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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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der Geschichte, der Philosophie, der religiösen Betrachtung, der Mathematik,
der Technik der Griechen enthält und so den Beweis liefert, was überall von
diesem Volke geleistet worden ist. Man kann leider von einem solchen:
Werke befürchten, daß es zu einer Art Propaganda benutzt wird. Propaganda
aber bleibt gegenüber der mit Recht oft kritisch denkenden Jugend der obern
Klassen ein etwas gefährliches Ding. Es kann hier wie mit dem Patriotis¬
mus gehn. Die stete begeisterte Hervorhebung dessen, was unser Volk ge¬
schaffen habe, begegnet leicht, wenn nicht dem Unglauben, so doch dem kritischen
Zweifel, den wir nicht hinweg pädcigogisiercn können noch dürfen, den wir nnr
durch die ruhige Vorführung der Thatsachen im voraus widerlegen können.
So könnte es auch hier gehn. Je weniger aber die reifern Schiller eine Tendenz
merken, desto mehr wird sie die Gewalt der Thatsachen überzeugen. Eine
Wissenschaft aber, deren moderne Fortschritte ihnen in der Mathematik- und
der Phhsikstunde vor die staunenden Augen geführt wird, historisch zu begreifen,
ist die Mehrzahl noch nicht imstande: das vermögen ja nicht einmal alle Er¬
wachsenen. Aber das kann jeder Schüler begreifen, was in unsrer Kultur von
der antiken lebt. Das sind nicht nur die neu auf die mittelalterliche Anschauung
gepfropften Reiser des Humanismus, die etwas hypertrophisch gewachsenen
Blüten eines historisch betrachtet durchaus unverüchtlichen Klassizismus, das
ist vielmehr Saft und Trieb innerhalb der mittelalterlichen, innerhalb auch
der modernen Kultur, die Versetzung altgriechischer Kraft, das ist innerhalb
unsrer Kultur das Fortleben der hellenischen Kultur. Der Genius eines
Volkes aber, das solches geschaffen hat, redet nur im Nnturlaut seiner Sprache,
die er selbst erzeugt hat: diese Sprache aber verbannen heißt nicht etwa nur
eine reine Quelle des Schönen verstopfen, ehe man auf anderm Gebiete be¬
lebenden Trank gefunden oder mühsam erbohrt hat, sondern heißt die Quelle
unsrer Kultur überhaupt verschütten.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Von Fritz Anders Dritte Reihe
^0. Die Wohnungsgenossenschaft

rudchen Leverkühn war ein hübsches, junges, strebsames Mädchen. Sie
war mit Pensionsberechtigung angestellte Lehrerin an der städtischen
Bürgerschule und bewohnte eine Mansardenstube vier Treppen hoch
in Aftermiete bei einem Schuster. Diese Wohmmg, die vier Treppen,
und der Schustergeruch, der gar nicht fern zu halten war, und der
jedesmal vom Vorsaal herein quoll, wenn die Thür geöffnet wurde,
waren der schwarze Punkt ihres Lebens. Sie hatte gethan, was sie konnte, ihre
"Bude" zu verschönern, sie hatte alle ihre Ersparnisse in hübschen Möbeln angelegt
und die Wände mit Bändern, Brandmalerei und Kerbschnitzwerten verziert, aber
hatte es dadurch nicht ändern können, daß die Wände schief und die Tapeten ver¬
räuchert waren. Und sie hätte doch gar zu gern ein wenig Komfort um sich ge¬
sehen, wie sie es aus der Zeit, wo ihr seliger Vater noch lebte, gewohnt war. Aber
konnte sie mit ihren neunhundert Mark hoffen, je eine Wohnung zu finden, wie ste
sie gern gehabt hätte? und mußte sie nicht Gott danken, daß sie wenigstens eine
sichere Lebensstellung gewonnen hatte?


der Geschichte, der Philosophie, der religiösen Betrachtung, der Mathematik,
der Technik der Griechen enthält und so den Beweis liefert, was überall von
diesem Volke geleistet worden ist. Man kann leider von einem solchen:
Werke befürchten, daß es zu einer Art Propaganda benutzt wird. Propaganda
aber bleibt gegenüber der mit Recht oft kritisch denkenden Jugend der obern
Klassen ein etwas gefährliches Ding. Es kann hier wie mit dem Patriotis¬
mus gehn. Die stete begeisterte Hervorhebung dessen, was unser Volk ge¬
schaffen habe, begegnet leicht, wenn nicht dem Unglauben, so doch dem kritischen
Zweifel, den wir nicht hinweg pädcigogisiercn können noch dürfen, den wir nnr
durch die ruhige Vorführung der Thatsachen im voraus widerlegen können.
So könnte es auch hier gehn. Je weniger aber die reifern Schiller eine Tendenz
merken, desto mehr wird sie die Gewalt der Thatsachen überzeugen. Eine
Wissenschaft aber, deren moderne Fortschritte ihnen in der Mathematik- und
der Phhsikstunde vor die staunenden Augen geführt wird, historisch zu begreifen,
ist die Mehrzahl noch nicht imstande: das vermögen ja nicht einmal alle Er¬
wachsenen. Aber das kann jeder Schüler begreifen, was in unsrer Kultur von
der antiken lebt. Das sind nicht nur die neu auf die mittelalterliche Anschauung
gepfropften Reiser des Humanismus, die etwas hypertrophisch gewachsenen
Blüten eines historisch betrachtet durchaus unverüchtlichen Klassizismus, das
ist vielmehr Saft und Trieb innerhalb der mittelalterlichen, innerhalb auch
der modernen Kultur, die Versetzung altgriechischer Kraft, das ist innerhalb
unsrer Kultur das Fortleben der hellenischen Kultur. Der Genius eines
Volkes aber, das solches geschaffen hat, redet nur im Nnturlaut seiner Sprache,
die er selbst erzeugt hat: diese Sprache aber verbannen heißt nicht etwa nur
eine reine Quelle des Schönen verstopfen, ehe man auf anderm Gebiete be¬
lebenden Trank gefunden oder mühsam erbohrt hat, sondern heißt die Quelle
unsrer Kultur überhaupt verschütten.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Von Fritz Anders Dritte Reihe
^0. Die Wohnungsgenossenschaft

rudchen Leverkühn war ein hübsches, junges, strebsames Mädchen. Sie
war mit Pensionsberechtigung angestellte Lehrerin an der städtischen
Bürgerschule und bewohnte eine Mansardenstube vier Treppen hoch
in Aftermiete bei einem Schuster. Diese Wohmmg, die vier Treppen,
und der Schustergeruch, der gar nicht fern zu halten war, und der
jedesmal vom Vorsaal herein quoll, wenn die Thür geöffnet wurde,
waren der schwarze Punkt ihres Lebens. Sie hatte gethan, was sie konnte, ihre
„Bude" zu verschönern, sie hatte alle ihre Ersparnisse in hübschen Möbeln angelegt
und die Wände mit Bändern, Brandmalerei und Kerbschnitzwerten verziert, aber
hatte es dadurch nicht ändern können, daß die Wände schief und die Tapeten ver¬
räuchert waren. Und sie hätte doch gar zu gern ein wenig Komfort um sich ge¬
sehen, wie sie es aus der Zeit, wo ihr seliger Vater noch lebte, gewohnt war. Aber
konnte sie mit ihren neunhundert Mark hoffen, je eine Wohnung zu finden, wie ste
sie gern gehabt hätte? und mußte sie nicht Gott danken, daß sie wenigstens eine
sichere Lebensstellung gewonnen hatte?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/738>, abgerufen am 01.09.2024.