Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Ansichten in der breiten Masse nicht aufkommen lassen und darum eben, well
ihre Klassenexistenz auf den demokratischen Lehrsätzen bericht, eifrigst bemüht
sind, dem Volle diese Lehrsätze als die Grundlage aller Freiheit und allen
Fortschritts aufs eindringlichste ans Herz zu legen.

Wirthe war endlich auch immer der Hinweis auf England mit seiner
seit so langer Zeit wohlbewährten Verfassung. Tausende die wenn auch
nicht die klare Erkenntnis so doch das Gefühl hatten, daß die Rousseausche
Lehre ein großer Humbug sei. ließen sich zu einem Kompromiß zwischen Ab¬
solutismus und Demokratie in der Hoffnung herbei, dadurch zu ewem Zu¬
stande zu gelangen, der der vielbeneideten englischen Verfassung ähnlich se..
Auch da lag ein Irrtum vor. Die alte englische Verfassung - uur von dieser
kann die Rede sein, da die neue schon demokratisiert ist und darum auch schon
alle Mängel der Demokratie ausweist - beruhte gar nicht auf der Souveränität
des Volks. Das englische Parlament war hervorgegangen aus einer Versamm¬
lung mit bestimmten Aufträgen versehener Vertreter ganz bestimmter lokaler
Interessengruppen. Die Emanzipation des englischen Parlaments von dem
Mandat der Wähler fängt erst im siebzehnten Jahrhundert an und dringt erst
im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durch, parallel mit der Demo¬
kratisierung der Verfassung, die auch hier den Willen der Wähler zu Gunsten der
Souveränität des Parlaments beschneidet. Rousseau kennt nichts abscheulicheres
als diese Verfassung ("das englische Volk denkt selbst frei, aber es wird schmählich
hintergangen"), und Talleyrand beeilte sich, bei der Beratung der Verfassung
von 1791 jeden Zweifel daran, daß die Demokratie von dem englischen Self-
government durchaus verschieden sei. dadurch zu beseitigen, daß er beantragte,
der Abgeordnete dürfe von seinen Wählern keinerlei Instruktionen annehmen,
da er nicht einen Teil seiner Mitbürger, sondern die gesamte Nation vertrete^ -
Es ist keine besondre Empfehlung für die Schöpfer der festländischen Ver¬
fassungen, daß sie fast durchweg diese Formel Talleyrands als teures Vermächtnis
übernahmen, es geht jedoch daraus hervor, daß unsre modernen Verfassungen
mit der alten englischen im Wesen nichts gemein haben. Aber man legte
schließlich daraus nicht viel Gewicht; man wollte in einsichtigen Kreisen nichts
von der reinen französischen Demokratie wissen, wohl aber ihre Formen an¬
nehmen: Wahlen und Volksvertretung, weil man damit die Mittel gefunden
zu haben glaubte, deu politischen Kampf in feste, die innere Ordnung nicht
störende Formen zu fassen und so den Fähigsten die Wege zur Teilnahme an
der öffentlichen Gewalt zu öffnen.

^Mit dieser Erwägung war man dem eigentlichen Kerne des ganzen Problems
der politischen Organisation schon näher gekommen; aber man irrte, wenn man
glaubte, mit Hilfe der demokratischen Formen zu einer Auslese der besten zu
gelangen. Man hat sich vielfach aus das Zeugnis Henry Greys berufe-i, der
in seiner Schrift ..Die parlamentarische Regierungsform" über diesen Hunde
allerdings folgendes ausführt: In betreff der vor allein wichtigen Rücksicht,
daß für die Wahl von solchen Männern vorgesehen werde, die geeignet sind,
die Nation zu regieren, scheint die Erfahrung ebenfalls zu Gunsten des
Systems parlamentarischer Regierung zu spreche,?. Wenn wir die ganze


Ansichten in der breiten Masse nicht aufkommen lassen und darum eben, well
ihre Klassenexistenz auf den demokratischen Lehrsätzen bericht, eifrigst bemüht
sind, dem Volle diese Lehrsätze als die Grundlage aller Freiheit und allen
Fortschritts aufs eindringlichste ans Herz zu legen.

