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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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kaiserlicher Freund wollte über das Balkangebiet hinaus nichts gewähren.
Baron von Müueval erzählt, daß er eines Tages Napoleon habe ausrufen
hören, wobei dieser den Finger auf eine Karte der Türkei gelegt habe: "Kon¬
stantinopel! Niemals! Das wäre die Weltherrschaft!"

"Wenn Rußland, sagte Thiers im Jahre 1849, einen Fuß auf die
Dardanellen und den andern ans den Sund gesetzt hat, dann wird die Alte
Welt der Sklaverei anheimfallen, und die Freiheit wird nach Amerika aus¬
wandern."

Die Furcht, diese Katastrophe hereinbrechen zu sehen, wurde vor nicht
langer Zeit durch Herrn Barthelemy Saint-Hilaire in folgenden Worten aus¬
gedrückt: "Die Zaren halten ihre Augen fortwährend auf Konstantinopel ge¬
richtet. Rußland dehnt sich von Finnland bis an die Beringstraße, von Ar¬
changel bis nach Beludschistan ans. Es bedroht Afghanistan, und wenn es
jemals Konstantinopel hat, dann wird es über hundertundfunfzig Millionen
Seelen herrschen. Es wird Kleinasien, Syrien und Palästina bekommen; schon
jetzt ist es fast Herr über Persien und wird alsdann eine furchtbare Bedrohung
für die zivilisierte Welt sein, die seiner Oberherrschaft wird widerstehn müssen.
Wenn es sich mit Frankreich verbündet, so geschieht das nur, weil es davon
träumt, mit dessen Hilfe Konstantinopel zu erobern. Gehn Frankreich und
Rußland aus einem zukünftigen Kriege als Sieger hervor, dann bekommt
Frankreich freilich die Nheingrenze, aber Europa wird besiegt sein, und Ru߬
land, das dann in Se. Petersburg und in Konstantinopel sitzt, wird mit hundert-
undfunfzig Millionen Menschen die Weltherrschaft haben."

Bei dem Lebensinteresse, das Europa daran hat, diese Gefahr zu be¬
schwören, begreift man, daß die westlichen Großmächte jedesmal zum Schutze
der Türkei herbeigeeilt sind, wenn deren Existenz durch die Erfolge der russischen
Waffen bedroht war.

Dasselbe Interesse hatte Frankreich und Deutschland veranlaßt, dem
Sultan Offiziere zur Verfügung zu stellen, um ihm zu helfen, seine Armee
nach dem Kriege von 1877/78 umzugestalten, einem Kriege, der die Fehler
dieses Heeres und die Ursachen seiner Schwäche festgestellt hatte. Der General
.Kühler, Chef der ersten deutschen Abordnung, legte dem Sultan im Jahre 1882
Pläne vor, die die von der Kommission für militärische Reorganisation unter
dem Vorsitz Ghasi Muktar-Paschas ausgearbeiteten von Grund aus umfließen.
Er starb, bevor es ihm geglückt war, ihre Annahme durchzusetzen. Sein Nach¬
folger war Baron von der Goltz, einer der ausgezeichnetsten Offiziere Deutsch¬
lands und gegenwärtig kommandierender General des ersten Armeekorps.
Dieser zeigte mehr Entgegenkommen für die Anschauungen der türkischen Re¬
gierung und der türkischen Generale, indem er eine Gestaltung des Heeres
vorschlug, die so viel wie möglich auf die bestehende Organisation Rück¬
sicht nahm.

Der Sultan betraute ihn mit dem Amte des Unterchefs des Generalstabs
und dem des Inspekteurs der militärischen Anstalten. In dieser Eigenschaft
legte er einen von der Kommission der militärischen Umgestaltung angenommenen
zusammenhängenden Entwurf von Maßnahme,: vor, die den Erfolg hatten, die


kaiserlicher Freund wollte über das Balkangebiet hinaus nichts gewähren.
Baron von Müueval erzählt, daß er eines Tages Napoleon habe ausrufen
hören, wobei dieser den Finger auf eine Karte der Türkei gelegt habe: „Kon¬
stantinopel! Niemals! Das wäre die Weltherrschaft!"

„Wenn Rußland, sagte Thiers im Jahre 1849, einen Fuß auf die
Dardanellen und den andern ans den Sund gesetzt hat, dann wird die Alte
Welt der Sklaverei anheimfallen, und die Freiheit wird nach Amerika aus¬
wandern."

Die Furcht, diese Katastrophe hereinbrechen zu sehen, wurde vor nicht
langer Zeit durch Herrn Barthelemy Saint-Hilaire in folgenden Worten aus¬
gedrückt: „Die Zaren halten ihre Augen fortwährend auf Konstantinopel ge¬
richtet. Rußland dehnt sich von Finnland bis an die Beringstraße, von Ar¬
changel bis nach Beludschistan ans. Es bedroht Afghanistan, und wenn es
jemals Konstantinopel hat, dann wird es über hundertundfunfzig Millionen
Seelen herrschen. Es wird Kleinasien, Syrien und Palästina bekommen; schon
jetzt ist es fast Herr über Persien und wird alsdann eine furchtbare Bedrohung
für die zivilisierte Welt sein, die seiner Oberherrschaft wird widerstehn müssen.
Wenn es sich mit Frankreich verbündet, so geschieht das nur, weil es davon
träumt, mit dessen Hilfe Konstantinopel zu erobern. Gehn Frankreich und
Rußland aus einem zukünftigen Kriege als Sieger hervor, dann bekommt
Frankreich freilich die Nheingrenze, aber Europa wird besiegt sein, und Ru߬
land, das dann in Se. Petersburg und in Konstantinopel sitzt, wird mit hundert-
undfunfzig Millionen Menschen die Weltherrschaft haben."

Bei dem Lebensinteresse, das Europa daran hat, diese Gefahr zu be¬
schwören, begreift man, daß die westlichen Großmächte jedesmal zum Schutze
der Türkei herbeigeeilt sind, wenn deren Existenz durch die Erfolge der russischen
Waffen bedroht war.

Dasselbe Interesse hatte Frankreich und Deutschland veranlaßt, dem
Sultan Offiziere zur Verfügung zu stellen, um ihm zu helfen, seine Armee
nach dem Kriege von 1877/78 umzugestalten, einem Kriege, der die Fehler
dieses Heeres und die Ursachen seiner Schwäche festgestellt hatte. Der General
.Kühler, Chef der ersten deutschen Abordnung, legte dem Sultan im Jahre 1882
Pläne vor, die die von der Kommission für militärische Reorganisation unter
dem Vorsitz Ghasi Muktar-Paschas ausgearbeiteten von Grund aus umfließen.
Er starb, bevor es ihm geglückt war, ihre Annahme durchzusetzen. Sein Nach¬
folger war Baron von der Goltz, einer der ausgezeichnetsten Offiziere Deutsch¬
lands und gegenwärtig kommandierender General des ersten Armeekorps.
Dieser zeigte mehr Entgegenkommen für die Anschauungen der türkischen Re¬
gierung und der türkischen Generale, indem er eine Gestaltung des Heeres
vorschlug, die so viel wie möglich auf die bestehende Organisation Rück¬
sicht nahm.

Der Sultan betraute ihn mit dem Amte des Unterchefs des Generalstabs
und dem des Inspekteurs der militärischen Anstalten. In dieser Eigenschaft
legte er einen von der Kommission der militärischen Umgestaltung angenommenen
zusammenhängenden Entwurf von Maßnahme,: vor, die den Erfolg hatten, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/318>, abgerufen am 01.09.2024.