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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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sechs Personen berechnete Tafel brach fast unter Tellern und Schalen mit allem
möglichen Imbiß von Kaviar und mariniertem Salm und holländischem Hering in
Senfsauce, von Schweizerkäse und Schinken und aufgeschnittenen Leberwurstscheibchen.
Und dabei gab es zu meinem Erstaunen nur zwei Gedecke einander gegenüber.

Setzen Sie sich, Alexander Andrejewitsch, Seien Sie zu Hause. Was Ihnen
schmeckt, davon essen Sie. Was Ihnen nicht schmeckt, darüber zürnen Sie nicht.

Speisen wir beide allein, Wassili?

Er nickte zustimmend und kaute schon mit beiden Backen. Doch plötzlich hob
er den Kops und sah mich all.

Wünschen Sie, fragte er, nachdem er den Bissen hastig verschluckt hatte, daß
ich uoch nach jemand schicke? Sagen Sie nnr ein Wort. Es läßt sich im Augen¬
blick einrichten.

Nein, ich meine -- Ihre Familie --

Er starrte mich an, als ob ihm ein Gespenst erschiene.

Bei allen vierzehntausend in Bethlehem unschuldig Ermordeten! rief er dann
lachend. Alexander Andrejewitsch! Woher soll der rote Waska, der von Geburt
an so allein dasteht, daß er nicht einmal mit einer Katze oder einem Hunde ver¬
wandt ist, zik einer Familie kommen?

Entschuldigen Sie, aber ich glaubte, Sie wären verheiratet.

Er drückte wieder Pfiffig die Augen zusammen.

Wcirnm glaubten Sie das? fragte er kauend.

Aufrichtig, Wassili, ich vermutete, Sie hätten eine reiche Partie gemacht. Das
Hans -- die ganze Einrichtung --

Er nickte und kaute.

Alexander Andrejewitsch, sagte er nach einer Pause sehr ernst, ich will von
meinen Ansichten über reiche Partien nicht reden. Ich räume jedem das Recht
ein, darüber seine selbständige Meinung zu hegen. Ich habe bis jetzt nicht einmal
an das Heiraten gedacht, weil -- ich keine Zeit dazu gefunden habe. -- Das kommt
Ihnen drollig vor, fuhr er fort, indem er mir einige der entfernter stehenden Teller
zuschob, aber es ist buchstäblich so. Ich habe, so lange ich denken kann, nichts getan
als gearbeitet und nie zu etwas anderm Zeit gehabt. Als wir beide die Schule
besuchten, mußte ich zu Hause Diener, Lausbursche und Küchenjunge sein. Die
Lehrer hielten mich für faul, lind Sie, Alexander Andrejewitsch, haben es Wohl
auch getan. Ich war nicht faul. Ich fand nicht die Zeit zum Lernen. Kam es
aber vor, daß ich die aufgegebne Lektion gut verstand, so hatte ich mich auf Kosten
meines Schlafes in der Nacht vorbereitet. Trotzdem, daß ich das Gnadenbrod, das
mir der -- um, Gott habe ihn selig! er ist schon lange tot --, also ich wollte
sagen, ich verdiente ehrlich das Brot, das ich aß, und doch tat ich immer nicht
genng und mußte die Schule verlassen, weil niemand mehr für mich sorgen wollte.
Ich blieb mit Freude weg, denn was hatte ich aushalten müssen! Ich habe nie
geklagt, aber umsomehr im stillen geweint. Von allen war ich immer über die
Achsel angesehen worden, weil ich arm, weil ich ärmer als ein Bettler war -- na, es
wäre unnütz, darüber zu reden. Zwei Menschen haben mich damals nicht ver¬
achtet, es mich wenigstens nicht fühlen lassen. Der eine waren Sie, Andrejewitsch.
Ich habe darum täglich oder stündlich an Sie gedacht. Ich habe mich bei jeder
passenden und jeder unpassenden Gelegenheit Ihrer erinnert. Ich habe alljährlich
Ihren Namenstag gefeiert. Sie können sich denken, welche Freude mich heute ergriff,
als ich Sie in das Gerichtszimmer treten sah. Ich erkannte Sie auf den ersten Blick,
aber ich wollte nicht glauben, das; mir vom Schicksal unerwartet eine so große Gunst
Zu teil werde.

Der andre Mensch, der in mir den Menschen zu achten schien, war der Lehrer
Ssalow.

