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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Der Dichter der griechischen Aufklärung

regierung überzeugt ist, so rücksichtslos wendet sich andrerseits seine Kritik
gegen alle mythischen und abergläubischen Bestandteile der überlieferten Religion.
Die Sagen von der Helena und dem trojanischen Kriege, von den Tantaliden
und der Iphigenie, an denen die Zeitgenossen des Dichters zumeist noch mit
gläubigem Vertrauen hingen, behandelt er mit souveräner Freiheit; er ver¬
wirft sie entweder ganz oder sucht sie auf natürliche Weise zu erklären. Der
Wahnsinn des Orestes z. B., den die andern Tragiker als ein von den Göttern
verhängtes Übel hinstellen, ist bei Euripides eine rein pathologische Erscheinung
geworden. Der Dichter scheut sich auch nicht, den letzten Schritt zu thun und
die polytheistische Götterwelt, die ein so wichtiges Element dieser Sagen ist
und den Menschen oft so übel mitspielt, als Gebilde der menschlichen Phantasie
zu bezeichnen; denn "wenn Götter etwas Böses thun, sinds Götter nicht."

Auch bei Sophokles schließen Göttlichkeit und Sünde einander aus, aber
dieser Dichter zieht daraus den entgegengesetzten Schluß, er sagt an einer
Stelle: "Was Götter auch betreiben, niemals ist es bös." Damit hängt es
zusammen, daß unser Tragiker die von den Griechen sonst so hochgeschätzte
Weissagekunst an zahlreichen Stellen seiner Dramen verwirft; bezeichnend ist
vor allen sein Urteil in der Iphigenie in Antis 956 f.:


Und was ist ein Scher überhaupt?
Ein Mensch, der meistens Lügen, selten Wahres spricht.

Ihm ist "Geist der beste Seher und Besonnenheit."

Ebenso ist er ein Feind der Opfer und der Weihgeschenke, und sogar
das Gebet kommt schlecht bei ihm weg.

läßt er die Hekabe in den Trocrinnen sagen.

So verfolgt der Dichter in allen Dramen, wenn auch nicht immer auf
den ersten Blick erkennbar, eine durchaus rationalistische Tendenz, und es ist
ein besondres Verdienst Nestles, dies auch für die Bakchen, eins der letzten
Stücke des Dichters, das erst nach seinem Tode aufgeführt wurde, nachgewiesen
zu haben. In diesem Drama, dessen Motiv die grausame Bestrafung des
Thebanerkönigs Pentheus für seinen Unglauben an den nenerstandnen Gott
Dionysos ist (Pentheus wird von der eignen in bakchantische Naserei ver¬
setzten Mutter zerrissen), sehen nämlich noch hente namhafte Forscher, wie
E. Rohde, O. Ribbeck, Th. Gomperz und andre, eine Umkehr des Dichters von
seinen bisherigen religiösen Anschauungen und eine Rückkehr zum alten Volks¬
glauben. Dagegen zeigt nun Resele in ausführlicher Darlegung, daß es dem
Dichter nur darauf ankommt, in dem Pentheus ein Beispiel von brutaler, aber
vergeblicher Auflehnung gegen eine neu aufkommende Geistesrichtung zu geben,
daß dabei die Person des Dionysos ganz indifferent ist, daß dieser vielmehr
in einzelnen Zügen durchaus den sonstigen aufgeklärten Anschauungen des
Dichters von der Götterwelt entspricht.

An deu Göttern des Volksglaubens vermißt Euripides namentlich die
Gerechtigkeit, und deshalb legt er gerade diese Eigenschaft dem Weltgeist, der
nach seiner Idee alles regiert, bei, ja er identifiziert, hierin dem Heraklck


Der Dichter der griechischen Aufklärung

regierung überzeugt ist, so rücksichtslos wendet sich andrerseits seine Kritik
gegen alle mythischen und abergläubischen Bestandteile der überlieferten Religion.
Die Sagen von der Helena und dem trojanischen Kriege, von den Tantaliden
und der Iphigenie, an denen die Zeitgenossen des Dichters zumeist noch mit
gläubigem Vertrauen hingen, behandelt er mit souveräner Freiheit; er ver¬
wirft sie entweder ganz oder sucht sie auf natürliche Weise zu erklären. Der
Wahnsinn des Orestes z. B., den die andern Tragiker als ein von den Göttern
verhängtes Übel hinstellen, ist bei Euripides eine rein pathologische Erscheinung
geworden. Der Dichter scheut sich auch nicht, den letzten Schritt zu thun und
die polytheistische Götterwelt, die ein so wichtiges Element dieser Sagen ist
und den Menschen oft so übel mitspielt, als Gebilde der menschlichen Phantasie
zu bezeichnen; denn „wenn Götter etwas Böses thun, sinds Götter nicht."

Auch bei Sophokles schließen Göttlichkeit und Sünde einander aus, aber
dieser Dichter zieht daraus den entgegengesetzten Schluß, er sagt an einer
Stelle: „Was Götter auch betreiben, niemals ist es bös." Damit hängt es
zusammen, daß unser Tragiker die von den Griechen sonst so hochgeschätzte
Weissagekunst an zahlreichen Stellen seiner Dramen verwirft; bezeichnend ist
vor allen sein Urteil in der Iphigenie in Antis 956 f.:


Und was ist ein Scher überhaupt?
Ein Mensch, der meistens Lügen, selten Wahres spricht.

Ihm ist „Geist der beste Seher und Besonnenheit."

