Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.Reichsfincmzen und partiknlarisinus "zentrifugalen Elements" im Reiche wieder etwas mehr die Augen zu öffnen, Über die verfassungsmüßige Grundlage der Reichssinanzwirtschaft ist fol¬ Zur Bestreitung aller gemeinsamen Ausgaben dienen zunächst die etwaigen Obwohl die staatsrechtlichen Autoritäten über den Inhalt der meisten Reichsfincmzen und partiknlarisinus „zentrifugalen Elements" im Reiche wieder etwas mehr die Augen zu öffnen, Über die verfassungsmüßige Grundlage der Reichssinanzwirtschaft ist fol¬ Zur Bestreitung aller gemeinsamen Ausgaben dienen zunächst die etwaigen Obwohl die staatsrechtlichen Autoritäten über den Inhalt der meisten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0462" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239250"/> <fw type="header" place="top"> Reichsfincmzen und partiknlarisinus</fw><lb/> <p xml:id="ID_2283" prev="#ID_2282"> „zentrifugalen Elements" im Reiche wieder etwas mehr die Augen zu öffnen,<lb/> und damit zugleich über die große Gefährlichkeit des „föderalistischen Zuges,"<lb/> der mehr und mehr im deutschen Volke um sich zu greifen scheint. Und vollends<lb/> über die Gefahr eines solchen Umsichgreifens unter den deutschen Fürsten, wovor<lb/> uns der Himmel bewahren möge. Es ist gerade jetzt bedenklich, dieses „zentri¬<lb/> fugale Element" durch gewagte Interpretationen aus der Reichsverfassung heraus¬<lb/> bringen zu wollen. Man provoziert damit nur den Partikularismus und setzt<lb/> ihn nachträglich ins Recht. Wir bekennen offen, aber mit dem tiefsten Bedauern,<lb/> daß z. B. Max von Seydel in seinem Kommentar zur Reichsverfassung gegen¬<lb/> über den Unitariern vom juristischen Standpunkt — um den es sich dort allein<lb/> handelt — meist im Recht ist. Aber das steht für uns fest: hätte Wilhelm I.<lb/> schon zu Neujahr 1871 die von Seydel unanfechtbar dargelegten Konsequenzen<lb/> der zentrifugalen Einflüsse auf die Reichsgründung gekannt, dann wäre es<lb/> damals zur staatsrechtlichen Etablierung des Deutschen Reichs und des deutschen<lb/> Kaisertums überhaupt nicht gekommen, sondern es hätten erst weitere, vielleicht<lb/> nicht schmerzlose politische Entscheidungen stattfinden müssen, die dem unitarischen<lb/> Willen der großen Mehrheit der deutschen Fürsten und des deutschen Volkes<lb/> das Übergewicht über den zentrifugalen Willen einer sehr kleinen, aber auf ihre<lb/> völkerrechtliche Freiheit pochenden Minderheit verschafft hatten. Jetzt haben<lb/> wir nun einmal die ausgesprochen „föderalistische" Verfassung, und wir müssen<lb/> damit rechnen. Aber noch weiter als diese Verfassung selbst geht, sollen die<lb/> Herren Föderalisten nicht gehn dürfen, ohne sich den Vorwurf der Reichs-<lb/> gegucrschaft gefallen lassen zu müssen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2284"> Über die verfassungsmüßige Grundlage der Reichssinanzwirtschaft ist fol¬<lb/> gendes zu bemerken. Nach Artikel 4 Nummer 2 der Reichsverfassung unter¬<lb/> liegen der Gesetzgebung des Reichs: „Die Zoll- und Handelsgesetzgebung und<lb/> die für Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern." Der aus der Ver¬<lb/> fassung des Norddeutschen Bundes herübergenommene Artikel 70 der Reichs-<lb/> verfassung lautet:</p><lb/> <p xml:id="ID_2285"> Zur Bestreitung aller gemeinsamen Ausgaben dienen zunächst die etwaigen<lb/> Überschüsse der Vorjahre, sowie die aus den Zollen, den gemeinschaftlichen Ver¬<lb/> brauchssteuern und aus dem Post- und Telegraphenwesen fließenden gemeinschaft¬<lb/> lichen Einnahmen. Insoweit dieselben durch diese Einnahmen nicht gedeckt werden,<lb/> sind sie, solange Ncichssteuern nicht eingeführt sind, durch Beiträge der einzelnen<lb/> Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen, welche bis zur Hohe<lb/> des budgetmäßigen Betrages durch den Reichskanzler ausgeschrieben werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2286" next="#ID_2287"> Obwohl die staatsrechtlichen Autoritäten über den Inhalt der meisten<lb/> Artikel der Reichsverfassung sehr verschiedner Meinung sind, stimmen sie doch<lb/> über