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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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schimpften sei" Christentum Paganismus. Die Wohlwollendsten gedächten, das
Volk aus die Bildungsstufe der höhern Klassen emporzuheben. "Würde man
es wirklich dahin bringen, das Voll in eine Masse von Halbgebildeten
-- denn höchstens Halbbildung kann solches Streben erzengell -- zu ver¬
wandeln, so gäbe es gar kein Volk mehr; dieses wäre ruiniert, ermordet; seine
Gesundheit, Natürlichkeit, Einfalt, moralische Tüchtigkeit, Neformtraft wären
dahin. Aus unserm gläubigen Volke würde denn eine Horde von Sozialisten
und Anarchisten werden. Hat die vermehrte deutsche Schulbildung etwa die
deutsche Moral gehoben? Seit dem Jahre 1870 fascils ist die allgemeine
Moralität nicht gestiegen sondern gesunken. jDie Schwaben sind auch vor
1870 nicht lauter unschuldvolle Engel gewesen.^ Mit doppelter und dreifacher
Liebe schließen wir deshalb das Volk an unser Herz, das heutzutage so vielen
Gefahren ausgesetzt ist. Alle Gutdenkendcu sollten den vollen Strom ihrer
Liebe in die nach Recht und Wahrheit dürstenden Schichten des Volkes er¬
gießen. Herzen zu trösten, ist nötiger, als Geister aufzuklären. Wir alle, die
wir gut katholisch fühlen, und vor allem wir Hirten des Volkes müßten dem
Rufe Gottes (Jesnja 40, 1) folgen: Tröstet, tröstet mein Volk! Das Herz
ists, das den Reformer macht. Wer kein Herz fürs Volk hat, wer die Volks¬
seele nicht kennt und nicht weiß, was ihr not tut, der mag ein großer Ge¬
lehrter sein, ein Reformator ist er nicht."

Trotz allen Bedenken, die man hier gegen einzelne Wendungen erheben
müßte, ist doch der Grundgedanke wahr und richtig. Dagegen zeugt es von
Beschränktheit, wenn der Bischof dann behauptet: "Die Katholiken sollen den
Gegnern durch ihren Charakter, nicht durch ihr Wissen imponieren. Reform
des Katholizismus bedeutet eine Vertiefung, Reinigung, Verstärkung des
Charakters der Katholiken." Erstens hat es Zeiten gegeben, wo der Charakter
wenig zu wünschen übrig ließ, wo aber Unwissenheit und Aberglaube un¬
sägliches Unheil anrichteten; in solchen Zeiten war die intellektuelle Reform
notwendig, gleichviel ob es sich um Katholiken, Lutheraner, Juden oder Heiden
handelte. Es ist also mindestens sehr unüberlegt zu sagen, eine katholische Re¬
form bedeute unter allen Umständen eine Charakterreform, lind zur Zeit der
großen Neformkonzilien war die ganze Christenheit einig in der Überzeugung,
daß nicht der Charakter der einzelnen Katholiken, sondern Papsttum und
Hierarchie die Gegenstände aller Rcforintütigkeit sei" müßten. Zweitens aber
ist zu allen Zeiten bei den Nordländern mehr Charakterfestigkeit, mehr Treue
und mehr Wahrhaftigkeit zu finden gewesen als bei den Romanen, und das
ist auch nicht anders geworden, als die Germanen und die Angelsachsen vom
Katholizismus abfielen. Daß dieser geradezu schuld sei an dem geringen Wert
des Charakters so vieler Romanen, wie die meisten Protestanten glauben, soll
damit noch nicht behauptet werden. Oder meint Bischof Keppler vielleicht gar¬
nicht den sittlichen Charakter, sondern nnr das eigensinnige Festhalten um
allem spezifisch Katholischen und an allem, was die Fanatiker und das aber¬
gläubische Volk für spezifisch katholisch halten? Er sagt nämlich: "Verstärkung
des Charakters der Katholiken nach der katholischen Seite hin" und fährt fort:
"Die Katholiken zur Mannhaftigkeit z" erzieh", das ist die beste Reform; das