Wirthe war endlich auch immer der Hinweis auf England mit seiner
seit so langer Zeit wohlbewährten Verfassung. Tausende die wenn auch
nicht die klare Erkenntnis so doch das Gefühl hatten, daß die Rousseausche
Lehre ein großer Humbug sei. ließen sich zu einem Kompromiß zwischen Ab¬
solutismus und Demokratie in der Hoffnung herbei, dadurch zu ewem Zu¬
stande zu gelangen, der der vielbeneideten englischen Verfassung ähnlich se..
Auch da lag ein Irrtum vor. Die alte englische Verfassung - uur von dieser
kann die Rede sein, da die neue schon demokratisiert ist und darum auch schon
alle Mängel der Demokratie ausweist - beruhte gar nicht auf der Souveränität
des Volks. Das englische Parlament war hervorgegangen aus einer Versamm¬
lung mit bestimmten Aufträgen versehener Vertreter ganz bestimmter lokaler
Interessengruppen. Die Emanzipation des englischen Parlaments von dem
Mandat der Wähler fängt erst im siebzehnten Jahrhundert an und dringt erst
im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durch, parallel mit der Demo¬
kratisierung der Verfassung, die auch hier den Willen der Wähler zu Gunsten der
Souveränität des Parlaments beschneidet. Rousseau kennt nichts abscheulicheres
als diese Verfassung („das englische Volk denkt selbst frei, aber es wird schmählich
hintergangen"), und Talleyrand beeilte sich, bei der Beratung der Verfassung
von 1791 jeden Zweifel daran, daß die Demokratie von dem englischen Self-
government durchaus verschieden sei. dadurch zu beseitigen, daß er beantragte,
der Abgeordnete dürfe von seinen Wählern keinerlei Instruktionen annehmen,
da er nicht einen Teil seiner Mitbürger, sondern die gesamte Nation vertrete^ -
Es ist keine besondre Empfehlung für die Schöpfer der festländischen Ver¬
fassungen, daß sie fast durchweg diese Formel Talleyrands als teures Vermächtnis
übernahmen, es geht jedoch daraus hervor, daß unsre modernen Verfassungen
mit der alten englischen im Wesen nichts gemein haben. Aber man legte
schließlich daraus nicht viel Gewicht; man wollte in einsichtigen Kreisen nichts
von der reinen französischen Demokratie wissen, wohl aber ihre Formen an¬
nehmen: Wahlen und Volksvertretung, weil man damit die Mittel gefunden
zu haben glaubte, deu politischen Kampf in feste, die innere Ordnung nicht
störende Formen zu fassen und so den Fähigsten die Wege zur Teilnahme an
der öffentlichen Gewalt zu öffnen.

^Mit dieser Erwägung war man dem eigentlichen Kerne des ganzen Problems
der politischen Organisation schon näher gekommen; aber man irrte, wenn man
glaubte, mit Hilfe der demokratischen Formen zu einer Auslese der besten zu
gelangen. Man hat sich vielfach aus das Zeugnis Henry Greys berufe-i, der
in seiner Schrift ..Die parlamentarische Regierungsform" über diesen Hunde
allerdings folgendes ausführt: In betreff der vor allein wichtigen Rücksicht,
daß für die Wahl von solchen Männern vorgesehen werde, die geeignet sind,
die Nation zu regieren, scheint die Erfahrung ebenfalls zu Gunsten des
Systems parlamentarischer Regierung zu spreche,?. Wenn wir die ganze