Ebenso ist er ein Feind der Opfer und der Weihgeschenke, und sogar
das Gebet kommt schlecht bei ihm weg.

läßt er die Hekabe in den Trocrinnen sagen.

So verfolgt der Dichter in allen Dramen, wenn auch nicht immer auf
den ersten Blick erkennbar, eine durchaus rationalistische Tendenz, und es ist
ein besondres Verdienst Nestles, dies auch für die Bakchen, eins der letzten
Stücke des Dichters, das erst nach seinem Tode aufgeführt wurde, nachgewiesen
zu haben. In diesem Drama, dessen Motiv die grausame Bestrafung des
Thebanerkönigs Pentheus für seinen Unglauben an den nenerstandnen Gott
Dionysos ist (Pentheus wird von der eignen in bakchantische Naserei ver¬
setzten Mutter zerrissen), sehen nämlich noch hente namhafte Forscher, wie
E. Rohde, O. Ribbeck, Th. Gomperz und andre, eine Umkehr des Dichters von
seinen bisherigen religiösen Anschauungen und eine Rückkehr zum alten Volks¬
glauben. Dagegen zeigt nun Resele in ausführlicher Darlegung, daß es dem
Dichter nur darauf ankommt, in dem Pentheus ein Beispiel von brutaler, aber
vergeblicher Auflehnung gegen eine neu aufkommende Geistesrichtung zu geben,
daß dabei die Person des Dionysos ganz indifferent ist, daß dieser vielmehr
in einzelnen Zügen durchaus den sonstigen aufgeklärten Anschauungen des
Dichters von der Götterwelt entspricht.

An deu Göttern des Volksglaubens vermißt Euripides namentlich die
Gerechtigkeit, und deshalb legt er gerade diese Eigenschaft dem Weltgeist, der
nach seiner Idee alles regiert, bei, ja er identifiziert, hierin dem Heraklck


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[0428] Der Dichter der griechischen Aufklärung regierung überzeugt ist, so rücksichtslos wendet sich andrerseits seine Kritik gegen alle mythischen und abergläubischen Bestandteile der überlieferten Religion. Die Sagen von der Helena und dem trojanischen Kriege, von den Tantaliden und der Iphigenie, an denen die Zeitgenossen des Dichters zumeist noch mit gläubigem Vertrauen hingen, behandelt er mit souveräner Freiheit; er ver¬ wirft sie entweder ganz oder sucht sie auf natürliche Weise zu erklären. Der Wahnsinn des Orestes z. B., den die andern Tragiker als ein von den Göttern verhängtes Übel hinstellen, ist bei Euripides eine rein pathologische Erscheinung geworden. Der Dichter scheut sich auch nicht, den letzten Schritt zu thun und die polytheistische Götterwelt, die ein so wichtiges Element dieser Sagen ist und den Menschen oft so übel mitspielt, als Gebilde der menschlichen Phantasie zu bezeichnen; denn „wenn Götter etwas Böses thun, sinds Götter nicht." Auch bei Sophokles schließen Göttlichkeit und Sünde einander aus, aber dieser Dichter zieht daraus den entgegengesetzten Schluß, er sagt an einer Stelle: „Was Götter auch betreiben, niemals ist es bös." Damit hängt es zusammen, daß unser Tragiker die von den Griechen sonst so hochgeschätzte Weissagekunst an zahlreichen Stellen seiner Dramen verwirft; bezeichnend ist vor allen sein Urteil in der Iphigenie in Antis 956 f.: Und was ist ein Scher überhaupt? Ein Mensch, der meistens Lügen, selten Wahres spricht. Ihm ist „Geist der beste Seher und Besonnenheit." Ebenso ist er ein Feind der Opfer und der Weihgeschenke, und sogar das Gebet kommt schlecht bei ihm weg. läßt er die Hekabe in den Trocrinnen sagen. So verfolgt der Dichter in allen Dramen, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, eine durchaus rationalistische Tendenz, und es ist ein besondres Verdienst Nestles, dies auch für die Bakchen, eins der letzten Stücke des Dichters, das erst nach seinem Tode aufgeführt wurde, nachgewiesen zu haben. In diesem Drama, dessen Motiv die grausame Bestrafung des Thebanerkönigs Pentheus für seinen Unglauben an den nenerstandnen Gott Dionysos ist (Pentheus wird von der eignen in bakchantische Naserei ver¬ setzten Mutter zerrissen), sehen nämlich noch hente namhafte Forscher, wie E. Rohde, O. Ribbeck, Th. Gomperz und andre, eine Umkehr des Dichters von seinen bisherigen religiösen Anschauungen und eine Rückkehr zum alten Volks¬ glauben. Dagegen zeigt nun Resele in ausführlicher Darlegung, daß es dem Dichter nur darauf ankommt, in dem Pentheus ein Beispiel von brutaler, aber vergeblicher Auflehnung gegen eine neu aufkommende Geistesrichtung zu geben, daß dabei die Person des Dionysos ganz indifferent ist, daß dieser vielmehr in einzelnen Zügen durchaus den sonstigen aufgeklärten Anschauungen des Dichters von der Götterwelt entspricht. An deu Göttern des Volksglaubens vermißt Euripides namentlich die Gerechtigkeit, und deshalb legt er gerade diese Eigenschaft dem Weltgeist, der nach seiner Idee alles regiert, bei, ja er identifiziert, hierin dem Heraklck

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/428>, abgerufen am 01.09.2024.