Burin hob bei diesen Worten den Kopf und schaute schräg zur Wand empor.
Ich folgte mit den Augen seinem Blick. Dn hing das getreue Porträt des Lehrers,


L0ki>:r!

sechs Personen berechnete Tafel brach fast unter Tellern und Schalen mit allem
möglichen Imbiß von Kaviar und mariniertem Salm und holländischem Hering in
Senfsauce, von Schweizerkäse und Schinken und aufgeschnittenen Leberwurstscheibchen.
Und dabei gab es zu meinem Erstaunen nur zwei Gedecke einander gegenüber.

Setzen Sie sich, Alexander Andrejewitsch, Seien Sie zu Hause. Was Ihnen
schmeckt, davon essen Sie. Was Ihnen nicht schmeckt, darüber zürnen Sie nicht.

Speisen wir beide allein, Wassili?

Er nickte zustimmend und kaute schon mit beiden Backen. Doch plötzlich hob
er den Kops und sah mich all.

Wünschen Sie, fragte er, nachdem er den Bissen hastig verschluckt hatte, daß
ich uoch nach jemand schicke? Sagen Sie nnr ein Wort. Es läßt sich im Augen¬
blick einrichten.

Nein, ich meine — Ihre Familie —

Er starrte mich an, als ob ihm ein Gespenst erschiene.

Bei allen vierzehntausend in Bethlehem unschuldig Ermordeten! rief er dann
lachend. Alexander Andrejewitsch! Woher soll der rote Waska, der von Geburt
an so allein dasteht, daß er nicht einmal mit einer Katze oder einem Hunde ver¬
wandt ist, zik einer Familie kommen?

Entschuldigen Sie, aber ich glaubte, Sie wären verheiratet.

Er drückte wieder Pfiffig die Augen zusammen.

Wcirnm glaubten Sie das? fragte er kauend.

Aufrichtig, Wassili, ich vermutete, Sie hätten eine reiche Partie gemacht. Das
Hans — die ganze Einrichtung —

Er nickte und kaute.

Alexander Andrejewitsch, sagte er nach einer Pause sehr ernst, ich will von
meinen Ansichten über reiche Partien nicht reden. Ich räume jedem das Recht
ein, darüber seine selbständige Meinung zu hegen. Ich habe bis jetzt nicht einmal
an das Heiraten gedacht, weil — ich keine Zeit dazu gefunden habe. — Das kommt
Ihnen drollig vor, fuhr er fort, indem er mir einige der entfernter stehenden Teller
zuschob, aber es ist buchstäblich so. Ich habe, so lange ich denken kann, nichts getan
als gearbeitet und nie zu etwas anderm Zeit gehabt. Als wir beide die Schule
besuchten, mußte ich zu Hause Diener, Lausbursche und Küchenjunge sein. Die
Lehrer hielten mich für faul, lind Sie, Alexander Andrejewitsch, haben es Wohl
auch getan. Ich war nicht faul. Ich fand nicht die Zeit zum Lernen. Kam es
aber vor, daß ich die aufgegebne Lektion gut verstand, so hatte ich mich auf Kosten
meines Schlafes in der Nacht vorbereitet. Trotzdem, daß ich das Gnadenbrod, das
mir der — um, Gott habe ihn selig! er ist schon lange tot —, also ich wollte
sagen, ich verdiente ehrlich das Brot, das ich aß, und doch tat ich immer nicht
genng und mußte die Schule verlassen, weil niemand mehr für mich sorgen wollte.
Ich blieb mit Freude weg, denn was hatte ich aushalten müssen! Ich habe nie
geklagt, aber umsomehr im stillen geweint. Von allen war ich immer über die
Achsel angesehen worden, weil ich arm, weil ich ärmer als ein Bettler war — na, es
wäre unnütz, darüber zu reden. Zwei Menschen haben mich damals nicht ver¬
achtet, es mich wenigstens nicht fühlen lassen. Der eine waren Sie, Andrejewitsch.
Ich habe darum täglich oder stündlich an Sie gedacht. Ich habe mich bei jeder
passenden und jeder unpassenden Gelegenheit Ihrer erinnert. Ich habe alljährlich
Ihren Namenstag gefeiert. Sie können sich denken, welche Freude mich heute ergriff,
als ich Sie in das Gerichtszimmer treten sah. Ich erkannte Sie auf den ersten Blick,
aber ich wollte nicht glauben, das; mir vom Schicksal unerwartet eine so große Gunst
Zu teil werde.

Der andre Mensch, der in mir den Menschen zu achten schien, war der Lehrer
Ssalow.

