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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Gobineans Renaissance

dir ein Fehler sein. Das große Gesetz, das die Welt beherrscht, besteht nicht
darin, daß uns gewisse Dinge ein für allemal geboten und andre verboten
wären, sondern es gebietet, zu leben, zu wachsen, was man Tüchtigstes und
Gewaltigstes in sich fühlt zu entfalten, sodaß man jederzeit bestrebt bleibt,
aus seinem Wirkungskreis in einen weitern, höhern überzugehn. Überlaß den
kleinen Geistern, dem gemeinen Volke die Schwachheiten und Bedenklichkeiten.
Für dich gibt es nur ein Ziel, das deiner würdig ist, die Erhöhung des Hauses
Borgia, deine eigue Erhöhung. In diesem Gedanken liegt Kraft genug, deine
Tränen zu trocknen und deinen Unfall als etwas hinzunehmen, das der Ver¬
gangenheit angehört und darum gleichgiltig ist. Ich verlasse dich, Lucrezia
ser verreiste und übergab ihr die Negierung der Kirche während seiner Ab¬
wesenheit^, und bitte, dich als die zu betrachten, die binnen kurzem Herzogin
von Ferrara sein wird, und die in diesem Augenblick für die Völker den Statt¬
halter Gottes vorstellt."

Nicht in der Form der kindlichen Unschuld, sondern nnr in der Form der
Ruchlosigkeit vermag der erwachsne gebildete Mensch Sinnenglück und Seelen¬
frieden in seinem Herzen zu vereinigen, und erst das Christentum hat solche
Ruchlosigkeit möglich gemacht. Den vergeistigter Menschen, der frei vom Ver¬
langen nach Sinnenlust nur der Betrachtung Gottes und dem Dienste der
Nächsten lebt, hatten die Alten als Ideal erstrebt und hatte Jesus verwirk¬
licht. Die Kirche sollte dieses Ideal pflegeu und durch das allgemein ver¬
breitete Streben nach ihm die Menschheit veredeln. Sie tat das in der Weise,
daß sie aus dem, was nur Eigentümlichkeit von wenigen Begnadigten sein
kann, die Berufspflicht und Berufsarbeit, sozusagen das Handwerk eines nach
Hunderttausenden zählenden Standes machte, den Laien aber sagte: Ihr könnt
zwar selig werden, wofern die priesterliche Lossprechung eure UnVollkommenheit
zu ergänzen vermag, aber wollt ihr euer ewiges Heil sicher stellen, so müßt
ihr in den Stand der Religiösen eintreten. Der schreiendste Widerspruch
zwischen solchem Beruf und dem wirklichen Leben seiner Trüger konnte nicht
ausbleiben, und die jahrhundertelange Gewöhnung an diesen Widerspruch als
an etwas Alltägliches, eine Praxis, die das höchste Ideal nur noch Predigt,
um es entweder frech zu verhöhnen oder dadurch aus dem einfältigen Volke
Geld herauszuschlngeu, mußte das Gewissen töten. Gelingt es einmal einem
aufrichtigen Enthusiasten, eine ganze Bevölkerung für das christliche Ideal zu
begeistern, so ist die Begeisterung nur ein kurzer Rausch, dessen politische Wir¬
kungen die Staatsmänner Mühe haben, ein paar Jahre lang aufrecht zu er¬
halten. Sie lassen Savonarola fallen, dessen Gewalt über die Gemüter sie
zur Vertreibung der Medici und zur Wiederaufrichtung der Republik benutzt
hatten, und der Mönch wird verbrannt. Armer Girolamo, seufzt Mcichiavelli
in der Leichenrede, die er ihm ohne Zuhörer im verschlossenen Kämmerlein
hält; "es war das einzig mögliche Ende. Er hatte sich seit seiner frühesten
Jugend ein Dichtwerk von Religion, von Reinheit, Ehrbarkeit, Weisheit, Red¬
lichkeit aufgebaut. Weil er diese schönen und guten Trciumwescn für möglich
hielt, nahm er sie als wirklich an; er sah nicht, daß die Welt desto mehr
davon redet, je weniger sie sie kennt. Armer Girolamo! Weil er selbst rein


