Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.Eine Silvesterfmcr im Zuchthaus Und sie alle singen nun das schöne Silvesterlied, ihnen allen leuchten Der Gesang verstummt, die Orgel verhallt, zur Kanzel schreitet die hohe O, es muß furchtbar schwer sein, dieses Amt der Liebe und Gnade denen Ja, es muß furchtbar schwer sein, den Gebundnen die Freiheit, am Silvester¬ Und wie wirkt sein Wort auf die Gefangnen? Nun, natürlich heißt es Eine Silvesterfmcr im Zuchthaus Und sie alle singen nun das schöne Silvesterlied, ihnen allen leuchten Der Gesang verstummt, die Orgel verhallt, zur Kanzel schreitet die hohe O, es muß furchtbar schwer sein, dieses Amt der Liebe und Gnade denen Ja, es muß furchtbar schwer sein, den Gebundnen die Freiheit, am Silvester¬ Und wie wirkt sein Wort auf die Gefangnen? Nun, natürlich heißt es <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0729" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239517"/> <fw type="header" place="top"> Eine Silvesterfmcr im Zuchthaus</fw><lb/> <p xml:id="ID_3415"> Und sie alle singen nun das schöne Silvesterlied, ihnen allen leuchten<lb/> die brennenden Christbaume, Was zieht dabei wohl durch ihre Seelen?</p><lb/> <p xml:id="ID_3416"> Der Gesang verstummt, die Orgel verhallt, zur Kanzel schreitet die hohe<lb/> Gestalt des Geistlichen. Was wird er ihnen sagen? Was soll er ihnen<lb/> künden?</p><lb/> <p xml:id="ID_3417"> O, es muß furchtbar schwer sein, dieses Amt der Liebe und Gnade denen<lb/> gegenüber zu verwalten, für die die Welt nur Härte und Strafe kennt! Aber<lb/> der Mann, der hier die Kanzel besteigt, weiß seines Amtes zu walten. Wer<lb/> ein sich selbst die Liebe und die Gnade Gottes erfahren hat, der kann<lb/> sie auch andern künden; und er kann es nicht nur, er kaun nicht anders.<lb/> Und das wissen und fühlen sie auch, alle, die ihm zu Füßen sitzen. Auch die<lb/> Härtesten, die stumpfsten, die Ungläubigsten, die Verbittertsten — sie fühlen,<lb/> daß hier nicht nur ein Mund zu ihren Ohren, sondern ein Herz zu ihrem<lb/> Herzen spricht; daß der Mann da oben sie liebt, wirklich liebt, mit der Liebe<lb/> des Gekreuzigten, von dem er nicht müde wird ihnen zu predigen, daß er in<lb/> die Welt gekommen sei, zu suchen und selig zu machen das Verlorne! Auch<lb/> dich! auch dich! gerade dich, der du wieder und wieder dieses Haus aufsuchst,<lb/> gerade dich, dich mit den blutigen Händen, gerade dich, der du dich sträubst<lb/> zu glauben, gerade dich, der dn seit Jahren schon die Gefängniskrankheit, die<lb/> Schwindsucht, mit dir herumschleppst und es fühlst, daß du heute zum letzten¬<lb/> mal den Weihnachtsbaum brennen siehst, gerade dich, und gerade heute, am<lb/> letzten Tage dieses Jahres, vielleicht des dreißigsten, das du hier verlebst,<lb/> vielleicht des zwanzigsten, das dn überhaupt erst erlebst, gerade dich, und<lb/> gerade heute am Silvesterabend.</p><lb/> <p xml:id="ID_3418"> Ja, es muß furchtbar schwer sein, den Gebundnen die Freiheit, am Silvester¬<lb/> abend im Zuchthaus ..das angenehme Jahr des Herrn" zu verkünden; aber<lb/> der da oben, der kann es, weil die Liebe alles kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_3419" next="#ID_3420"> Und wie wirkt sein Wort auf die Gefangnen? Nun, natürlich heißt es<lb/> hier gerade so gut wie anderwärts: „Vierfach ist das Ackerfeld." Nicht alle<lb/> merken so gespannt auf, wie dort der hübsche junge Mensch mit dein frischen,<lb/> fast rosigen Gesicht, der mit seinen sonnigen hellblauen Friesenaugen den: Pastor<lb/> fast jedes Wort von deu Lippen zu saugen scheint, oder wie jener ältere, der<lb/> f" gern, ach so brennend gern glauben möchte, was er heute hört, was er<lb/> aus diesem Munde so oft schon gehört hat. Mancher brütet stumpf vor sich<lb/> hin, nur hier und da durch einen wärmern Ton der Stimme, durch ein un-<lb/> gewohntes Wort oder durch sonst einen äußern Anstoß veranlaßt, aufzuhorchen<lb/> und eine Weile zuzuhören, bis er wieder in sein altes Brüten zurückfällt.<lb/> Mancher andre merkt absichtlich nicht auf, aus Opposition gegen das ganze<lb/> Wesen, das ganze Räderwerk, das ihn gefaßt hat und gefangen hält. Aber<lb/> heute, am Silvesterabend, will es doch so recht nicht glücken mit der Unauf¬<lb/> merksamkeit. Es sind gar eigne seltsame Gedanken, die so ein brennender<lb/> Christbaum, die das nahe Jahresende, die Jahreswende weckt. „Werde ich<lb/> uoch hier sein übers Jahr, oder wird man mich bis dahin schon hinausgetragen<lb/> haben auf den kleinen kahlen Zuchthausfriedhof, in einem der engen schwarzen<lb/> Kasten, die ich selbst neulich in der Tischlerwerkstatt habe zimmern helfen —<lb/> unter rohen Witzen und frivolen Späßen. Wie schnell das hier gehn kann!"</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0729]
Eine Silvesterfmcr im Zuchthaus
Und sie alle singen nun das schöne Silvesterlied, ihnen allen leuchten
die brennenden Christbaume, Was zieht dabei wohl durch ihre Seelen?