Burin hob bei diesen Worten den Kopf und schaute schräg zur Wand empor.
Ich folgte mit den Augen seinem Blick. Dn hing das getreue Porträt des Lehrers,


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[0179] L0ki>:r! sechs Personen berechnete Tafel brach fast unter Tellern und Schalen mit allem möglichen Imbiß von Kaviar und mariniertem Salm und holländischem Hering in Senfsauce, von Schweizerkäse und Schinken und aufgeschnittenen Leberwurstscheibchen. Und dabei gab es zu meinem Erstaunen nur zwei Gedecke einander gegenüber. Setzen Sie sich, Alexander Andrejewitsch, Seien Sie zu Hause. Was Ihnen schmeckt, davon essen Sie. Was Ihnen nicht schmeckt, darüber zürnen Sie nicht. Speisen wir beide allein, Wassili? Er nickte zustimmend und kaute schon mit beiden Backen. Doch plötzlich hob er den Kops und sah mich all. Wünschen Sie, fragte er, nachdem er den Bissen hastig verschluckt hatte, daß ich uoch nach jemand schicke? Sagen Sie nnr ein Wort. Es läßt sich im Augen¬ blick einrichten. Nein, ich meine — Ihre Familie — Er starrte mich an, als ob ihm ein Gespenst erschiene. Bei allen vierzehntausend in Bethlehem unschuldig Ermordeten! rief er dann lachend. Alexander Andrejewitsch! Woher soll der rote Waska, der von Geburt an so allein dasteht, daß er nicht einmal mit einer Katze oder einem Hunde ver¬ wandt ist, zik einer Familie kommen? Entschuldigen Sie, aber ich glaubte, Sie wären verheiratet. Er drückte wieder Pfiffig die Augen zusammen. Wcirnm glaubten Sie das? fragte er kauend. Aufrichtig, Wassili, ich vermutete, Sie hätten eine reiche Partie gemacht. Das Hans — die ganze Einrichtung — Er nickte und kaute. Alexander Andrejewitsch, sagte er nach einer Pause sehr ernst, ich will von meinen Ansichten über reiche Partien nicht reden. Ich räume jedem das Recht ein, darüber seine selbständige Meinung zu hegen. Ich habe bis jetzt nicht einmal an das Heiraten gedacht, weil — ich keine Zeit dazu gefunden habe. — Das kommt Ihnen drollig vor, fuhr er fort, indem er mir einige der entfernter stehenden Teller zuschob, aber es ist buchstäblich so. Ich habe, so lange ich denken kann, nichts getan als gearbeitet und nie zu etwas anderm Zeit gehabt. Als wir beide die Schule besuchten, mußte ich zu Hause Diener, Lausbursche und Küchenjunge sein. Die Lehrer hielten mich für faul, lind Sie, Alexander Andrejewitsch, haben es Wohl auch getan. Ich war nicht faul. Ich fand nicht die Zeit zum Lernen. Kam es aber vor, daß ich die aufgegebne Lektion gut verstand, so hatte ich mich auf Kosten meines Schlafes in der Nacht vorbereitet. Trotzdem, daß ich das Gnadenbrod, das mir der — um, Gott habe ihn selig! er ist schon lange tot —, also ich wollte sagen, ich verdiente ehrlich das Brot, das ich aß, und doch tat ich immer nicht genng und mußte die Schule verlassen, weil niemand mehr für mich sorgen wollte. Ich blieb mit Freude weg, denn was hatte ich aushalten müssen! Ich habe nie geklagt, aber umsomehr im stillen geweint. Von allen war ich immer über die Achsel angesehen worden, weil ich arm, weil ich ärmer als ein Bettler war — na, es wäre unnütz, darüber zu reden. Zwei Menschen haben mich damals nicht ver¬ achtet, es mich wenigstens nicht fühlen lassen. Der eine waren Sie, Andrejewitsch. Ich habe darum täglich oder stündlich an Sie gedacht. Ich habe mich bei jeder passenden und jeder unpassenden Gelegenheit Ihrer erinnert. Ich habe alljährlich Ihren Namenstag gefeiert. Sie können sich denken, welche Freude mich heute ergriff, als ich Sie in das Gerichtszimmer treten sah. Ich erkannte Sie auf den ersten Blick, aber ich wollte nicht glauben, das; mir vom Schicksal unerwartet eine so große Gunst Zu teil werde. Der andre Mensch, der in mir den Menschen zu achten schien, war der Lehrer Ssalow. Burin hob bei diesen Worten den Kopf und schaute schräg zur Wand empor. Ich folgte mit den Augen seinem Blick. Dn hing das getreue Porträt des Lehrers,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/179>, abgerufen am 24.11.2024.