Gobineans Renaissance

dir ein Fehler sein. Das große Gesetz, das die Welt beherrscht, besteht nicht
darin, daß uns gewisse Dinge ein für allemal geboten und andre verboten
wären, sondern es gebietet, zu leben, zu wachsen, was man Tüchtigstes und
Gewaltigstes in sich fühlt zu entfalten, sodaß man jederzeit bestrebt bleibt,
aus seinem Wirkungskreis in einen weitern, höhern überzugehn. Überlaß den
kleinen Geistern, dem gemeinen Volke die Schwachheiten und Bedenklichkeiten.
Für dich gibt es nur ein Ziel, das deiner würdig ist, die Erhöhung des Hauses
Borgia, deine eigue Erhöhung. In diesem Gedanken liegt Kraft genug, deine
Tränen zu trocknen und deinen Unfall als etwas hinzunehmen, das der Ver¬
gangenheit angehört und darum gleichgiltig ist. Ich verlasse dich, Lucrezia
ser verreiste und übergab ihr die Negierung der Kirche während seiner Ab¬
wesenheit^, und bitte, dich als die zu betrachten, die binnen kurzem Herzogin
von Ferrara sein wird, und die in diesem Augenblick für die Völker den Statt¬
halter Gottes vorstellt."

Nicht in der Form der kindlichen Unschuld, sondern nnr in der Form der
Ruchlosigkeit vermag der erwachsne gebildete Mensch Sinnenglück und Seelen¬
frieden in seinem Herzen zu vereinigen, und erst das Christentum hat solche
Ruchlosigkeit möglich gemacht. Den vergeistigter Menschen, der frei vom Ver¬
langen nach Sinnenlust nur der Betrachtung Gottes und dem Dienste der
Nächsten lebt, hatten die Alten als Ideal erstrebt und hatte Jesus verwirk¬
licht. Die Kirche sollte dieses Ideal pflegeu und durch das allgemein ver¬
breitete Streben nach ihm die Menschheit veredeln. Sie tat das in der Weise,
daß sie aus dem, was nur Eigentümlichkeit von wenigen Begnadigten sein
kann, die Berufspflicht und Berufsarbeit, sozusagen das Handwerk eines nach
Hunderttausenden zählenden Standes machte, den Laien aber sagte: Ihr könnt
zwar selig werden, wofern die priesterliche Lossprechung eure UnVollkommenheit
zu ergänzen vermag, aber wollt ihr euer ewiges Heil sicher stellen, so müßt
ihr in den Stand der Religiösen eintreten. Der schreiendste Widerspruch
zwischen solchem Beruf und dem wirklichen Leben seiner Trüger konnte nicht
ausbleiben, und die jahrhundertelange Gewöhnung an diesen Widerspruch als
an etwas Alltägliches, eine Praxis, die das höchste Ideal nur noch Predigt,
um es entweder frech zu verhöhnen oder dadurch aus dem einfältigen Volke
Geld herauszuschlngeu, mußte das Gewissen töten. Gelingt es einmal einem
aufrichtigen Enthusiasten, eine ganze Bevölkerung für das christliche Ideal zu
begeistern, so ist die Begeisterung nur ein kurzer Rausch, dessen politische Wir¬
kungen die Staatsmänner Mühe haben, ein paar Jahre lang aufrecht zu er¬
halten. Sie lassen Savonarola fallen, dessen Gewalt über die Gemüter sie
zur Vertreibung der Medici und zur Wiederaufrichtung der Republik benutzt
hatten, und der Mönch wird verbrannt. Armer Girolamo, seufzt Mcichiavelli
in der Leichenrede, die er ihm ohne Zuhörer im verschlossenen Kämmerlein
hält; „es war das einzig mögliche Ende. Er hatte sich seit seiner frühesten
Jugend ein Dichtwerk von Religion, von Reinheit, Ehrbarkeit, Weisheit, Red¬
lichkeit aufgebaut. Weil er diese schönen und guten Trciumwescn für möglich
hielt, nahm er sie als wirklich an; er sah nicht, daß die Welt desto mehr
davon redet, je weniger sie sie kennt. Armer Girolamo! Weil er selbst rein


