Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.Scheiks Christus und der Bischof von Rottenburg Die drei hervorgehobnen katholischen Glaubens- und Grundsätze sind in Erläutert also Schelk das Neue Testament zweifellos im Sinne des Grenzboten I 1908 17
Scheiks Christus und der Bischof von Rottenburg Die drei hervorgehobnen katholischen Glaubens- und Grundsätze sind in Erläutert also Schelk das Neue Testament zweifellos im Sinne des Grenzboten I 1908 17
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Scheiks Christus und der Bischof von Rottenburg
Die drei hervorgehobnen katholischen Glaubens- und Grundsätze sind in
dem Grade notwendig für die Erhaltung des Christentums, daß von ihrer
wenigstens stillschweigenden Anerkennung auch der Fortbestand des protestan¬
tischen Kirchenwesens abhängt. Wenn manche freisinnigen Protestanten, gestützt
auf die vermeintliche Kraft des Evangeliums, von Kirche gar nichts mehr
wissen wollen, so beweisen sie damit nur, daß sie von der Menschennatur eine
ganz falsche Vorstellung haben, und daß sie in ihrem Leben gar keine Er¬
fahrungen gesammelt haben. Man schenke hundert Primanern je ein Neues
Testament und einen Band Zola oder Maupassant, hundert Köchinnen je ein
Neues Testament und einen Kolportageroman und forsche nach einem Jahre
nach, welches der beiden Bücher sie zuerst, welches sie ganz durchgelesen haben,
und falls einige das Neue Testament durchgelesen hätten, was für Erfahrungen
und Überzeugungen sie daraus geschöpft haben! Das Experiment kann gar
nicht mit der für den Beweis erforderlichen Genauigkeit gemacht werden, weil
die Kirche existiert, und weil es unter hundert Primanern und unter ebensoviel
Köchinnen immer einige gibt, die durch kirchliche Einwirkung Verständnis für
das Neue Testament erworben und Jesus lieb gewonnen haben, also ihren
beiden Büchern nicht „vomussetznngslos" gegenüberstehn. Wenn jemand be¬
hauptete, nach Aufhebung des Schulzwanges und aller Lehranstalten des
Staates, der Kirche und der Gemeinden würden alle Kinder aus eignem An¬
trieb als Autodidakten Lesen, Schreiben, Rechnen und später alle Wissen¬
schaften erlernen, so würde diese Behauptung der andern, daß sich das Christen¬
tum ohne Kirche zu erhalten vermöge, vollkommen gleichwertig sein. Nur
weil die Kirche noch lebt und wirkt, kann es auch einzelne Christen geben, die
der Kirche für ihre Person nicht mehr bedürfen.
Erläutert also Schelk das Neue Testament zweifellos im Sinne des
katholischen Glaubens, so geschieht es doch zugleich im Geiste einer gesunden
Reform. Es fällt ihm nicht ein, mit läppischen Jnterpretationskünstcn die
Erzeugnisse späterer Zeiten: Dogmen, hierarchische Institutionen, Kirchengesetze
und Volksgebräuche ins Neue Testament hineinzuschmuggeln; was nicht in
diesem Buche steht, das findet man auch bei Schelk nicht, und so erfüllt er
denn die Forderung, die der Bischof Keppler an die Spitze feiner Charakteristik
einer echten Reform des Katholizismus gestellt hat: er geht auf feinen gött¬
lichen Kern zurück. Trotzdem wird Herr Keppler mit Scheiks Leistung wenig
zufrieden sein, denn seinen eignen schönen Grundsatz vergessend macht er, wie
wir gesehen haben, in seinen weitern Ausführungen den Glauben der katholischen
Bauern zum Prüfstein, an dem die Echtheit des Katholizismus der gelehrten
Reformer erprobt werden soll, von Ohrenbeichte aber, Rosenkränzen, Gelöb
rissen, Wallfahrten, bekleideten Heiligenpuppen, Seelenmessen, worin zumeist
der Katholizismus der Bauern besteht, findet man eben im Neuen Testament
und deshalb auch bei Schelk keine Spur. Mit den genannten Äußerlichkeiten
sind ja in vielen Fällen — keineswegs immer — auch Gottvertrauen, Nächsten¬
liebe und gute Sitte, also Kennzeichen echten Christentums verbunden, aber
die sind doch nichts spezifisch Katholisches. Schelk fordert so wenig wie irgend
ein andrer verstündiger Mensch — die Schwarmgeister gehören nicht zu den
Grenzboten I 1908 17
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