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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unsern, heutigen Volksleben

Darauf setzte sich ein engerer Kreis von Stadtvätern und sonstigen Opti¬
malen zusammen und besprach den Schlachtplan für diese auszuführenden Lebens¬
aufgaben, ohne zu beachten, daß der Stadtsekretär nahe dabei im Winkel saß und
schnarchte.

Es ist in dieser unvollkommnen Welt nun einmal so eingerichtet, daß auf
Zeiten der Erhebung Depressionen, auf Feste Verdruß und Widerwärtigkeiten folgen.
Das Signal dazu gab das sozialistische Organ der benachbarten Kreisstadt, das
einen Bericht über das Polkenröder Bürgermeisterfest brachte, worin folgende Wen¬
dungen vorkamen: Der Bürgermeister in Polkenrvda, ein bekannter skrupelloser
Reaktionär echter Sorte, hat sich zu seiner silbernen Hochzeit von seiner schlappen
und "bhznntdienernden" Bürgerschaft anfeiern und beschweifwedeln lassen. Es Hütte
uicht viel gefehlt, so hätte man diesen" würdigen Herrn zu seinem Ruheposten auch
einen Nuhesessel geschenkt. Aber die Gesinnungstüchtigkeit unsrer Genossen hat
Wenigstens diesen Skandal verhindert. Wir würden die Sache nicht berührt, sondern
jene klägliche Menschensorte ihrer würdelosen Heuchelei und Kriecherei überlassen
haben, wenn nicht an diesem Abend eine Verschwörung gegen das Wohl der Bürger¬
schaft angesponnen worden wäre. -- Folgte die Erzählung des ganzen Schlachtplatts,
der ersonnen war, den Anschluß der Stadt um die projektierte Eisenbahnlinie und
die Vereinigung der Privatschule mit der Lateinklasse des Rektors durchzusehen.

Dieser Artikel schlug wie eine Bombe ein. Der Bürgermeister war außer sich,
besonders darüber, daß jemand aus dem engen Kreise der Freunde Verrat geübt
hatte. Einer sah den andern mißtrauisch an, an den Stadtsekretär dachte niemand.
Und die Freunde, die noch vor kurzem begeistert der Lüge und dem Wahn den
^ob gesungen hatten, ließen die Ohren hängen und überlegten schon, ob es nicht
besser sei, etwaigen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehn und dem Bürger¬
meister mit seinen Plänen die Sorge allein zu überlassen, wie er durchkomme.

Polkenrvda war noch in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein
seines, in einem Winkel einer bergigen Gegend liegendes Landstädtchen gewesen.
Die Gegend war ausgezeichnet schön;'Wald, Wiese, frische Luft, klares Wasser gab
^ in Überfluß, aber die Äcker waren steinig. Nur der im Thule liegende Boden
^'ar gut, aber der reichte nicht aus, die Stadt zu ernähren. Es war darum für
-pvlkeurodci eine Wohlthat gewesen, daß sich dort ans kleinen Anfängen eine ansehn-
"che Handschuhfabrikation entwickelt hatte, die den armen Leuten Arbeit verschaffte,
"der auch viele fremde Arbeiter in den Ort zog und so den Charakter der Stadt
durchaus änderte. Polkenrvda wuchs um das Doppelte der Einwohnerschaft; Polken¬
rvda erhielt eine Villenvorstadt, die sich malerisch am AbHange des Mäuseberges
Ausdehnte. Die Villenbewohner waren zum Teil reich gewordne Handschuhfabrikanten,
^um Teil Leute, die wegen der schönen und gesunden Lage der Stadt dahin gezogen
"urcu. Schon redete man alles Ernstes davon, daß Polkenrvda ein beliebter
T^vhnort für pensionierte Generale und sonstige Exzellenzen werden würde, und
Ichor fing an, auf Spekulation Landhäuser zu errichten. Polkenrvda baute eine
leue Volksschule, die jedem Fremden als Sehenswürdigkeit gezeigt wurde, pflasterte
!"Ne Hauptstraßen neu und war einmal nahe daran gewesen, Gasbeleuchtung einzu¬
führen. Die strebsame Polkenröder Bürgerschaft that' eine Anzahl neuer Läden auf,
vnrunter war -- der Stolz der Stadt -- der Schlegclmilchsche Mnnnfakturwaren-
aven in der Hainstraße, wo alles zu haben war, was ein Polkenröder Herz nur
r reuen konnte, vom Smnmetjacket bis zur snneru Gurke, ein Laden mit wirklichen
^plegelscheibiN und so elegant, daß man sich fast in die.Kreisstadt versetzt glauben
^prüde.

