Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.Shakespeares Falstaff von, medizinischen Standpunkt aus betrachtet Aber sein Witz hat häufig genug eine ganz eigentümliche Beimischung, Sehen wir genauer zu, so wird uns immer mehr klar, daß Falstaff Von seinein unverschämten Lügen bringt ja fast jede Szene überraschende Shakespeares Falstaff von, medizinischen Standpunkt aus betrachtet Aber sein Witz hat häufig genug eine ganz eigentümliche Beimischung, Sehen wir genauer zu, so wird uns immer mehr klar, daß Falstaff Von seinein unverschämten Lügen bringt ja fast jede Szene überraschende <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0410" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239966"/> <fw type="header" place="top"> Shakespeares Falstaff von, medizinischen Standpunkt aus betrachtet</fw><lb/> <p xml:id="ID_2019"> Aber sein Witz hat häufig genug eine ganz eigentümliche Beimischung,<lb/> er ist nicht harmlos. So benutzt er z. B., wie er dem Prinzen gegenüber<lb/> den König, dessen Vater spielt, die Gelegenheit, sich selbst auf Kosten seiner<lb/> Genossen in Empfehlung zu bringen: „Zu ihm soll sich der Prinz halten,<lb/> die andern verbannen." Viel drastischer ist sein Verhalten in der Schlacht<lb/> von Shrewsbury: Nachdem er sich erhoben hat, sieht er den toten Percy liegen<lb/> und meint: „Wetter, ich fürchte mich vor dem Schießpulver Percy, ob er schon<lb/> tot ist; wenn er auch eine Maske angenommen hätte und aufstünde? Ich<lb/> fürchte, er würde seine Maske bester spielen. Darum will ich ihn in Sicherheit<lb/> bringen, ja, und will schwören, daß ich ihn umgebracht habe. Warum könnte<lb/> er nicht ebenso gut aufstehn wie ich? Nichts kann mich widerlegen als Augen,<lb/> und hier sieht mich niemand." Er sticht ihn nun ins Bein und sagt: „Also<lb/> komm, Bursch! mit einer neuen Wunde im Schenkel mußt du mit mir fort."<lb/> Mittlerweile kommen Prinz Heinrich und Prinz Johann, und Falstaff wirft<lb/> nnn den Leichnam vor ihnen nieder mit den Worten: „Da habt ihr den Percy;<lb/> will euer Vater mir etwas Ehre erzeigen, gut; wo nicht, so kann er den<lb/> nächsten Percy selbst umbringen. Ich erwarte, Graf oder Herzog zu werden,<lb/> das kann ich euch versichern." Und wie die Prinzen weitergehn, meint er:<lb/> „Ich will hinterdrein nach Lohn gehn." Unstreitig liegt in dieser Szene eine<lb/> geradezu groteske Komik, aber trotzdem will uns das Lachen nicht gelingen; die<lb/> kalte Berechnung gepaart mit unverhüllter Gemeinheit liegt zu offen zu Tage.</p><lb/> <p xml:id="ID_2020"> Sehen wir genauer zu, so wird uns immer mehr klar, daß Falstaff<lb/> niemals seinen Vorteil ans dem Ange verliert und keine Gelegenheit, ihn<lb/> wahrzunehmen, unbenutzt vorübergehn läßt. Welche Grundsätze er hierin be¬<lb/> folgt, das spricht er mit genügender Deutlichkeit bei dem Friedensrichter Schaal<lb/> aus: „Gut, ich will mich an ihn machen, wenn ich zurückkomme; und es müßte<lb/> schlimm zugehn, wenn ich nicht einen doppelten Stein der Weisen aus ihm<lb/> machte. Wenn der junge Gründling ein Köder für deu alten Hecht ist, so<lb/> sehe ich nach dem Naturrecht keinen Grund, warum ich nicht nach ihm schnappen<lb/> sollte." Wir sehen ihn denn auch seiner ewigen Geldverlegenheit entsprechend<lb/> immer „schnappen": sogar den Oberrichter versucht er anzupumpen, nachdem<lb/> dieser ihm eben noch die bittersten Dinge gesagt hat, und in der Wahl seiner<lb/> Mittel hierbei ist er völlig skrupellos.</p><lb/> <p xml:id="ID_2021"> Von seinein unverschämten Lügen bringt ja fast jede Szene überraschende<lb/> Proben; ich erinnere hier nnr um seine Erzählung von den Steifleinenen, die<lb/> sich im Handnmdrehn von zwei bis auf elf vermehren; das Drolligste dabei<lb/> ist, daß er seine Erzählung mit der Beteuerung einleitet: „Heinz, wenn ich dir<lb/> eine Lüge sage, so spei mir ins Gesicht." Seine Hinterlist zeigt sich in dem<lb/> Brief an den Prinzen: „Sei nicht zu vertraulich mit Pvius, er mißbraucht<lb/> deine Gunst: er schwört sogar, du müßtest seine Schwester Lene heiraten."<lb/> Eine ganz niederträchtige Gesinnung spricht ans den Worten, mit denen er den<lb/> Oberrichter gegen seine Wirtin einzunehmen sucht: „Gnädiger Herr, sie ist eine<lb/> arme, unkluge Seele, und sie sagt allerorten in der Stadt, ihr ältester Sohn<lb/> sehe euch ähnlich." Und diese selbe Frau hat er durch die Vorspiegelung, er<lb/> wolle sie heirate«, um ihre ganze Habe gebracht!</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0410]
