einem Staatsstreiche sprechen? Ist unser auf die Macht und die Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Geistes sonst so stolzes Geschlecht wirklich so beschränkt, daß es nicht erkennen sollte, ein Menschenwerk und noch dazu ein so mangelhaftes wie unsre Verfassungen könne nicht für die Ewigkeit bestimmt sein? Das Volk steckt allerdings noch tief im politischen Aberglauben, dem die neue Zeit ebenso huldigt, wie das Mittelalter dem physikalischen und dem religiösen. Die Menge glaubt auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/460>, abgerufen am 24.11.2024.