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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die Kunst des Tanzes

"ut dir einen Brief zu übersenden, dessen Schrift dn wohl mit nnzufrieduem Blick
angesehen haben wirst; doch eine in der Not selbstgeschnittne Feder könnte mich
entschuldigen. Unser Tanzlehrer Jvenson kam schon denselben Abend mit uns an
und eröffnete seine Rede mit der Versicherung, daß der Erfolg seines Unterrichts
alle Erwartungen übertreffen würde; doch er selbst legt die Krücke nicht aus der
Hand, und als Vortänzer hat er seineu Großsohn, John, bei sich. Selbst sitzt er
am Klavier und kommandiert, tadelt, lobt, macht Witze, die von einem Kichern von
feiten der Schüler gefolgt werden, was uns ihm wohl gewogner machen wird. Bis
jetzt haben uus keine Scheltworte das Blut in die Wangen getrieben, sondern wir
sind immer mit Höflichkeit behandelt worden, was wir vermutlich der Gegenwart
unsrer Tante zu verdanken haben. Heute haben wir zum erstenmal eine Route
geschlossen, doch wankten wir noch wie ein Rohr im Winde. Alfons hat am
'"eisten Jvensvns Geduld auf die Probe gestellt durch die krumme Haltung, krampf¬
haftes Zucker in den Händen und Unbeholfenheit; doch unser Meister gibt die
besten Hoffnungen. Wilhelmine und Auguste Bohlfchwing werden gewiß die Palme
davontragen. Von mir selbst, was soll ich sagen? Mich tadeln will ich nicht,
da ich meine Füße nicht betrachten darf, und mich loben kann ich auch nicht
mit gutem Gewissen, dn mein Fuß sich auch zuweilen verirrt, und der Ruf
"Aber, lieber Keyserling!" von Jvensons heiserer Baßstimme mir noch ziemlich er¬
innerlich ist.

Aufstehn muß man bei solchen Strapazen um halb acht, bis halb zehn be¬
schäftige ich mich oben; dann tanzen wir nach eingenommenem Frühstück bis zwölf
Uhr. Nachmittags genießen wir die Natur, was uns das schlechte Wetter wenig
erlaubt, beschäftigen uns wieder oben, um vier Uhr zieht man sich an, trinkt Tee,
tanzt bis sieben Uhr und ißt um halb acht und geht bald schlafen. Den Morgen
"ud den Abend quälen wir uns, uns mit dem Diener auf russisch verständlich zu
machen, was sehr schlecht geht; doch glaube ich, es wird dich freuen."

Wenn ich mit dieser Schilderung aus dem Jahre 1829 das vergleiche, was
ve'lie zwanzig Jahre später meine Erlebnisse bei einem ersten Tanzkursus waren,
lo muß ich mit Beschämung gestehn, daß sie es in den baltischen Provinzen mit
dem Tanzunterricht weit ernster nahmen als wir in der mitteldeutschen Residenz.
Allerdings war ich uoch einige Jahre jünger, als es Keyserling gewesen war. als
er nach Pelzen reiste. Ich war nicht bloß leichtsinnig wie ein unter günstigen
Daseinsbedingungen aufgewachsener Floh, sondern auch von Körperbeschaffenheit leicht
wie ein solcher: Zephyrs Flügel konnten ganz nach Belieben ihr Spiel mit mir
treiben. Ich denke, wir waren etwa achtzehn Jungen, ich unter ihnen einer der
jüngsten, wenn nicht der allerjüngste. Ein sehr gutmütiger alter Herr spielte etwas
auf einer Geige, und wir mußten etwas mit den Armen und den Beinen dazu
machen, was meinen höchsten Beifall hatte, da ich mir vorstellte, es geschehe, um
es den Engeln im Himmel nachzumachen. Wie groß aber war mein Erstaune",
als uus eines schönen Tages anstatt Flügeln patente Kosakenunifvrmen angemessen
wurden, in denen wir einige Wochen später einen Tanz aufführten, der auf dem
Programm als ,.kosakisch" bezeichnet war. Unsre Unifvrmfnrbcn waren himmel¬
blau und ziegelrot: wir hatten sehr schone Faltenstiefeln, hohe Mützen. Tanzsporen
und -- schwarze Schnurrbärte. Das Ballabile bestand aus verschiednen Touren.
bei denen man entweder einzeln oder paarweise zu "arbeiten" hatte. Die schönste
Eiuzeltour bestand in einer Produktion, bei der es darauf ankam, die Beine ab¬
wechselnd so vorzustrecken, daß man dabei beinahe, nicht ganz, auf den Erdboden
Zu sitzen kam, eine Leistung, die dadurch besonders großartig wirkte, daß wir uns
mit verschränkten Armen in die so gefährliche Situation begeben mußten. Unsre
Eltern und deren Freunde waren sämtlich geladen, und ich glaube mich zu erinnern,
daß die Sache vorzüglich ablief. Meinem Wunsch, die Kosakenuniform zu behalten,
lminte nicht stattgegeben werden, weil der mit dem Schneider und dem Schuhmacher