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239943"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1957" prev="#ID_1956"> Ansichten in der breiten Masse nicht aufkommen lassen und darum eben, well<lb/>
ihre Klassenexistenz auf den demokratischen Lehrsätzen bericht, eifrigst bemüht<lb/>
sind, dem Volle diese Lehrsätze als die Grundlage aller Freiheit und allen<lb/>
Fortschritts aufs eindringlichste ans Herz zu legen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1958"> Wirthe war endlich auch immer der Hinweis auf England mit seiner<lb/>
seit so langer Zeit wohlbewährten Verfassung. Tausende die wenn auch<lb/>
nicht die klare Erkenntnis so doch das Gefühl hatten, daß die Rousseausche<lb/>
Lehre ein großer Humbug sei. ließen sich zu einem Kompromiß zwischen Ab¬<lb/>
solutismus und Demokratie in der Hoffnung herbei, dadurch zu ewem Zu¬<lb/>
stande zu gelangen, der der vielbeneideten englischen Verfassung ähnlich se..<lb/>
Auch da lag ein Irrtum vor. Die alte englische Verfassung - uur von dieser<lb/>
kann die Rede sein, da die neue schon demokratisiert ist und darum auch schon<lb/>
alle Mängel der Demokratie ausweist - beruhte gar nicht auf der Souveränität<lb/>
des Volks. Das englische Parlament war hervorgegangen aus einer Versamm¬<lb/>
lung mit bestimmten Aufträgen versehener Vertreter ganz bestimmter lokaler<lb/>
Interessengruppen. Die Emanzipation des englischen Parlaments von dem<lb/>
Mandat der Wähler fängt erst im siebzehnten Jahrhundert an und dringt erst<lb/>
im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durch, parallel mit der Demo¬<lb/>
kratisierung der Verfassung, die auch hier den Willen der Wähler zu Gunsten der<lb/>
Souveränität des Parlaments beschneidet. Rousseau kennt nichts abscheulicheres<lb/>
als diese Verfassung (&#x201E;das englische Volk denkt selbst frei, aber es wird schmählich<lb/>
hintergangen"), und Talleyrand beeilte sich, bei der Beratung der Verfassung<lb/>
von 1791 jeden Zweifel daran, daß die Demokratie von dem englischen Self-<lb/>
government durchaus verschieden sei. dadurch zu beseitigen, daß er beantragte,<lb/>
der Abgeordnete dürfe von seinen Wählern keinerlei Instruktionen annehmen,<lb/>
da er nicht einen Teil seiner Mitbürger, sondern die gesamte Nation vertrete^ -<lb/>
Es ist keine besondre Empfehlung für die Schöpfer der festländischen Ver¬<lb/>
fassungen, daß sie fast durchweg diese Formel Talleyrands als teures Vermächtnis<lb/>
übernahmen, es geht jedoch daraus hervor, daß unsre modernen Verfassungen<lb/>
mit der alten englischen im Wesen nichts gemein haben. Aber man legte<lb/>
schließlich daraus nicht viel Gewicht; man wollte in einsichtigen Kreisen nichts<lb/>
von der reinen französischen Demokratie wissen, wohl aber ihre Formen an¬<lb/>
nehmen: Wahlen und Volksvertretung, weil man damit die Mittel gefunden<lb/>
zu haben glaubte, deu politischen Kampf in feste, die innere Ordnung nicht<lb/>
störende Formen zu fassen und so den Fähigsten die Wege zur Teilnahme an<lb/>
der öffentlichen Gewalt zu öffnen. </p><lb/>
          <p xml:id="ID_1959" next="#ID_1960"> ^Mit dieser Erwägung war man dem eigentlichen Kerne des ganzen Problems<lb/>
der politischen Organisation schon näher gekommen; aber man irrte, wenn man<lb/>
glaubte, mit Hilfe der demokratischen Formen zu einer Auslese der besten zu<lb/>
gelangen. Man hat sich vielfach aus das Zeugnis Henry Greys berufe-i, der<lb/>
in seiner Schrift ..Die parlamentarische Regierungsform" über diesen Hunde<lb/>
allerdings folgendes ausführt: In betreff der vor allein wichtigen Rücksicht,<lb/>
daß für die Wahl von solchen Männern vorgesehen werde, die geeignet sind,<lb/>
