Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.Zum neuen Jahr es niemals aufgeben kann, so lange es eine Weltmacht bleiben will, die aber So besteht am Mittelmeer eine besondre Gruppierung der Mächte, ans Auch die Lebenskraft Österreichs wird bei uns oft weit unterschätzt. Noch Zum neuen Jahr es niemals aufgeben kann, so lange es eine Weltmacht bleiben will, die aber So besteht am Mittelmeer eine besondre Gruppierung der Mächte, ans Auch die Lebenskraft Österreichs wird bei uns oft weit unterschätzt. Noch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0010" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239566"/> <fw type="header" place="top"> Zum neuen Jahr</fw><lb/> <p xml:id="ID_11" prev="#ID_10"> es niemals aufgeben kann, so lange es eine Weltmacht bleiben will, die aber<lb/> in Frankreich ihren gefährlichsten Gegner hat. Diese Gegnerschaft ist es, die<lb/> anch das tief gesunkne Spanien in die große Politik wieder hereinzieht, und<lb/> die über das Schicksal Marokkos entscheiden, mindestens es zum Streitobjekt<lb/> zwischen den beiden Mächten machen wird, da England die seinem Gibraltar<lb/> gegenüberliegende afrikanische Küste nicht in Frankreichs Hände fallen lassen<lb/> kann, ohne seine Herrschaft über die Meerenge zu gefährde», und Frankreich<lb/> sie nicht englisch werden lassen darf, wenn es sich nicht den Zugang zum<lb/> Mittelmeer, den freien Verkehr zwischen seinen eignen Küsten versperren will.</p><lb/> <p xml:id="ID_12"> So besteht am Mittelmeer eine besondre Gruppierung der Mächte, ans<lb/> der einen Seite Frankreich, das sich auf Rußland stützt, also der Zweibnnd,<lb/> auf der audern Italien und England, wobei aber Italien mit den Mächten<lb/> des Zweibunds in einem nicht unfreundlichen Verhältnis steht. Dieses stärkere<lb/> Hervortreten einer aktiven auswärtigen Politik ist für Italien offenbar nur<lb/> deshalb möglich, weil Finanzen und Volkswirtschaft dort in der Kräftigung<lb/> begriffen sind, Wohl leidet das Land noch heute unter den Nachwirkungen<lb/> uralter Mißbildungen, gegen deren Heilung die Ablösung der bäuerlichen.<lb/> Lasten in Deutschland eine Kleinigkeit war, und vom deutschen Standpunkt<lb/> aus darf man diese Dinge überhaupt uicht ansehen; aber die Nordhälfte des<lb/> Landes hat große wirtschaftliche Fortschritte gemacht, die schweren Gebrechen<lb/> des Südens sind erkannt, einschneidende Reformen sind in Vorbereitung, und<lb/> die Lebenskraft der Nation ist unerschöpft. Überhaupt würde man in Deutsch-<lb/> land gut tuu, nicht fortwährend über den „Verfall" der romanischen Völker<lb/> zu deklamieren. Es ist noch kein christliches Volk gestorben, auch die Polen<lb/> nicht, wohl aber haben alle Perioden scheinbar tödlicher Schwäche durchgemacht<lb/> und überwunden.</p><lb/> <p xml:id="ID_13" next="#ID_14"> Auch die Lebenskraft Österreichs wird bei uns oft weit unterschätzt. Noch<lb/> ganz abgesehen von der Stärke der dyuastisch-geschichtlichen und der geographisch-<lb/> wirtschaftlichen Bande, die man nicht leicht überschätzen kann, wird das alte<lb/> Völkerreich der Habsburger schon dadurch zusammengehalten, daß sich gerade<lb/> die ungebärdigsten Nationalitäten an eine andre Macht gar nicht anschließen<lb/> könnten, und jede für sich ohnmächtig wäre; sogar Ungarn, das anch seine<lb/> schwere Nationalitätenfrage hat und jetzt auf die Politik einer Großmacht<lb/> maßgebenden Einfluß ausübt, wäre, auf sich selbst gestellt, nur ein kräftiger<lb/> Mittelstaat. Es kommt offenbar nur darauf an, daß Österreich die heutige<lb/> Überspannung des „Nationalismus," die uicht ewig dauern kann, übersteht,<lb/> und daß seine Regierung der Begehrlichkeit kleiner Völkerschaften, die gar<lb/> keine eigne Kultur haben können und gerade deshalb ihre Mundarten so hoch<lb/> halten, immer wieder die Stantsnotwendigkeiten scharf entgegenhält. Parlamen¬<lb/> tarisch kann freilich dieses Bölkergemisch nicht regiert werden, weil in dem herr¬<lb/> lichen Griechenbau des Wiener Parlamentshanscs nicht Parteien, sondern natio¬<lb/> nale Gruppen miteinander ringen, die ihre Lebensinteressen keiner Mehrheit<lb/> unterwerfen können; aber diese Wahrheit ist jetzt auch endlich erkannt. Das<lb/> Ministerium Körber ist ein monarchisches Beamteuministerium, das über den<lb/> Nationalitäten und den Parteien steht. Eine energische auswärtige Politik kann</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
