Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.Marokko reich, denn beide haben keine andern Meeresküsten als die des Mittelmeers. In der Mittelmeerpolitik spielt das zukünftige Schicksal Marokkos eine Spanien ist durch den Verlust der Antillen und der Philippinen und Marokko reich, denn beide haben keine andern Meeresküsten als die des Mittelmeers. In der Mittelmeerpolitik spielt das zukünftige Schicksal Marokkos eine Spanien ist durch den Verlust der Antillen und der Philippinen und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/238864"/> <fw type="header" place="top"> Marokko</fw><lb/> <p xml:id="ID_274" prev="#ID_273"> reich, denn beide haben keine andern Meeresküsten als die des Mittelmeers.<lb/> Nur die Wogen, die der antiken Welt mit der See annähernd gleichbe¬<lb/> deutend waren, vermitteln ihnen den Zugang zu den seitdem, erschlossenen<lb/> großen Ozeanen. Gerät das Gewässer zwischen Gibraltar und Suez jemals<lb/> in die Gewalt einer andern Macht, so ist die politische und militärische<lb/> Selbständigkeit Italiens dahin, und die von Österreich-Ungarn beeinträchtigt.<lb/> Italien kann sich nicht den Eiseuklmmnern dessen entziehn, der die Obmacht<lb/> über das Tyrrhenische Meer und die Adria hat, und der österreichische Arr<lb/> wird mindestens an einem Flügel gelähmt sein. Daß das auf ihre Freiheit im<lb/> Bündnisschließen zurückwirkt, kann doch am Ende ein Kind begreifen. Unser<lb/> Bündnis mit Italien und Österreich-Ungarn ist also neben dem Handel mit<lb/> dem fernen Osten und unsern Kolonien die dritte Klammer, die uns an die<lb/> Mittelmeerpvlitik bindet. Sie ist die wichtigste, sie ist aber nicht die letzte.<lb/> Denn bedeuten wir, welchen Gewinn Frankreich mit der Herrschaft über das<lb/> Mittelmeer machte, wie ihm dann erleichtert würde, seine sämtlichen militärischen<lb/> und maritimen Kräfte gegen uns zu verwenden, so thun sich Perspektiven auf,<lb/> die sich einer Behandlung in so knappen Raum gänzlich entziehn.</p><lb/> <p xml:id="ID_275"> In der Mittelmeerpolitik spielt das zukünftige Schicksal Marokkos eine<lb/> bedeutsame Rolle. Denn Gibraltar ist nicht mehr uneinnehmbares Sperrfort<lb/> für die nach ihm benannte Meeresstraße, seitdem die Kanonen bequem über die<lb/> Bucht von Algeeiras tragen. Am gegenüberliegenden marokkanischen Ufer<lb/> sind Tanger und das spanische Ceuta von keinen feindlichen Landbefestignugen<lb/> bedroht. Wer eins oder beide hat, ist an den Säulen des Herkules eben so<lb/> mächtig wie England, vielleicht mächtiger. Seit Jahrzehnten konkurrieren um<lb/> Marokko Spanien, Frankreich und England. Spanien schreibt sich einen<lb/> natürlichen Anspruch zu, weil es der nächste Nachbar sei, und weil Marokko<lb/> von dem islamitischen Volke beherrscht werde, dessen Erbe auf europäischem<lb/> Boden eben Spanien sei; Frankreich bestreitet das; durch seine algerischen<lb/> Besitzungen sei es jetzt zum nächsten Nachbar des Sultans geworden. England<lb/> hat keine solche „Hinterland"-Theorie, verteidigt aber seinen Handel und seine<lb/> Stellung in Gibraltar, indem es Marokkos Unabhängigkeit unterstützt. An<lb/> Erwerbung des ganzen Landes kann es gar nicht denken; höchstens das kost¬<lb/> bare Kleinod Tanger möchte es aus der arabische» Mißwirtschaft herausheben.<lb/> Das leidet aber Frankreich nicht, während sich mit Spanien vielleicht ein<lb/> Arrangement treffen ließe.</p><lb/> <p xml:id="ID_276" next="#ID_277"> Spanien ist durch den Verlust der Antillen und der Philippinen und<lb/> durch den amerikanischen Krieg sehr geschwächt, zugleich aber auf einen ge¬<lb/> wissen Ersatz an der nahen afrikanischen Küste doppelt erpicht. Ans eignen<lb/> Kräften an die Eroberung des acht bis neun Millionen Einwohner zählenden,<lb/> großen, mit Verkehrsstraßen wenig ausgerüstete» Landes zu gehn, ist ihm<lb/> versagt. Dagegen wird es von beiden andern Mächten umworben. Auch<lb/> Frankreich wagt die Sache nicht recht, hauptsächlich weil es fürchtet, so viele<lb/> Streitkräfte darin festzulegen, daß es in seiner europäischen Politik gehindert<lb/> werde. Das war vor Jahresfrist der misgesprochne Grund, weshalb es die<lb/> von vielen empfohlene Gelegenheit von Grenzstörungen nicht benutzte, mit der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0076]
Marokko
reich, denn beide haben keine andern Meeresküsten als die des Mittelmeers.