Eins blieb zu beklagen. Polkenrvda hatte keine Eisenbahnverbindung. Unten
n Lande ging eine große Linie vorüber, aber es hatte sich noch kein Mensch ge¬
sunden, der es für vorteilhaft gehalten hätte, eine Bahn bis hinauf in den Polkcn-
wder Winkel zu bauen. Und so war Pvllenrode ans sich und die umliegende Gegend
"w diese auf Polkenrvda angewiesen. Dies zeigte sich darin, daß die Bewohner


Grenzboten IV 190Z ^
Skizzen aus unsern, heutigen Volksleben

Darauf setzte sich ein engerer Kreis von Stadtvätern und sonstigen Opti¬
malen zusammen und besprach den Schlachtplan für diese auszuführenden Lebens¬
aufgaben, ohne zu beachten, daß der Stadtsekretär nahe dabei im Winkel saß und
schnarchte.

Es ist in dieser unvollkommnen Welt nun einmal so eingerichtet, daß auf
Zeiten der Erhebung Depressionen, auf Feste Verdruß und Widerwärtigkeiten folgen.
Das Signal dazu gab das sozialistische Organ der benachbarten Kreisstadt, das
einen Bericht über das Polkenröder Bürgermeisterfest brachte, worin folgende Wen¬
dungen vorkamen: Der Bürgermeister in Polkenrvda, ein bekannter skrupelloser
Reaktionär echter Sorte, hat sich zu seiner silbernen Hochzeit von seiner schlappen
und „bhznntdienernden" Bürgerschaft anfeiern und beschweifwedeln lassen. Es Hütte
uicht viel gefehlt, so hätte man diesen» würdigen Herrn zu seinem Ruheposten auch
einen Nuhesessel geschenkt. Aber die Gesinnungstüchtigkeit unsrer Genossen hat
Wenigstens diesen Skandal verhindert. Wir würden die Sache nicht berührt, sondern
jene klägliche Menschensorte ihrer würdelosen Heuchelei und Kriecherei überlassen
haben, wenn nicht an diesem Abend eine Verschwörung gegen das Wohl der Bürger¬
schaft angesponnen worden wäre. — Folgte die Erzählung des ganzen Schlachtplatts,
der ersonnen war, den Anschluß der Stadt um die projektierte Eisenbahnlinie und
die Vereinigung der Privatschule mit der Lateinklasse des Rektors durchzusehen.

Dieser Artikel schlug wie eine Bombe ein. Der Bürgermeister war außer sich,
besonders darüber, daß jemand aus dem engen Kreise der Freunde Verrat geübt
hatte. Einer sah den andern mißtrauisch an, an den Stadtsekretär dachte niemand.
Und die Freunde, die noch vor kurzem begeistert der Lüge und dem Wahn den
^ob gesungen hatten, ließen die Ohren hängen und überlegten schon, ob es nicht
besser sei, etwaigen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehn und dem Bürger¬
meister mit seinen Plänen die Sorge allein zu überlassen, wie er durchkomme.