schimpften sei» Christentum Paganismus. Die Wohlwollendsten gedächten, das
Volk aus die Bildungsstufe der höhern Klassen emporzuheben. „Würde man
es wirklich dahin bringen, das Voll in eine Masse von Halbgebildeten
— denn höchstens Halbbildung kann solches Streben erzengell — zu ver¬
wandeln, so gäbe es gar kein Volk mehr; dieses wäre ruiniert, ermordet; seine
Gesundheit, Natürlichkeit, Einfalt, moralische Tüchtigkeit, Neformtraft wären
dahin. Aus unserm gläubigen Volke würde denn eine Horde von Sozialisten
und Anarchisten werden. Hat die vermehrte deutsche Schulbildung etwa die
deutsche Moral gehoben? Seit dem Jahre 1870 fascils ist die allgemeine
Moralität nicht gestiegen sondern gesunken. jDie Schwaben sind auch vor
1870 nicht lauter unschuldvolle Engel gewesen.^ Mit doppelter und dreifacher
Liebe schließen wir deshalb das Volk an unser Herz, das heutzutage so vielen
Gefahren ausgesetzt ist. Alle Gutdenkendcu sollten den vollen Strom ihrer
Liebe in die nach Recht und Wahrheit dürstenden Schichten des Volkes er¬
gießen. Herzen zu trösten, ist nötiger, als Geister aufzuklären. Wir alle, die
wir gut katholisch fühlen, und vor allem wir Hirten des Volkes müßten dem
Rufe Gottes (Jesnja 40, 1) folgen: Tröstet, tröstet mein Volk! Das Herz
ists, das den Reformer macht. Wer kein Herz fürs Volk hat, wer die Volks¬
seele nicht kennt und nicht weiß, was ihr not tut, der mag ein großer Ge¬
lehrter sein, ein Reformator ist er nicht."

Trotz allen Bedenken, die man hier gegen einzelne Wendungen erheben
müßte, ist doch der Grundgedanke wahr und richtig. Dagegen zeugt es von
Beschränktheit, wenn der Bischof dann behauptet: „Die Katholiken sollen den
Gegnern durch ihren Charakter, nicht durch ihr Wissen imponieren. Reform
des Katholizismus bedeutet eine Vertiefung, Reinigung, Verstärkung des
Charakters der Katholiken." Erstens hat es Zeiten gegeben, wo der Charakter
wenig zu wünschen übrig ließ, wo aber Unwissenheit und Aberglaube un¬
sägliches Unheil anrichteten; in solchen Zeiten war die intellektuelle Reform
notwendig, gleichviel ob es sich um Katholiken, Lutheraner, Juden oder Heiden
handelte. Es ist also mindestens sehr unüberlegt zu sagen, eine katholische Re¬
form bedeute unter allen Umständen eine Charakterreform, lind zur Zeit der
großen Neformkonzilien war die ganze Christenheit einig in der Überzeugung,
daß nicht der Charakter der einzelnen Katholiken, sondern Papsttum und
Hierarchie die Gegenstände aller Rcforintütigkeit sei» müßten. Zweitens aber
ist zu allen Zeiten bei den Nordländern mehr Charakterfestigkeit, mehr Treue
und mehr Wahrhaftigkeit zu finden gewesen als bei den Romanen, und das
ist auch nicht anders geworden, als die Germanen und die Angelsachsen vom
Katholizismus abfielen. Daß dieser geradezu schuld sei an dem geringen Wert
des Charakters so vieler Romanen, wie die meisten Protestanten glauben, soll
damit noch nicht behauptet werden. Oder meint Bischof Keppler vielleicht gar¬
nicht den sittlichen Charakter, sondern nnr das eigensinnige Festhalten um
allem spezifisch Katholischen und an allem, was die Fanatiker und das aber¬
gläubische Volk für spezifisch katholisch halten? Er sagt nämlich: „Verstärkung
des Charakters der Katholiken nach der katholischen Seite hin" und fährt fort:
„Die Katholiken zur Mannhaftigkeit z» erzieh», das ist die beste Reform; das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/128>, abgerufen am 27.11.2024.