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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Nordafrikanische Streifzügo

saftig grüne liebliche Matten, in enge Nebentäler gebettet, taten sich
über dein Fluß ans, und weidende Viehherden, schwarz und schwarzgrau, ver¬
vollständigten dann die Filla morgana einer Schweizerlandschaft, In den
Wäldern sollen Panther und Wildschweine Hausen; wir sahen auch einen mäch¬
tigen, frisch geschossnen Eber an der Straße liegen. Die Straße hatte vor kurzem
unter einem Wolkenbruch ganz bedeutend gelitten, so gut sie sonst auch in diesem
untern Tal gehalten zu sein schien. Und just an solchen Stellen, wo rechts
Felswände jäh emporschössen, links sich tiefe Abstürze zum Fluß hinab öffneten,
war nur zu häufig der Straßenkörper fast zur Hälfte weggerissen, und der
Nest zeigte so viel Sprünge und Nisse, daß es mich heute uoch wundert,
wie wir mit unserm schweren Karren und dem doppelten Viergespann unversehrt
darüber weg kamen. Wären die geplagten Pferde in der Verzweiflung über
die nicht endende Galvppiererei und Knallerei nach Art der Menschen rach¬
süchtig gewesen, sie hätten alles weitere mit einem einzigen Schritt nach links
erledigen können: der ganze Nasselkasten samt Kutscher und Gästen hätte zer¬
schmettert in der Tiefe gelegen. Doch das Tier ist ja unbewußt edler als der
Mensch. Mit angehaltnem Atem, aber in sausendem Tempo passierten wir die
gefährlichen Stelle", die sich oft auf vierzig bis fünfzig Meter erstreckten; dabei
konnte"? wir uns an der wunderbaren Flora ergötzen, die uns auf allen Seiten
mit zauberhaften Blumen und Blüten lockte. Aus den Felsspalten drängten
sich ins riesenhafte gewachsene ^utirruinmu torwosum und kräftige OrolÜL
siQUÄÄolig. empor, deren prächtige rote und roseufarbige Blüten uus anmutig
zu Häupten schaukelten. Eichen, Ölbäume, Ulmen, ?raxmu8 austrslis, ?oxu1us
no6Ä, Feigenbäume, grell blühender Oleander -- dein Pflcmzenfreund und (was
ich leider nicht war) dem Pflanzenkenner mußte in solcher Waldespracht das
Herz aufgehn. Auf eiuer der Ausspannungen, die zehn bis zwölf Kilometer
auseinander liegen und meist ein gutes Glas Wein bieten, warf uns ein tief-
brauues Kabylenkind Orangenblüten herauf auf unsern hohen Wagensitz -- als
letzten Gruß offenbar von den Orangenhainen Bougies. Denn jetzt -- wir
waren 52 Kilometer von Bougie entfernt -- begann die Schlucht des Todes.

An die Stelle der Berge traten Felstürme und senkrechte himmelhohe
Wände, zwischen denen sich unsre Straße in den unvermutetsten Windungen
und in verschiednen Tunnels durchhelfen mußte. In Fels gehauen lasen wir
die Worte: ?ont8 et oug>u88ö<Z8 Lötik OKadöt si ^.Klrirg, travMx 6x6vues8 as
1863 5. 1870. Eine für dieses Meisterwerk der Straßenbnutnnst überraschend
einfache und bei den pathetischen Franzosen doppelt verwunderliche Gedächtnis¬
inschrift! Nicht einmal der Erbauer, Dueos, war genannt! Kein Lobpreis
der bsllö Kranes oder des Hauses Napoleon! Muß man sich hierher in diese
Wildnis Afrikas verirren, wenn man sich von dem Byzantinismus, der sonst
diese moderne Welt regiert, zeitweise erholen will? Oder sollte vielleicht diese
schicksalsschwere Zahl 1870 die Lösung des Geheimnisses, das in dieser mindestens
auffallenden französischen Bescheidenheit und Kürze liegt, in sich bergen?