Polkenrvda war noch in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein
seines, in einem Winkel einer bergigen Gegend liegendes Landstädtchen gewesen.
Die Gegend war ausgezeichnet schön;'Wald, Wiese, frische Luft, klares Wasser gab
^ in Überfluß, aber die Äcker waren steinig. Nur der im Thule liegende Boden
^'ar gut, aber der reichte nicht aus, die Stadt zu ernähren. Es war darum für
-pvlkeurodci eine Wohlthat gewesen, daß sich dort ans kleinen Anfängen eine ansehn-
"che Handschuhfabrikation entwickelt hatte, die den armen Leuten Arbeit verschaffte,
"der auch viele fremde Arbeiter in den Ort zog und so den Charakter der Stadt
durchaus änderte. Polkenrvda wuchs um das Doppelte der Einwohnerschaft; Polken¬
rvda erhielt eine Villenvorstadt, die sich malerisch am AbHange des Mäuseberges
Ausdehnte. Die Villenbewohner waren zum Teil reich gewordne Handschuhfabrikanten,
^um Teil Leute, die wegen der schönen und gesunden Lage der Stadt dahin gezogen
»urcu. Schon redete man alles Ernstes davon, daß Polkenrvda ein beliebter
T^vhnort für pensionierte Generale und sonstige Exzellenzen werden würde, und
Ichor fing an, auf Spekulation Landhäuser zu errichten. Polkenrvda baute eine
leue Volksschule, die jedem Fremden als Sehenswürdigkeit gezeigt wurde, pflasterte
!»Ne Hauptstraßen neu und war einmal nahe daran gewesen, Gasbeleuchtung einzu¬
führen. Die strebsame Polkenröder Bürgerschaft that' eine Anzahl neuer Läden auf,
vnrunter war — der Stolz der Stadt — der Schlegclmilchsche Mnnnfakturwaren-
aven in der Hainstraße, wo alles zu haben war, was ein Polkenröder Herz nur
r reuen konnte, vom Smnmetjacket bis zur snneru Gurke, ein Laden mit wirklichen
^plegelscheibiN und so elegant, daß man sich fast in die.Kreisstadt versetzt glauben
^prüde.

Eins blieb zu beklagen. Polkenrvda hatte keine Eisenbahnverbindung. Unten
n Lande ging eine große Linie vorüber, aber es hatte sich noch kein Mensch ge¬
sunden, der es für vorteilhaft gehalten hätte, eine Bahn bis hinauf in den Polkcn-
wder Winkel zu bauen. Und so war Pvllenrode ans sich und die umliegende Gegend
"w diese auf Polkenrvda angewiesen. Dies zeigte sich darin, daß die Bewohner