den Inhalt des Artikels 70 in folgenden Punkt'en, auf die es hier an¬<lb/> kommt, so ziemlich überein: daß erstens die Madrid'ularbeitrüge nur als mi<lb/> Provisorium eingeführt worden sind, das durch ausreichende eigne Einnahmen<lb/> des Reichs (Steuern) als Definitionen ersetzt werden sollte; daß sich zweitens<lb/> das Recht des Reichs zur Einführung von Steuern auch auf direkte Steuern<lb/> erstreckt, und daß sich drittens die Matrikularbeitragspflicht der Einzelstaaten<lb/> auch ans die Deckung der Fehlbeträge bezieht, die sich ergeben, wenn die eignen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0462]
Reichsfincmzen und partiknlarisinus
„zentrifugalen Elements" im Reiche wieder etwas mehr die Augen zu öffnen,
und damit zugleich über die große Gefährlichkeit des „föderalistischen Zuges,"
der mehr und mehr im deutschen Volke um sich zu greifen scheint. Und vollends
über die Gefahr eines solchen Umsichgreifens unter den deutschen Fürsten, wovor
uns der Himmel bewahren möge. Es ist gerade jetzt bedenklich, dieses „zentri¬
fugale Element" durch gewagte Interpretationen aus der Reichsverfassung heraus¬
bringen zu wollen. Man provoziert damit nur den Partikularismus und setzt
ihn nachträglich ins Recht. Wir bekennen offen, aber mit dem tiefsten Bedauern,
daß z. B. Max von Seydel in seinem Kommentar zur Reichsverfassung gegen¬
über den Unitariern vom juristischen Standpunkt — um den es sich dort allein
handelt — meist im Recht ist. Aber das steht für uns fest: hätte Wilhelm I.
schon zu Neujahr 1871 die von Seydel unanfechtbar dargelegten Konsequenzen
der zentrifugalen Einflüsse auf die Reichsgründung gekannt, dann wäre es
damals zur staatsrechtlichen Etablierung des Deutschen Reichs und des deutschen
Kaisertums überhaupt nicht gekommen, sondern es hätten erst weitere, vielleicht
nicht schmerzlose politische Entscheidungen stattfinden müssen, die dem unitarischen
Willen der großen Mehrheit der deutschen Fürsten und des deutschen Volkes
das Übergewicht über den zentrifugalen Willen einer sehr kleinen, aber auf ihre
völkerrechtliche Freiheit pochenden Minderheit verschafft hatten. Jetzt haben
wir nun einmal die ausgesprochen „föderalistische" Verfassung, und wir müssen
damit rechnen. Aber noch weiter als diese Verfassung selbst geht, sollen die
Herren Föderalisten nicht gehn dürfen, ohne sich den Vorwurf der Reichs-
gegucrschaft gefallen lassen zu müssen.
Über die verfassungsmüßige Grundlage der Reichssinanzwirtschaft ist fol¬
gendes zu bemerken. Nach Artikel 4 Nummer 2 der Reichsverfassung unter¬
liegen der Gesetzgebung des Reichs: „Die Zoll- und Handelsgesetzgebung und
die für Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern." Der aus der Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes herübergenommene Artikel 70 der Reichs-
verfassung lautet:
Zur Bestreitung aller gemeinsamen Ausgaben dienen zunächst die etwaigen
Überschüsse der Vorjahre, sowie die aus den Zollen, den gemeinschaftlichen Ver¬
brauchssteuern und aus dem Post- und Telegraphenwesen fließenden gemeinschaft¬
lichen Einnahmen. Insoweit dieselben durch diese Einnahmen nicht gedeckt werden,
sind sie, solange Ncichssteuern nicht eingeführt sind, durch Beiträge der einzelnen
Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen, welche bis zur Hohe
des budgetmäßigen Betrages durch den Reichskanzler ausgeschrieben werden.
Obwohl die staatsrechtlichen Autoritäten über den Inhalt der meisten
Artikel der Reichsverfassung sehr verschiedner Meinung sind, stimmen sie doch
über den Inhalt des Artikels 70 in folgenden Punkt'en, auf die es hier an¬
kommt, so ziemlich überein: daß erstens die Madrid'ularbeitrüge nur als mi
Provisorium eingeführt worden sind, das durch ausreichende eigne Einnahmen
des Reichs (Steuern) als Definitionen ersetzt werden sollte; daß sich zweitens
das Recht des Reichs zur Einführung von Steuern auch auf direkte Steuern
erstreckt, und daß sich drittens die Matrikularbeitragspflicht der Einzelstaaten
auch ans die Deckung der Fehlbeträge bezieht, die sich ergeben, wenn die eignen
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