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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Die wirtschaftliche Lage Rußlands

Ausfuhrzahl immer das Spiegelbild der letzten Ernte sein müßte. Man erfährt
vielmehr, dnß trotz einer Steigerung der Ernten von 1897 bis 1899 die Aus¬
fuhr in den drei entsprechenden Rechnungsjahren gefallen ist, denn aber bis
1901/02 steigt, trotz zurückgehender Ernten.

Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Ernte, also Produktion,
und Export muß zunächst festgestellt werden, das; das russische Zentralkomitee
zur Hebung des Notstands im Schwarzerdegebiet als Mindestjahresbedarf für
den Kopf der Bevölkerung 300 Kilogramm Getreide für notwendig erachtet
Hut. Zieht man, unter Zugrundelegung dieser Zahl, für den Gesamtgetreidc-
verbrauch der Bevölkerung Rußlands Saatgetreide und Ausfuhr von der
jedesmaligen Jahreserute ab, so erfährt mau, daß für den Verbrauch des
^viles

fehlten: mehr vorhanden waren:
in Mill. Zentnern:
4 S 1897/98 179,9 1898/99 14,6 1899/1900 107,0 1900/01 105,3 1901/02 135,4

Rußland hätte demnach nur im Jahre 1899/1900 soviel Getreide -- oder
etwas mehr -- ausführen dürfen, als es thatsächlich ausgeführt hat, in den
andern Jahren dagegen den Fehlbetrag in Spalte 4 weniger -- das heißt
also für die Jahre' 1897/98 und 1901/02 hätte es noch Getreide einführen
"U-sseu, wenn für den Kopf das Mindestmaß von 300 Kilogramm vorhanden
sein sollte. Thatsächlich sind zum Verbrauch für Kopf und Jahr geblieben
i"> Durchschnitt dieser fünf Jahre 270 Kilogramm, wogegen der Getreide-
Verbrauch in Durchschnitt pro Kopf beträgt in Österreich-Ungarn 397 Kilo¬
gramm, in England 440 Kilogramm, in Deutschland 403 Kilogramm, in
Frankreich 560 Kilogramm, in Dänemark 950 Kilogramm, in den Vereinigten
Staaten 1031 Kilogramm. Wenn hierbei auch, besonders in Nordamerika
u"d Dänemark, Getreide in erhöhtem Maße zu Gewerbezmcckeu. Brennereien,
Brauereien usw.. sowie zur Viehfütteruug benutzt wird, so muß doch die in
Nußland hierfür verwandte Menge, wenn sie auch geringer ist, ebenfalls von
be". für den Kopf verbleibenden Getreide bestritten werden. Zieht man hierbei
"och in Betracht, daß sich der reiche Bürger deu Luxus des Sattessens - in
Rußland kann mans kaum anders nennen - i.i vollem Maße erlaubt, so kommt
zu dem Schluß, daß der arme Mann, der Bauer uoch acht einmal die
27" Kilogramm im Durchschnitt der letzte" fünf Jahre verbraucht hat. also
auf deutsch: fast beständig gehungert hat.

Daß thatsächlich der ärmere Bauer zumeist in dieser traurigen Lage >se.
ist allgemein bekannt, nicht aber, welchen Grad und welche Ausdehnung dieser
Zustand oft erreicht. Ohne daß in Einzelheiten eil.gegangen wird, soll hier nnr
Mvähnt werden, daß sich allem der letzte Notstand (1901/02) auf fünfzehn euro¬
päische Gouvernements mit 35 Millionen Einwohnern und das ganze Getreide
bauende Westsibirien mit 5'/.. Millionen Einwohnern erstreckt hat. und daß
b'e Staatsanfwendnngen (in Rußland leistet außerdem die Privathilfe oft mehr
als der Staat) dafür 27^/.. Millionen Rubel überstiegen haben. (Preußen hat


Die wirtschaftliche Lage Rußlands

Ausfuhrzahl immer das Spiegelbild der letzten Ernte sein müßte. Man erfährt
vielmehr, dnß trotz einer Steigerung der Ernten von 1897 bis 1899 die Aus¬
fuhr in den drei entsprechenden Rechnungsjahren gefallen ist, denn aber bis
1901/02 steigt, trotz zurückgehender Ernten.

Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Ernte, also Produktion,
und Export muß zunächst festgestellt werden, das; das russische Zentralkomitee
zur Hebung des Notstands im Schwarzerdegebiet als Mindestjahresbedarf für
den Kopf der Bevölkerung 300 Kilogramm Getreide für notwendig erachtet
Hut. Zieht man, unter Zugrundelegung dieser Zahl, für den Gesamtgetreidc-
verbrauch der Bevölkerung Rußlands Saatgetreide und Ausfuhr von der
jedesmaligen Jahreserute ab, so erfährt mau, daß für den Verbrauch des
^viles

fehlten: mehr vorhanden waren:
in Mill. Zentnern:
4 S 1897/98 179,9 1898/99 14,6 1899/1900 107,0 1900/01 105,3 1901/02 135,4