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[0036] Gobineans Renaissance dir ein Fehler sein. Das große Gesetz, das die Welt beherrscht, besteht nicht darin, daß uns gewisse Dinge ein für allemal geboten und andre verboten wären, sondern es gebietet, zu leben, zu wachsen, was man Tüchtigstes und Gewaltigstes in sich fühlt zu entfalten, sodaß man jederzeit bestrebt bleibt, aus seinem Wirkungskreis in einen weitern, höhern überzugehn. Überlaß den kleinen Geistern, dem gemeinen Volke die Schwachheiten und Bedenklichkeiten. Für dich gibt es nur ein Ziel, das deiner würdig ist, die Erhöhung des Hauses Borgia, deine eigue Erhöhung. In diesem Gedanken liegt Kraft genug, deine Tränen zu trocknen und deinen Unfall als etwas hinzunehmen, das der Ver¬ gangenheit angehört und darum gleichgiltig ist. Ich verlasse dich, Lucrezia ser verreiste und übergab ihr die Negierung der Kirche während seiner Ab¬ wesenheit^, und bitte, dich als die zu betrachten, die binnen kurzem Herzogin von Ferrara sein wird, und die in diesem Augenblick für die Völker den Statt¬ halter Gottes vorstellt." Nicht in der Form der kindlichen Unschuld, sondern nnr in der Form der Ruchlosigkeit vermag der erwachsne gebildete Mensch Sinnenglück und Seelen¬ frieden in seinem Herzen zu vereinigen, und erst das Christentum hat solche Ruchlosigkeit möglich gemacht. Den vergeistigter Menschen, der frei vom Ver¬ langen nach Sinnenlust nur der Betrachtung Gottes und dem Dienste der Nächsten lebt, hatten die Alten als Ideal erstrebt und hatte Jesus verwirk¬ licht. Die Kirche sollte dieses Ideal pflegeu und durch das allgemein ver¬ breitete Streben nach ihm die Menschheit veredeln. Sie tat das in der Weise, daß sie aus dem, was nur Eigentümlichkeit von wenigen Begnadigten sein kann, die Berufspflicht und Berufsarbeit, sozusagen das Handwerk eines nach Hunderttausenden zählenden Standes machte, den Laien aber sagte: Ihr könnt zwar selig werden, wofern die priesterliche Lossprechung eure UnVollkommenheit zu ergänzen vermag, aber wollt ihr euer ewiges Heil sicher stellen, so müßt ihr in den Stand der Religiösen eintreten. Der schreiendste Widerspruch zwischen solchem Beruf und dem wirklichen Leben seiner Trüger konnte nicht ausbleiben, und die jahrhundertelange Gewöhnung an diesen Widerspruch als an etwas Alltägliches, eine Praxis, die das höchste Ideal nur noch Predigt, um es entweder frech zu verhöhnen oder dadurch aus dem einfältigen Volke Geld herauszuschlngeu, mußte das Gewissen töten. Gelingt es einmal einem aufrichtigen Enthusiasten, eine ganze Bevölkerung für das christliche Ideal zu begeistern, so ist die Begeisterung nur ein kurzer Rausch, dessen politische Wir¬ kungen die Staatsmänner Mühe haben, ein paar Jahre lang aufrecht zu er¬ halten. Sie lassen Savonarola fallen, dessen Gewalt über die Gemüter sie zur Vertreibung der Medici und zur Wiederaufrichtung der Republik benutzt hatten, und der Mönch wird verbrannt. Armer Girolamo, seufzt Mcichiavelli in der Leichenrede, die er ihm ohne Zuhörer im verschlossenen Kämmerlein hält; „es war das einzig mögliche Ende. Er hatte sich seit seiner frühesten Jugend ein Dichtwerk von Religion, von Reinheit, Ehrbarkeit, Weisheit, Red¬ lichkeit aufgebaut. Weil er diese schönen und guten Trciumwescn für möglich hielt, nahm er sie als wirklich an; er sah nicht, daß die Welt desto mehr davon redet, je weniger sie sie kennt. Armer Girolamo! Weil er selbst rein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/36>, abgerufen am 24.11.2024.