die Nation zu regieren, scheint die Erfahrung ebenfalls zu Gunsten des<lb/>
Systems parlamentarischer Regierung zu spreche,?.  Wenn wir die ganze</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0387] Ansichten in der breiten Masse nicht aufkommen lassen und darum eben, well ihre Klassenexistenz auf den demokratischen Lehrsätzen bericht, eifrigst bemüht sind, dem Volle diese Lehrsätze als die Grundlage aller Freiheit und allen Fortschritts aufs eindringlichste ans Herz zu legen. Wirthe war endlich auch immer der Hinweis auf England mit seiner seit so langer Zeit wohlbewährten Verfassung. Tausende die wenn auch nicht die klare Erkenntnis so doch das Gefühl hatten, daß die Rousseausche Lehre ein großer Humbug sei. ließen sich zu einem Kompromiß zwischen Ab¬ solutismus und Demokratie in der Hoffnung herbei, dadurch zu ewem Zu¬ stande zu gelangen, der der vielbeneideten englischen Verfassung ähnlich se.. Auch da lag ein Irrtum vor. Die alte englische Verfassung - uur von dieser kann die Rede sein, da die neue schon demokratisiert ist und darum auch schon alle Mängel der Demokratie ausweist - beruhte gar nicht auf der Souveränität des Volks. Das englische Parlament war hervorgegangen aus einer Versamm¬ lung mit bestimmten Aufträgen versehener Vertreter ganz bestimmter lokaler Interessengruppen. Die Emanzipation des englischen Parlaments von dem Mandat der Wähler fängt erst im siebzehnten Jahrhundert an und dringt erst im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durch, parallel mit der Demo¬ kratisierung der Verfassung, die auch hier den Willen der Wähler zu Gunsten der Souveränität des Parlaments beschneidet. Rousseau kennt nichts abscheulicheres als diese Verfassung („das englische Volk denkt selbst frei, aber es wird schmählich hintergangen"), und Talleyrand beeilte sich, bei der Beratung der Verfassung von 1791 jeden Zweifel daran, daß die Demokratie von dem englischen Self- government durchaus verschieden sei. dadurch zu beseitigen, daß er beantragte, der Abgeordnete dürfe von seinen Wählern keinerlei Instruktionen annehmen, da er nicht einen Teil seiner Mitbürger, sondern die gesamte Nation vertrete^ - Es ist keine besondre Empfehlung für die Schöpfer der festländischen Ver¬ fassungen, daß sie fast durchweg diese Formel Talleyrands als teures Vermächtnis übernahmen, es geht jedoch daraus hervor, daß unsre modernen Verfassungen mit der alten englischen im Wesen nichts gemein haben. Aber man legte schließlich daraus nicht viel Gewicht; man wollte in einsichtigen Kreisen nichts von der reinen französischen Demokratie wissen, wohl aber ihre Formen an¬ nehmen: Wahlen und Volksvertretung, weil man damit die Mittel gefunden zu haben glaubte, deu politischen Kampf in feste, die innere Ordnung nicht störende Formen zu fassen und so den Fähigsten die Wege zur Teilnahme an der öffentlichen Gewalt zu öffnen. ^Mit dieser Erwägung war man dem eigentlichen Kerne des ganzen Problems der politischen Organisation schon näher gekommen; aber man irrte, wenn man glaubte, mit Hilfe der demokratischen Formen zu einer Auslese der besten zu gelangen. Man hat sich vielfach aus das Zeugnis Henry Greys berufe-i, der in seiner Schrift ..Die parlamentarische Regierungsform" über diesen Hunde allerdings folgendes ausführt: In betreff der vor allein wichtigen Rücksicht, daß für die Wahl von solchen Männern vorgesehen werde, die geeignet sind, die Nation zu regieren, scheint die Erfahrung ebenfalls zu Gunsten des Systems parlamentarischer Regierung zu spreche,?. Wenn wir die ganze

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/387
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/387>, abgerufen am 28.07.2024.