Shakespeares Falstaff von, medizinischen Standpunkt aus betrachtet
Aber sein Witz hat häufig genug eine ganz eigentümliche Beimischung,
er ist nicht harmlos. So benutzt er z. B., wie er dem Prinzen gegenüber
den König, dessen Vater spielt, die Gelegenheit, sich selbst auf Kosten seiner
Genossen in Empfehlung zu bringen: „Zu ihm soll sich der Prinz halten,
die andern verbannen." Viel drastischer ist sein Verhalten in der Schlacht
von Shrewsbury: Nachdem er sich erhoben hat, sieht er den toten Percy liegen
und meint: „Wetter, ich fürchte mich vor dem Schießpulver Percy, ob er schon
tot ist; wenn er auch eine Maske angenommen hätte und aufstünde? Ich
fürchte, er würde seine Maske bester spielen. Darum will ich ihn in Sicherheit
bringen, ja, und will schwören, daß ich ihn umgebracht habe. Warum könnte
er nicht ebenso gut aufstehn wie ich? Nichts kann mich widerlegen als Augen,
und hier sieht mich niemand." Er sticht ihn nun ins Bein und sagt: „Also
komm, Bursch! mit einer neuen Wunde im Schenkel mußt du mit mir fort."
Mittlerweile kommen Prinz Heinrich und Prinz Johann, und Falstaff wirft
nnn den Leichnam vor ihnen nieder mit den Worten: „Da habt ihr den Percy;
will euer Vater mir etwas Ehre erzeigen, gut; wo nicht, so kann er den
nächsten Percy selbst umbringen. Ich erwarte, Graf oder Herzog zu werden,
das kann ich euch versichern." Und wie die Prinzen weitergehn, meint er:
„Ich will hinterdrein nach Lohn gehn." Unstreitig liegt in dieser Szene eine
geradezu groteske Komik, aber trotzdem will uns das Lachen nicht gelingen; die
kalte Berechnung gepaart mit unverhüllter Gemeinheit liegt zu offen zu Tage.
Sehen wir genauer zu, so wird uns immer mehr klar, daß Falstaff
niemals seinen Vorteil ans dem Ange verliert und keine Gelegenheit, ihn
wahrzunehmen, unbenutzt vorübergehn läßt. Welche Grundsätze er hierin be¬
folgt, das spricht er mit genügender Deutlichkeit bei dem Friedensrichter Schaal
aus: „Gut, ich will mich an ihn machen, wenn ich zurückkomme; und es müßte
schlimm zugehn, wenn ich nicht einen doppelten Stein der Weisen aus ihm
machte. Wenn der junge Gründling ein Köder für deu alten Hecht ist, so
sehe ich nach dem Naturrecht keinen Grund, warum ich nicht nach ihm schnappen
sollte." Wir sehen ihn denn auch seiner ewigen Geldverlegenheit entsprechend
immer „schnappen": sogar den Oberrichter versucht er anzupumpen, nachdem
dieser ihm eben noch die bittersten Dinge gesagt hat, und in der Wahl seiner
Mittel hierbei ist er völlig skrupellos.
Von seinein unverschämten Lügen bringt ja fast jede Szene überraschende
Proben; ich erinnere hier nnr um seine Erzählung von den Steifleinenen, die
sich im Handnmdrehn von zwei bis auf elf vermehren; das Drolligste dabei
ist, daß er seine Erzählung mit der Beteuerung einleitet: „Heinz, wenn ich dir
eine Lüge sage, so spei mir ins Gesicht." Seine Hinterlist zeigt sich in dem
Brief an den Prinzen: „Sei nicht zu vertraulich mit Pvius, er mißbraucht
deine Gunst: er schwört sogar, du müßtest seine Schwester Lene heiraten."
Eine ganz niederträchtige Gesinnung spricht ans den Worten, mit denen er den
Oberrichter gegen seine Wirtin einzunehmen sucht: „Gnädiger Herr, sie ist eine
arme, unkluge Seele, und sie sagt allerorten in der Stadt, ihr ältester Sohn
sehe euch ähnlich." Und diese selbe Frau hat er durch die Vorspiegelung, er
wolle sie heirate«, um ihre ganze Habe gebracht!
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