Rußland hätte demnach nur im Jahre 1899/1900 soviel Getreide — oder
etwas mehr — ausführen dürfen, als es thatsächlich ausgeführt hat, in den
andern Jahren dagegen den Fehlbetrag in Spalte 4 weniger — das heißt
also für die Jahre' 1897/98 und 1901/02 hätte es noch Getreide einführen
"U-sseu, wenn für den Kopf das Mindestmaß von 300 Kilogramm vorhanden
sein sollte. Thatsächlich sind zum Verbrauch für Kopf und Jahr geblieben
i"> Durchschnitt dieser fünf Jahre 270 Kilogramm, wogegen der Getreide-
Verbrauch in Durchschnitt pro Kopf beträgt in Österreich-Ungarn 397 Kilo¬
gramm, in England 440 Kilogramm, in Deutschland 403 Kilogramm, in
Frankreich 560 Kilogramm, in Dänemark 950 Kilogramm, in den Vereinigten
Staaten 1031 Kilogramm. Wenn hierbei auch, besonders in Nordamerika
u»d Dänemark, Getreide in erhöhtem Maße zu Gewerbezmcckeu. Brennereien,
Brauereien usw.. sowie zur Viehfütteruug benutzt wird, so muß doch die in
Nußland hierfür verwandte Menge, wenn sie auch geringer ist, ebenfalls von
be». für den Kopf verbleibenden Getreide bestritten werden. Zieht man hierbei
"och in Betracht, daß sich der reiche Bürger deu Luxus des Sattessens - in
Rußland kann mans kaum anders nennen - i.i vollem Maße erlaubt, so kommt
zu dem Schluß, daß der arme Mann, der Bauer uoch acht einmal die
27» Kilogramm im Durchschnitt der letzte» fünf Jahre verbraucht hat. also
auf deutsch: fast beständig gehungert hat.

Daß thatsächlich der ärmere Bauer zumeist in dieser traurigen Lage >se.
ist allgemein bekannt, nicht aber, welchen Grad und welche Ausdehnung dieser
Zustand oft erreicht. Ohne daß in Einzelheiten eil.gegangen wird, soll hier nnr
Mvähnt werden, daß sich allem der letzte Notstand (1901/02) auf fünfzehn euro¬
päische Gouvernements mit 35 Millionen Einwohnern und das ganze Getreide
bauende Westsibirien mit 5'/.. Millionen Einwohnern erstreckt hat. und daß
b'e Staatsanfwendnngen (in Rußland leistet außerdem die Privathilfe oft mehr
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[0071] Die wirtschaftliche Lage Rußlands Ausfuhrzahl immer das Spiegelbild der letzten Ernte sein müßte. Man erfährt vielmehr, dnß trotz einer Steigerung der Ernten von 1897 bis 1899 die Aus¬ fuhr in den drei entsprechenden Rechnungsjahren gefallen ist, denn aber bis 1901/02 steigt, trotz zurückgehender Ernten. Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Ernte, also Produktion, und Export muß zunächst festgestellt werden, das; das russische Zentralkomitee zur Hebung des Notstands im Schwarzerdegebiet als Mindestjahresbedarf für den Kopf der Bevölkerung 300 Kilogramm Getreide für notwendig erachtet Hut. Zieht man, unter Zugrundelegung dieser Zahl, für den Gesamtgetreidc- verbrauch der Bevölkerung Rußlands Saatgetreide und Ausfuhr von der jedesmaligen Jahreserute ab, so erfährt mau, daß für den Verbrauch des ^viles fehlten: mehr vorhanden waren: in Mill. Zentnern: 4 S 1897/98 179,9 1898/99 14,6 1899/1900 107,0 1900/01 105,3 1901/02 135,4 Rußland hätte demnach nur im Jahre 1899/1900 soviel Getreide — oder etwas mehr — ausführen dürfen, als es thatsächlich ausgeführt hat, in den andern Jahren dagegen den Fehlbetrag in Spalte 4 weniger — das heißt also für die Jahre' 1897/98 und 1901/02 hätte es noch Getreide einführen "U-sseu, wenn für den Kopf das Mindestmaß von 300 Kilogramm vorhanden sein sollte. Thatsächlich sind zum Verbrauch für Kopf und Jahr geblieben i"> Durchschnitt dieser fünf Jahre 270 Kilogramm, wogegen der Getreide- Verbrauch in Durchschnitt pro Kopf beträgt in Österreich-Ungarn 397 Kilo¬ gramm, in England 440 Kilogramm, in Deutschland 403 Kilogramm, in Frankreich 560 Kilogramm, in Dänemark 950 Kilogramm, in den Vereinigten Staaten 1031 Kilogramm. Wenn hierbei auch, besonders in Nordamerika u»d Dänemark, Getreide in erhöhtem Maße zu Gewerbezmcckeu. Brennereien, Brauereien usw.. sowie zur Viehfütteruug benutzt wird, so muß doch die in Nußland hierfür verwandte Menge, wenn sie auch geringer ist, ebenfalls von be». für den Kopf verbleibenden Getreide bestritten werden. Zieht man hierbei "och in Betracht, daß sich der reiche Bürger deu Luxus des Sattessens - in Rußland kann mans kaum anders nennen - i.i vollem Maße erlaubt, so kommt zu dem Schluß, daß der arme Mann, der Bauer uoch acht einmal die 27» Kilogramm im Durchschnitt der letzte» fünf Jahre verbraucht hat. also auf deutsch: fast beständig gehungert hat. Daß thatsächlich der ärmere Bauer zumeist in dieser traurigen Lage >se. ist allgemein bekannt, nicht aber, welchen Grad und welche Ausdehnung dieser Zustand oft erreicht. Ohne daß in Einzelheiten eil.gegangen wird, soll hier nnr Mvähnt werden, daß sich allem der letzte Notstand (1901/02) auf fünfzehn euro¬ päische Gouvernements mit 35 Millionen Einwohnern und das ganze Getreide bauende Westsibirien mit 5'/.. Millionen Einwohnern erstreckt hat. und daß b'e Staatsanfwendnngen (in Rußland leistet außerdem die Privathilfe oft mehr als der Staat) dafür 27^/.. Millionen Rubel überstiegen haben. (Preußen hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/71>, abgerufen am 01.09.2024.