Die Kunst des Tanzes

»ut dir einen Brief zu übersenden, dessen Schrift dn wohl mit nnzufrieduem Blick
angesehen haben wirst; doch eine in der Not selbstgeschnittne Feder könnte mich
entschuldigen. Unser Tanzlehrer Jvenson kam schon denselben Abend mit uns an
und eröffnete seine Rede mit der Versicherung, daß der Erfolg seines Unterrichts
alle Erwartungen übertreffen würde; doch er selbst legt die Krücke nicht aus der
Hand, und als Vortänzer hat er seineu Großsohn, John, bei sich. Selbst sitzt er
am Klavier und kommandiert, tadelt, lobt, macht Witze, die von einem Kichern von
feiten der Schüler gefolgt werden, was uns ihm wohl gewogner machen wird. Bis
jetzt haben uus keine Scheltworte das Blut in die Wangen getrieben, sondern wir
sind immer mit Höflichkeit behandelt worden, was wir vermutlich der Gegenwart
unsrer Tante zu verdanken haben. Heute haben wir zum erstenmal eine Route
geschlossen, doch wankten wir noch wie ein Rohr im Winde. Alfons hat am
'»eisten Jvensvns Geduld auf die Probe gestellt durch die krumme Haltung, krampf¬
haftes Zucker in den Händen und Unbeholfenheit; doch unser Meister gibt die
besten Hoffnungen. Wilhelmine und Auguste Bohlfchwing werden gewiß die Palme
davontragen. Von mir selbst, was soll ich sagen? Mich tadeln will ich nicht,
da ich meine Füße nicht betrachten darf, und mich loben kann ich auch nicht
mit gutem Gewissen, dn mein Fuß sich auch zuweilen verirrt, und der Ruf
»Aber, lieber Keyserling!« von Jvensons heiserer Baßstimme mir noch ziemlich er¬
innerlich ist.

Aufstehn muß man bei solchen Strapazen um halb acht, bis halb zehn be¬
schäftige ich mich oben; dann tanzen wir nach eingenommenem Frühstück bis zwölf
Uhr. Nachmittags genießen wir die Natur, was uns das schlechte Wetter wenig
erlaubt, beschäftigen uns wieder oben, um vier Uhr zieht man sich an, trinkt Tee,
tanzt bis sieben Uhr und ißt um halb acht und geht bald schlafen. Den Morgen
"ud den Abend quälen wir uns, uns mit dem Diener auf russisch verständlich zu
machen, was sehr schlecht geht; doch glaube ich, es wird dich freuen."

Wenn ich mit dieser Schilderung aus dem Jahre 1829 das vergleiche, was
ve'lie zwanzig Jahre später meine Erlebnisse bei einem ersten Tanzkursus waren,
lo muß ich mit Beschämung gestehn, daß sie es in den baltischen Provinzen mit
dem Tanzunterricht weit ernster nahmen als wir in der mitteldeutschen Residenz.
Allerdings war ich uoch einige Jahre jünger, als es Keyserling gewesen war. als
er nach Pelzen reiste. Ich war nicht bloß leichtsinnig wie ein unter günstigen
Daseinsbedingungen aufgewachsener Floh, sondern auch von Körperbeschaffenheit leicht
wie ein solcher: Zephyrs Flügel konnten ganz nach Belieben ihr Spiel mit mir
treiben. Ich denke, wir waren etwa achtzehn Jungen, ich unter ihnen einer der
jüngsten, wenn nicht der allerjüngste. Ein sehr gutmütiger alter Herr spielte etwas
auf einer Geige, und wir mußten etwas mit den Armen und den Beinen dazu
machen, was meinen höchsten Beifall hatte, da ich mir vorstellte, es geschehe, um
es den Engeln im Himmel nachzumachen. Wie groß aber war mein Erstaune»,
als uus eines schönen Tages anstatt Flügeln patente Kosakenunifvrmen angemessen
wurden, in denen wir einige Wochen später einen Tanz aufführten, der auf dem
Programm als ,.kosakisch" bezeichnet war. Unsre Unifvrmfnrbcn waren himmel¬
blau und ziegelrot: wir hatten sehr schone Faltenstiefeln, hohe Mützen. Tanzsporen
und — schwarze Schnurrbärte. Das Ballabile bestand aus verschiednen Touren.
bei denen man entweder einzeln oder paarweise zu „arbeiten" hatte. Die schönste
Eiuzeltour bestand in einer Produktion, bei der es darauf ankam, die Beine ab¬
wechselnd so vorzustrecken, daß man dabei beinahe, nicht ganz, auf den Erdboden
Zu sitzen kam, eine Leistung, die dadurch besonders großartig wirkte, daß wir uns
mit verschränkten Armen in die so gefährliche Situation begeben mußten. Unsre
Eltern und deren Freunde waren sämtlich geladen, und ich glaube mich zu erinnern,
daß die Sache vorzüglich ablief. Meinem Wunsch, die Kosakenuniform zu behalten,
lminte nicht stattgegeben werden, weil der mit dem Schneider und dem Schuhmacher