Zum neuen Jahr
es niemals aufgeben kann, so lange es eine Weltmacht bleiben will, die aber
in Frankreich ihren gefährlichsten Gegner hat. Diese Gegnerschaft ist es, die
anch das tief gesunkne Spanien in die große Politik wieder hereinzieht, und
die über das Schicksal Marokkos entscheiden, mindestens es zum Streitobjekt
zwischen den beiden Mächten machen wird, da England die seinem Gibraltar
gegenüberliegende afrikanische Küste nicht in Frankreichs Hände fallen lassen
kann, ohne seine Herrschaft über die Meerenge zu gefährde», und Frankreich
sie nicht englisch werden lassen darf, wenn es sich nicht den Zugang zum
Mittelmeer, den freien Verkehr zwischen seinen eignen Küsten versperren will.
So besteht am Mittelmeer eine besondre Gruppierung der Mächte, ans
der einen Seite Frankreich, das sich auf Rußland stützt, also der Zweibnnd,
auf der audern Italien und England, wobei aber Italien mit den Mächten
des Zweibunds in einem nicht unfreundlichen Verhältnis steht. Dieses stärkere
Hervortreten einer aktiven auswärtigen Politik ist für Italien offenbar nur
deshalb möglich, weil Finanzen und Volkswirtschaft dort in der Kräftigung
begriffen sind, Wohl leidet das Land noch heute unter den Nachwirkungen
uralter Mißbildungen, gegen deren Heilung die Ablösung der bäuerlichen.
Lasten in Deutschland eine Kleinigkeit war, und vom deutschen Standpunkt
aus darf man diese Dinge überhaupt uicht ansehen; aber die Nordhälfte des
Landes hat große wirtschaftliche Fortschritte gemacht, die schweren Gebrechen
des Südens sind erkannt, einschneidende Reformen sind in Vorbereitung, und
die Lebenskraft der Nation ist unerschöpft. Überhaupt würde man in Deutsch-
land gut tuu, nicht fortwährend über den „Verfall" der romanischen Völker
zu deklamieren. Es ist noch kein christliches Volk gestorben, auch die Polen
nicht, wohl aber haben alle Perioden scheinbar tödlicher Schwäche durchgemacht
und überwunden.
Auch die Lebenskraft Österreichs wird bei uns oft weit unterschätzt. Noch
ganz abgesehen von der Stärke der dyuastisch-geschichtlichen und der geographisch-
wirtschaftlichen Bande, die man nicht leicht überschätzen kann, wird das alte
Völkerreich der Habsburger schon dadurch zusammengehalten, daß sich gerade
die ungebärdigsten Nationalitäten an eine andre Macht gar nicht anschließen
könnten, und jede für sich ohnmächtig wäre; sogar Ungarn, das anch seine
schwere Nationalitätenfrage hat und jetzt auf die Politik einer Großmacht
maßgebenden Einfluß ausübt, wäre, auf sich selbst gestellt, nur ein kräftiger
Mittelstaat. Es kommt offenbar nur darauf an, daß Österreich die heutige
Überspannung des „Nationalismus," die uicht ewig dauern kann, übersteht,
und daß seine Regierung der Begehrlichkeit kleiner Völkerschaften, die gar
keine eigne Kultur haben können und gerade deshalb ihre Mundarten so hoch
halten, immer wieder die Stantsnotwendigkeiten scharf entgegenhält. Parlamen¬
tarisch kann freilich dieses Bölkergemisch nicht regiert werden, weil in dem herr¬
lichen Griechenbau des Wiener Parlamentshanscs nicht Parteien, sondern natio¬
nale Gruppen miteinander ringen, die ihre Lebensinteressen keiner Mehrheit
unterwerfen können; aber diese Wahrheit ist jetzt auch endlich erkannt. Das
Ministerium Körber ist ein monarchisches Beamteuministerium, das über den
Nationalitäten und den Parteien steht. Eine energische auswärtige Politik kann
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