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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Ravenna

or zweiundzwanzig Jahren hat mich auf meiner ersten Fahrt nach
Italien der Weg in das östliche Oberitalien durch das Ampezzotal
hinabgeführt. Als Studenten sind wir, mein Neisekamerad und ich,
damals deu ganzen Weg von Toblach bis Vittorio zu Fuß ge¬
wandert; ihn kürzte noch nicht die Bahn ab, die inzwischen bis
Belluno geführt worden ist. In Pieve ti Cadore, dem Geburtsorte Tizians,
hielten wir Rast, und die Berge seiner Heimat sahen wir dann in der kraft¬
vollen Darstellung des Landschaftlichen auf seinen Gemälden wieder; in Serrci-
valle, diesem Schmuckkästlein venetianischer Baukunst, hatten wir eine Vor-
empfindung von der Architektur Venedigs, dieser herrlichsten aller italienischen
Städte, von der man nicht glauben kann, daß sie dem Untergange geweiht
sein soll.

Damals in der Genußfreudigkeit der Jugend erschien mir diese Eintritts¬
route in das östliche Oberitalien als die schönste; aber sie steht, was die
Großartigkeit der Gebirgslandschaft betrifft, hinter dem Wege von Bozen durch
das Eggental über Karersee, dann über den Nollepaß nach San Martins ti
Castrozza und von da über Primör nach Feltre bedeutend zurück. Bis San
Martino sieht man auf diesem Wege die Gebirgsszenerie gewaltig steigen: die
wundervolle Lage des Karerseehotels zwischen Latemar und Rosengarten, der
Blick von dem Karerpaß auf die Fassaner Dolomiten, die Fahrt durch den
mächtigen Forst von Paneveggio hinauf zum Nollepaß mit seinem großen
Schaustück, meines Erachtens dem schönsten im Gebiete der Dolomiten, dein
grandiosen Abstürze des im Lichte der Abendsonne fast überirdisch leuchtenden
Cimone della Pala, der branngolden, ähnlich der Form des Matterhorns, zum
Passe abfällt. Sein Bild verschiebt sich zwar gegen San Martino zu, aber
es tauchen nun die andern Niesen der Palagrupve bis zum Saß Maor mit
ihren phantastischen Formen und ihren gewaltigen Abstürzen auf. Gegen Süden
schließen das Bild die sanfter geschwungnen Berge von Feltre ub und künden
gegen die rauhe gewaltige Gebirgsnatur die Harmonie des Südens, in den
hinab über Primör nach Feltre, dieser kleinen Landstadt mit Erinnerungen an
die venetianische Baukunst, ein entzückender Weg führt. Noch einmal rafft sich
die Gebirgsuatur im Val Schenero zu einem Talschlnß zusammen, und dann
gibt sie dem Reisenden das flache Land frei. Von Feltre führt dann über
Treviso die Bahn nach Venedig, und wer einen halben Tag Zeit hat, mag
eine Seitentour nach Castelfraneo machen und sich dort an Giorgiones Meister¬
werk, der thronenden Madonna, erfreuen.

Diesen Eiutrittsweg hatte ich genommen, als ich einen längst gefaßten
Plan ausführen und Ravenna besuchen wollte. Ravenna liegt in Italien




Ravenna

or zweiundzwanzig Jahren hat mich auf meiner ersten Fahrt nach
Italien der Weg in das östliche Oberitalien durch das Ampezzotal
hinabgeführt. Als Studenten sind wir, mein Neisekamerad und ich,
damals deu ganzen Weg von Toblach bis Vittorio zu Fuß ge¬
wandert; ihn kürzte noch nicht die Bahn ab, die inzwischen bis
Belluno geführt worden ist. In Pieve ti Cadore, dem Geburtsorte Tizians,
hielten wir Rast, und die Berge seiner Heimat sahen wir dann in der kraft¬
vollen Darstellung des Landschaftlichen auf seinen Gemälden wieder; in Serrci-
valle, diesem Schmuckkästlein venetianischer Baukunst, hatten wir eine Vor-
empfindung von der Architektur Venedigs, dieser herrlichsten aller italienischen
Städte, von der man nicht glauben kann, daß sie dem Untergange geweiht
sein soll.