Grenzboten IV 190Z ^
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[0443] Skizzen aus unsern, heutigen Volksleben Darauf setzte sich ein engerer Kreis von Stadtvätern und sonstigen Opti¬ malen zusammen und besprach den Schlachtplan für diese auszuführenden Lebens¬ aufgaben, ohne zu beachten, daß der Stadtsekretär nahe dabei im Winkel saß und schnarchte. Es ist in dieser unvollkommnen Welt nun einmal so eingerichtet, daß auf Zeiten der Erhebung Depressionen, auf Feste Verdruß und Widerwärtigkeiten folgen. Das Signal dazu gab das sozialistische Organ der benachbarten Kreisstadt, das einen Bericht über das Polkenröder Bürgermeisterfest brachte, worin folgende Wen¬ dungen vorkamen: Der Bürgermeister in Polkenrvda, ein bekannter skrupelloser Reaktionär echter Sorte, hat sich zu seiner silbernen Hochzeit von seiner schlappen und „bhznntdienernden" Bürgerschaft anfeiern und beschweifwedeln lassen. Es Hütte uicht viel gefehlt, so hätte man diesen» würdigen Herrn zu seinem Ruheposten auch einen Nuhesessel geschenkt. Aber die Gesinnungstüchtigkeit unsrer Genossen hat Wenigstens diesen Skandal verhindert. Wir würden die Sache nicht berührt, sondern jene klägliche Menschensorte ihrer würdelosen Heuchelei und Kriecherei überlassen haben, wenn nicht an diesem Abend eine Verschwörung gegen das Wohl der Bürger¬ schaft angesponnen worden wäre. — Folgte die Erzählung des ganzen Schlachtplatts, der ersonnen war, den Anschluß der Stadt um die projektierte Eisenbahnlinie und die Vereinigung der Privatschule mit der Lateinklasse des Rektors durchzusehen. Dieser Artikel schlug wie eine Bombe ein. Der Bürgermeister war außer sich, besonders darüber, daß jemand aus dem engen Kreise der Freunde Verrat geübt hatte. Einer sah den andern mißtrauisch an, an den Stadtsekretär dachte niemand. Und die Freunde, die noch vor kurzem begeistert der Lüge und dem Wahn den ^ob gesungen hatten, ließen die Ohren hängen und überlegten schon, ob es nicht besser sei, etwaigen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehn und dem Bürger¬ meister mit seinen Plänen die Sorge allein zu überlassen, wie er durchkomme. Polkenrvda war noch in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein seines, in einem Winkel einer bergigen Gegend liegendes Landstädtchen gewesen. Die Gegend war ausgezeichnet schön;'Wald, Wiese, frische Luft, klares Wasser gab ^ in Überfluß, aber die Äcker waren steinig. Nur der im Thule liegende Boden ^'ar gut, aber der reichte nicht aus, die Stadt zu ernähren. Es war darum für -pvlkeurodci eine Wohlthat gewesen, daß sich dort ans kleinen Anfängen eine ansehn- "che Handschuhfabrikation entwickelt hatte, die den armen Leuten Arbeit verschaffte, "der auch viele fremde Arbeiter in den Ort zog und so den Charakter der Stadt durchaus änderte. Polkenrvda wuchs um das Doppelte der Einwohnerschaft; Polken¬ rvda erhielt eine Villenvorstadt, die sich malerisch am AbHange des Mäuseberges Ausdehnte. Die Villenbewohner waren zum Teil reich gewordne Handschuhfabrikanten, ^um Teil Leute, die wegen der schönen und gesunden Lage der Stadt dahin gezogen »urcu. Schon redete man alles Ernstes davon, daß Polkenrvda ein beliebter T^vhnort für pensionierte Generale und sonstige Exzellenzen werden würde, und Ichor fing an, auf Spekulation Landhäuser zu errichten. Polkenrvda baute eine leue Volksschule, die jedem Fremden als Sehenswürdigkeit gezeigt wurde, pflasterte !»Ne Hauptstraßen neu und war einmal nahe daran gewesen, Gasbeleuchtung einzu¬ führen. Die strebsame Polkenröder Bürgerschaft that' eine Anzahl neuer Läden auf, vnrunter war — der Stolz der Stadt — der Schlegclmilchsche Mnnnfakturwaren- aven in der Hainstraße, wo alles zu haben war, was ein Polkenröder Herz nur r reuen konnte, vom Smnmetjacket bis zur snneru Gurke, ein Laden mit wirklichen ^plegelscheibiN und so elegant, daß man sich fast in die.Kreisstadt versetzt glauben ^prüde. Eins blieb zu beklagen. Polkenrvda hatte keine Eisenbahnverbindung. Unten n Lande ging eine große Linie vorüber, aber es hatte sich noch kein Mensch ge¬ sunden, der es für vorteilhaft gehalten hätte, eine Bahn bis hinauf in den Polkcn- wder Winkel zu bauen. Und so war Pvllenrode ans sich und die umliegende Gegend "w diese auf Polkenrvda angewiesen. Dies zeigte sich darin, daß die Bewohner Grenzboten IV 190Z ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/443>, abgerufen am 01.09.2024.