Die Straße durchbricht das Felsenlabyrinth auf eine Strecke von 6200
Metern, und diese Strecke ist die eigentliche "Todcsschlucht" oder "Agonie¬
schlucht"; in diesen Namen setzt nun wieder das französisch-orientalische Pathos


Nordafrikanische Streifzügo

saftig grüne liebliche Matten, in enge Nebentäler gebettet, taten sich
über dein Fluß ans, und weidende Viehherden, schwarz und schwarzgrau, ver¬
vollständigten dann die Filla morgana einer Schweizerlandschaft, In den
Wäldern sollen Panther und Wildschweine Hausen; wir sahen auch einen mäch¬
tigen, frisch geschossnen Eber an der Straße liegen. Die Straße hatte vor kurzem
unter einem Wolkenbruch ganz bedeutend gelitten, so gut sie sonst auch in diesem
untern Tal gehalten zu sein schien. Und just an solchen Stellen, wo rechts
Felswände jäh emporschössen, links sich tiefe Abstürze zum Fluß hinab öffneten,
war nur zu häufig der Straßenkörper fast zur Hälfte weggerissen, und der
Nest zeigte so viel Sprünge und Nisse, daß es mich heute uoch wundert,
wie wir mit unserm schweren Karren und dem doppelten Viergespann unversehrt
darüber weg kamen. Wären die geplagten Pferde in der Verzweiflung über
die nicht endende Galvppiererei und Knallerei nach Art der Menschen rach¬
süchtig gewesen, sie hätten alles weitere mit einem einzigen Schritt nach links
erledigen können: der ganze Nasselkasten samt Kutscher und Gästen hätte zer¬
schmettert in der Tiefe gelegen. Doch das Tier ist ja unbewußt edler als der
Mensch. Mit angehaltnem Atem, aber in sausendem Tempo passierten wir die
gefährlichen Stelle», die sich oft auf vierzig bis fünfzig Meter erstreckten; dabei
konnte»? wir uns an der wunderbaren Flora ergötzen, die uns auf allen Seiten
mit zauberhaften Blumen und Blüten lockte. Aus den Felsspalten drängten
sich ins riesenhafte gewachsene ^utirruinmu torwosum und kräftige OrolÜL
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zu Häupten schaukelten. Eichen, Ölbäume, Ulmen, ?raxmu8 austrslis, ?oxu1us
no6Ä, Feigenbäume, grell blühender Oleander — dein Pflcmzenfreund und (was
ich leider nicht war) dem Pflanzenkenner mußte in solcher Waldespracht das
Herz aufgehn. Auf eiuer der Ausspannungen, die zehn bis zwölf Kilometer
auseinander liegen und meist ein gutes Glas Wein bieten, warf uns ein tief-
brauues Kabylenkind Orangenblüten herauf auf unsern hohen Wagensitz — als
letzten Gruß offenbar von den Orangenhainen Bougies. Denn jetzt — wir
waren 52 Kilometer von Bougie entfernt — begann die Schlucht des Todes.

An die Stelle der Berge traten Felstürme und senkrechte himmelhohe
Wände, zwischen denen sich unsre Straße in den unvermutetsten Windungen
und in verschiednen Tunnels durchhelfen mußte. In Fels gehauen lasen wir
die Worte: ?ont8 et oug>u88ö<Z8 Lötik OKadöt si ^.Klrirg, travMx 6x6vues8 as
1863 5. 1870. Eine für dieses Meisterwerk der Straßenbnutnnst überraschend
einfache und bei den pathetischen Franzosen doppelt verwunderliche Gedächtnis¬
inschrift! Nicht einmal der Erbauer, Dueos, war genannt! Kein Lobpreis
der bsllö Kranes oder des Hauses Napoleon! Muß man sich hierher in diese
Wildnis Afrikas verirren, wenn man sich von dem Byzantinismus, der sonst
diese moderne Welt regiert, zeitweise erholen will? Oder sollte vielleicht diese
schicksalsschwere Zahl 1870 die Lösung des Geheimnisses, das in dieser mindestens
auffallenden französischen Bescheidenheit und Kürze liegt, in sich bergen?