Damals in der Genußfreudigkeit der Jugend erschien mir diese Eintritts¬
route in das östliche Oberitalien als die schönste; aber sie steht, was die
Großartigkeit der Gebirgslandschaft betrifft, hinter dem Wege von Bozen durch
das Eggental über Karersee, dann über den Nollepaß nach San Martins ti
Castrozza und von da über Primör nach Feltre bedeutend zurück. Bis San
Martino sieht man auf diesem Wege die Gebirgsszenerie gewaltig steigen: die
wundervolle Lage des Karerseehotels zwischen Latemar und Rosengarten, der
Blick von dem Karerpaß auf die Fassaner Dolomiten, die Fahrt durch den
mächtigen Forst von Paneveggio hinauf zum Nollepaß mit seinem großen
Schaustück, meines Erachtens dem schönsten im Gebiete der Dolomiten, dein
grandiosen Abstürze des im Lichte der Abendsonne fast überirdisch leuchtenden
Cimone della Pala, der branngolden, ähnlich der Form des Matterhorns, zum
Passe abfällt. Sein Bild verschiebt sich zwar gegen San Martino zu, aber
es tauchen nun die andern Niesen der Palagrupve bis zum Saß Maor mit
ihren phantastischen Formen und ihren gewaltigen Abstürzen auf. Gegen Süden
schließen das Bild die sanfter geschwungnen Berge von Feltre ub und künden
gegen die rauhe gewaltige Gebirgsnatur die Harmonie des Südens, in den
hinab über Primör nach Feltre, dieser kleinen Landstadt mit Erinnerungen an
die venetianische Baukunst, ein entzückender Weg führt. Noch einmal rafft sich
die Gebirgsuatur im Val Schenero zu einem Talschlnß zusammen, und dann
gibt sie dem Reisenden das flache Land frei. Von Feltre führt dann über
Treviso die Bahn nach Venedig, und wer einen halben Tag Zeit hat, mag
eine Seitentour nach Castelfraneo machen und sich dort an Giorgiones Meister¬
werk, der thronenden Madonna, erfreuen.

Diesen Eiutrittsweg hatte ich genommen, als ich einen längst gefaßten
Plan ausführen und Ravenna besuchen wollte. Ravenna liegt in Italien


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[0230] [Abbildung] Ravenna or zweiundzwanzig Jahren hat mich auf meiner ersten Fahrt nach Italien der Weg in das östliche Oberitalien durch das Ampezzotal hinabgeführt. Als Studenten sind wir, mein Neisekamerad und ich, damals deu ganzen Weg von Toblach bis Vittorio zu Fuß ge¬ wandert; ihn kürzte noch nicht die Bahn ab, die inzwischen bis Belluno geführt worden ist. In Pieve ti Cadore, dem Geburtsorte Tizians, hielten wir Rast, und die Berge seiner Heimat sahen wir dann in der kraft¬ vollen Darstellung des Landschaftlichen auf seinen Gemälden wieder; in Serrci- valle, diesem Schmuckkästlein venetianischer Baukunst, hatten wir eine Vor- empfindung von der Architektur Venedigs, dieser herrlichsten aller italienischen Städte, von der man nicht glauben kann, daß sie dem Untergange geweiht sein soll. Damals in der Genußfreudigkeit der Jugend erschien mir diese Eintritts¬ route in das östliche Oberitalien als die schönste; aber sie steht, was die Großartigkeit der Gebirgslandschaft betrifft, hinter dem Wege von Bozen durch das Eggental über Karersee, dann über den Nollepaß nach San Martins ti Castrozza und von da über Primör nach Feltre bedeutend zurück. Bis San Martino sieht man auf diesem Wege die Gebirgsszenerie gewaltig steigen: die wundervolle Lage des Karerseehotels zwischen Latemar und Rosengarten, der Blick von dem Karerpaß auf die Fassaner Dolomiten, die Fahrt durch den mächtigen Forst von Paneveggio hinauf zum Nollepaß mit seinem großen Schaustück, meines Erachtens dem schönsten im Gebiete der Dolomiten, dein grandiosen Abstürze des im Lichte der Abendsonne fast überirdisch leuchtenden Cimone della Pala, der branngolden, ähnlich der Form des Matterhorns, zum Passe abfällt. Sein Bild verschiebt sich zwar gegen San Martino zu, aber es tauchen nun die andern Niesen der Palagrupve bis zum Saß Maor mit ihren phantastischen Formen und ihren gewaltigen Abstürzen auf. Gegen Süden schließen das Bild die sanfter geschwungnen Berge von Feltre ub und künden gegen die rauhe gewaltige Gebirgsnatur die Harmonie des Südens, in den hinab über Primör nach Feltre, dieser kleinen Landstadt mit Erinnerungen an die venetianische Baukunst, ein entzückender Weg führt. Noch einmal rafft sich die Gebirgsuatur im Val Schenero zu einem Talschlnß zusammen, und dann gibt sie dem Reisenden das flache Land frei. Von Feltre führt dann über Treviso die Bahn nach Venedig, und wer einen halben Tag Zeit hat, mag eine Seitentour nach Castelfraneo machen und sich dort an Giorgiones Meister¬ werk, der thronenden Madonna, erfreuen. Diesen Eiutrittsweg hatte ich genommen, als ich einen längst gefaßten Plan ausführen und Ravenna besuchen wollte. Ravenna liegt in Italien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/230>, abgerufen am 24.11.2024.