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[0363] Die Kunst des Tanzes »ut dir einen Brief zu übersenden, dessen Schrift dn wohl mit nnzufrieduem Blick angesehen haben wirst; doch eine in der Not selbstgeschnittne Feder könnte mich entschuldigen. Unser Tanzlehrer Jvenson kam schon denselben Abend mit uns an und eröffnete seine Rede mit der Versicherung, daß der Erfolg seines Unterrichts alle Erwartungen übertreffen würde; doch er selbst legt die Krücke nicht aus der Hand, und als Vortänzer hat er seineu Großsohn, John, bei sich. Selbst sitzt er am Klavier und kommandiert, tadelt, lobt, macht Witze, die von einem Kichern von feiten der Schüler gefolgt werden, was uns ihm wohl gewogner machen wird. Bis jetzt haben uus keine Scheltworte das Blut in die Wangen getrieben, sondern wir sind immer mit Höflichkeit behandelt worden, was wir vermutlich der Gegenwart unsrer Tante zu verdanken haben. Heute haben wir zum erstenmal eine Route geschlossen, doch wankten wir noch wie ein Rohr im Winde. Alfons hat am '»eisten Jvensvns Geduld auf die Probe gestellt durch die krumme Haltung, krampf¬ haftes Zucker in den Händen und Unbeholfenheit; doch unser Meister gibt die besten Hoffnungen. Wilhelmine und Auguste Bohlfchwing werden gewiß die Palme davontragen. Von mir selbst, was soll ich sagen? Mich tadeln will ich nicht, da ich meine Füße nicht betrachten darf, und mich loben kann ich auch nicht mit gutem Gewissen, dn mein Fuß sich auch zuweilen verirrt, und der Ruf »Aber, lieber Keyserling!« von Jvensons heiserer Baßstimme mir noch ziemlich er¬ innerlich ist. Aufstehn muß man bei solchen Strapazen um halb acht, bis halb zehn be¬ schäftige ich mich oben; dann tanzen wir nach eingenommenem Frühstück bis zwölf Uhr. Nachmittags genießen wir die Natur, was uns das schlechte Wetter wenig erlaubt, beschäftigen uns wieder oben, um vier Uhr zieht man sich an, trinkt Tee, tanzt bis sieben Uhr und ißt um halb acht und geht bald schlafen. Den Morgen "ud den Abend quälen wir uns, uns mit dem Diener auf russisch verständlich zu machen, was sehr schlecht geht; doch glaube ich, es wird dich freuen." Wenn ich mit dieser Schilderung aus dem Jahre 1829 das vergleiche, was ve'lie zwanzig Jahre später meine Erlebnisse bei einem ersten Tanzkursus waren, lo muß ich mit Beschämung gestehn, daß sie es in den baltischen Provinzen mit dem Tanzunterricht weit ernster nahmen als wir in der mitteldeutschen Residenz. Allerdings war ich uoch einige Jahre jünger, als es Keyserling gewesen war. als er nach Pelzen reiste. Ich war nicht bloß leichtsinnig wie ein unter günstigen Daseinsbedingungen aufgewachsener Floh, sondern auch von Körperbeschaffenheit leicht wie ein solcher: Zephyrs Flügel konnten ganz nach Belieben ihr Spiel mit mir treiben. Ich denke, wir waren etwa achtzehn Jungen, ich unter ihnen einer der jüngsten, wenn nicht der allerjüngste. Ein sehr gutmütiger alter Herr spielte etwas auf einer Geige, und wir mußten etwas mit den Armen und den Beinen dazu machen, was meinen höchsten Beifall hatte, da ich mir vorstellte, es geschehe, um es den Engeln im Himmel nachzumachen. Wie groß aber war mein Erstaune», als uus eines schönen Tages anstatt Flügeln patente Kosakenunifvrmen angemessen wurden, in denen wir einige Wochen später einen Tanz aufführten, der auf dem Programm als ,.kosakisch" bezeichnet war. Unsre Unifvrmfnrbcn waren himmel¬ blau und ziegelrot: wir hatten sehr schone Faltenstiefeln, hohe Mützen. Tanzsporen und — schwarze Schnurrbärte. Das Ballabile bestand aus verschiednen Touren. bei denen man entweder einzeln oder paarweise zu „arbeiten" hatte. Die schönste Eiuzeltour bestand in einer Produktion, bei der es darauf ankam, die Beine ab¬ wechselnd so vorzustrecken, daß man dabei beinahe, nicht ganz, auf den Erdboden Zu sitzen kam, eine Leistung, die dadurch besonders großartig wirkte, daß wir uns mit verschränkten Armen in die so gefährliche Situation begeben mußten. Unsre Eltern und deren Freunde waren sämtlich geladen, und ich glaube mich zu erinnern, daß die Sache vorzüglich ablief. Meinem Wunsch, die Kosakenuniform zu behalten, lminte nicht stattgegeben werden, weil der mit dem Schneider und dem Schuhmacher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/363>, abgerufen am 24.11.2024.