Nur die Wogen, die der antiken Welt mit der See annähernd gleichbe¬
deutend waren, vermitteln ihnen den Zugang zu den seitdem, erschlossenen
großen Ozeanen. Gerät das Gewässer zwischen Gibraltar und Suez jemals
in die Gewalt einer andern Macht, so ist die politische und militärische
Selbständigkeit Italiens dahin, und die von Österreich-Ungarn beeinträchtigt.
Italien kann sich nicht den Eiseuklmmnern dessen entziehn, der die Obmacht
über das Tyrrhenische Meer und die Adria hat, und der österreichische Arr
wird mindestens an einem Flügel gelähmt sein. Daß das auf ihre Freiheit im
Bündnisschließen zurückwirkt, kann doch am Ende ein Kind begreifen. Unser
Bündnis mit Italien und Österreich-Ungarn ist also neben dem Handel mit
dem fernen Osten und unsern Kolonien die dritte Klammer, die uns an die
Mittelmeerpvlitik bindet. Sie ist die wichtigste, sie ist aber nicht die letzte.
Denn bedeuten wir, welchen Gewinn Frankreich mit der Herrschaft über das
Mittelmeer machte, wie ihm dann erleichtert würde, seine sämtlichen militärischen
und maritimen Kräfte gegen uns zu verwenden, so thun sich Perspektiven auf,
die sich einer Behandlung in so knappen Raum gänzlich entziehn.
In der Mittelmeerpolitik spielt das zukünftige Schicksal Marokkos eine
bedeutsame Rolle. Denn Gibraltar ist nicht mehr uneinnehmbares Sperrfort
für die nach ihm benannte Meeresstraße, seitdem die Kanonen bequem über die
Bucht von Algeeiras tragen. Am gegenüberliegenden marokkanischen Ufer
sind Tanger und das spanische Ceuta von keinen feindlichen Landbefestignugen
bedroht. Wer eins oder beide hat, ist an den Säulen des Herkules eben so
mächtig wie England, vielleicht mächtiger. Seit Jahrzehnten konkurrieren um
Marokko Spanien, Frankreich und England. Spanien schreibt sich einen
natürlichen Anspruch zu, weil es der nächste Nachbar sei, und weil Marokko
von dem islamitischen Volke beherrscht werde, dessen Erbe auf europäischem
Boden eben Spanien sei; Frankreich bestreitet das; durch seine algerischen
Besitzungen sei es jetzt zum nächsten Nachbar des Sultans geworden. England
hat keine solche „Hinterland"-Theorie, verteidigt aber seinen Handel und seine
Stellung in Gibraltar, indem es Marokkos Unabhängigkeit unterstützt. An
Erwerbung des ganzen Landes kann es gar nicht denken; höchstens das kost¬
bare Kleinod Tanger möchte es aus der arabische» Mißwirtschaft herausheben.
Das leidet aber Frankreich nicht, während sich mit Spanien vielleicht ein
Arrangement treffen ließe.
Spanien ist durch den Verlust der Antillen und der Philippinen und
durch den amerikanischen Krieg sehr geschwächt, zugleich aber auf einen ge¬
wissen Ersatz an der nahen afrikanischen Küste doppelt erpicht. Ans eignen
Kräften an die Eroberung des acht bis neun Millionen Einwohner zählenden,
großen, mit Verkehrsstraßen wenig ausgerüstete» Landes zu gehn, ist ihm
versagt. Dagegen wird es von beiden andern Mächten umworben. Auch
Frankreich wagt die Sache nicht recht, hauptsächlich weil es fürchtet, so viele
Streitkräfte darin festzulegen, daß es in seiner europäischen Politik gehindert
werde. Das war vor Jahresfrist der misgesprochne Grund, weshalb es die
von vielen empfohlene Gelegenheit von Grenzstörungen nicht benutzte, mit der
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