Der Gesang verstummt, die Orgel verhallt, zur Kanzel schreitet die hohe
Gestalt des Geistlichen. Was wird er ihnen sagen? Was soll er ihnen
künden?
O, es muß furchtbar schwer sein, dieses Amt der Liebe und Gnade denen
gegenüber zu verwalten, für die die Welt nur Härte und Strafe kennt! Aber
der Mann, der hier die Kanzel besteigt, weiß seines Amtes zu walten. Wer
ein sich selbst die Liebe und die Gnade Gottes erfahren hat, der kann
sie auch andern künden; und er kann es nicht nur, er kaun nicht anders.
Und das wissen und fühlen sie auch, alle, die ihm zu Füßen sitzen. Auch die
Härtesten, die stumpfsten, die Ungläubigsten, die Verbittertsten — sie fühlen,
daß hier nicht nur ein Mund zu ihren Ohren, sondern ein Herz zu ihrem
Herzen spricht; daß der Mann da oben sie liebt, wirklich liebt, mit der Liebe
des Gekreuzigten, von dem er nicht müde wird ihnen zu predigen, daß er in
die Welt gekommen sei, zu suchen und selig zu machen das Verlorne! Auch
dich! auch dich! gerade dich, der du wieder und wieder dieses Haus aufsuchst,
gerade dich, dich mit den blutigen Händen, gerade dich, der du dich sträubst
zu glauben, gerade dich, der dn seit Jahren schon die Gefängniskrankheit, die
Schwindsucht, mit dir herumschleppst und es fühlst, daß du heute zum letzten¬
mal den Weihnachtsbaum brennen siehst, gerade dich, und gerade heute, am
letzten Tage dieses Jahres, vielleicht des dreißigsten, das du hier verlebst,
vielleicht des zwanzigsten, das dn überhaupt erst erlebst, gerade dich, und
gerade heute am Silvesterabend.
Ja, es muß furchtbar schwer sein, den Gebundnen die Freiheit, am Silvester¬
abend im Zuchthaus ..das angenehme Jahr des Herrn" zu verkünden; aber
der da oben, der kann es, weil die Liebe alles kann.
Und wie wirkt sein Wort auf die Gefangnen? Nun, natürlich heißt es
hier gerade so gut wie anderwärts: „Vierfach ist das Ackerfeld." Nicht alle
merken so gespannt auf, wie dort der hübsche junge Mensch mit dein frischen,
fast rosigen Gesicht, der mit seinen sonnigen hellblauen Friesenaugen den: Pastor
fast jedes Wort von deu Lippen zu saugen scheint, oder wie jener ältere, der
f" gern, ach so brennend gern glauben möchte, was er heute hört, was er
aus diesem Munde so oft schon gehört hat. Mancher brütet stumpf vor sich
hin, nur hier und da durch einen wärmern Ton der Stimme, durch ein un-
gewohntes Wort oder durch sonst einen äußern Anstoß veranlaßt, aufzuhorchen
und eine Weile zuzuhören, bis er wieder in sein altes Brüten zurückfällt.
Mancher andre merkt absichtlich nicht auf, aus Opposition gegen das ganze
Wesen, das ganze Räderwerk, das ihn gefaßt hat und gefangen hält. Aber
heute, am Silvesterabend, will es doch so recht nicht glücken mit der Unauf¬
merksamkeit. Es sind gar eigne seltsame Gedanken, die so ein brennender
Christbaum, die das nahe Jahresende, die Jahreswende weckt. „Werde ich
uoch hier sein übers Jahr, oder wird man mich bis dahin schon hinausgetragen
haben auf den kleinen kahlen Zuchthausfriedhof, in einem der engen schwarzen
Kasten, die ich selbst neulich in der Tischlerwerkstatt habe zimmern helfen —
unter rohen Witzen und frivolen Späßen. Wie schnell das hier gehn kann!"
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