Die Straße durchbricht das Felsenlabyrinth auf eine Strecke von 6200
Metern, und diese Strecke ist die eigentliche „Todcsschlucht" oder „Agonie¬
schlucht"; in diesen Namen setzt nun wieder das französisch-orientalische Pathos


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[0296] Nordafrikanische Streifzügo saftig grüne liebliche Matten, in enge Nebentäler gebettet, taten sich über dein Fluß ans, und weidende Viehherden, schwarz und schwarzgrau, ver¬ vollständigten dann die Filla morgana einer Schweizerlandschaft, In den Wäldern sollen Panther und Wildschweine Hausen; wir sahen auch einen mäch¬ tigen, frisch geschossnen Eber an der Straße liegen. Die Straße hatte vor kurzem unter einem Wolkenbruch ganz bedeutend gelitten, so gut sie sonst auch in diesem untern Tal gehalten zu sein schien. Und just an solchen Stellen, wo rechts Felswände jäh emporschössen, links sich tiefe Abstürze zum Fluß hinab öffneten, war nur zu häufig der Straßenkörper fast zur Hälfte weggerissen, und der Nest zeigte so viel Sprünge und Nisse, daß es mich heute uoch wundert, wie wir mit unserm schweren Karren und dem doppelten Viergespann unversehrt darüber weg kamen. Wären die geplagten Pferde in der Verzweiflung über die nicht endende Galvppiererei und Knallerei nach Art der Menschen rach¬ süchtig gewesen, sie hätten alles weitere mit einem einzigen Schritt nach links erledigen können: der ganze Nasselkasten samt Kutscher und Gästen hätte zer¬ schmettert in der Tiefe gelegen. Doch das Tier ist ja unbewußt edler als der Mensch. Mit angehaltnem Atem, aber in sausendem Tempo passierten wir die gefährlichen Stelle», die sich oft auf vierzig bis fünfzig Meter erstreckten; dabei konnte»? wir uns an der wunderbaren Flora ergötzen, die uns auf allen Seiten mit zauberhaften Blumen und Blüten lockte. Aus den Felsspalten drängten sich ins riesenhafte gewachsene ^utirruinmu torwosum und kräftige OrolÜL siQUÄÄolig. empor, deren prächtige rote und roseufarbige Blüten uus anmutig zu Häupten schaukelten. Eichen, Ölbäume, Ulmen, ?raxmu8 austrslis, ?oxu1us no6Ä, Feigenbäume, grell blühender Oleander — dein Pflcmzenfreund und (was ich leider nicht war) dem Pflanzenkenner mußte in solcher Waldespracht das Herz aufgehn. Auf eiuer der Ausspannungen, die zehn bis zwölf Kilometer auseinander liegen und meist ein gutes Glas Wein bieten, warf uns ein tief- brauues Kabylenkind Orangenblüten herauf auf unsern hohen Wagensitz — als letzten Gruß offenbar von den Orangenhainen Bougies. Denn jetzt — wir waren 52 Kilometer von Bougie entfernt — begann die Schlucht des Todes. An die Stelle der Berge traten Felstürme und senkrechte himmelhohe Wände, zwischen denen sich unsre Straße in den unvermutetsten Windungen und in verschiednen Tunnels durchhelfen mußte. In Fels gehauen lasen wir die Worte: ?ont8 et oug>u88ö<Z8 Lötik OKadöt si ^.Klrirg, travMx 6x6vues8 as 1863 5. 1870. Eine für dieses Meisterwerk der Straßenbnutnnst überraschend einfache und bei den pathetischen Franzosen doppelt verwunderliche Gedächtnis¬ inschrift! Nicht einmal der Erbauer, Dueos, war genannt! Kein Lobpreis der bsllö Kranes oder des Hauses Napoleon! Muß man sich hierher in diese Wildnis Afrikas verirren, wenn man sich von dem Byzantinismus, der sonst diese moderne Welt regiert, zeitweise erholen will? Oder sollte vielleicht diese schicksalsschwere Zahl 1870 die Lösung des Geheimnisses, das in dieser mindestens auffallenden französischen Bescheidenheit und Kürze liegt, in sich bergen? Die Straße durchbricht das Felsenlabyrinth auf eine Strecke von 6200 Metern, und diese Strecke ist die eigentliche „Todcsschlucht" oder „Agonie¬ schlucht"; in diesen Namen setzt nun wieder das französisch-orientalische Pathos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/296>, abgerufen am 24.11.2024.