Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Der Dichter der griechischen Ausklärung

omer allein ausgenommen hat kein griechischer Dichter einen
solchen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt wie Euripides, der
jüngste der drei großen Tragödiendichter des fünften Jahrhun¬
derts v. Chr, Von seinen Zeitgenossen freilich wurde er nicht
recht verstanden, denn nur fünfmal gelang es ihm, an den tra¬
gischen Wettkämpfen, an denen er sich wenigstens zweiundzwanzig mal beteiligte,
Wien Sieg zu erringen, und die Dichter der alten Komödie, Aristophanes an
^ Spitze, sielen mit bitterm Hohn und Spott über ihn her. Aber schon die
unttlere und die neuere Komödie nahm sich in ihren Motiven die kunstvolle und
ginnend verflochtne Handlung der enripideischen Tragödie zum Vorbild, und
e>n Euripides vorzugsweise entnahm Aristoteles seine Normen für das Wesen
Und die Wirkung der Tragödie. Sein großer Schiller Alexander schätzte den
Euripides nächst Homer vor allen andern Dichtern, und fast alle spätern grie¬
chischen Schriftsteller von Bedeutung nehmen irgendwie Stellung zu ihm oder
stieren ihn wenigstens. Viele seiner Aussprüche wurden zu geflügelten Worten
^ kommen als solche sogar in der Apostelgeschichte und in den paulinischen
^efen vor. Auch der bildenden Kunst bot der Dichter eine reiche Fülle von
^Wurfen, die berühmte Gruppe des farnesischen Stieres z. B. geht auf seine
"tiope zurück, und auf Thvugefäßen findet man sehr oft euripideische Szenen
""d Figuren dargestellt.

Nicht minder stark ist der Einfluß des Dichters in der neuern Zeit seit
^'"Wiederaufleben der griechischen Sprache und Litteratur gewesen, und zwar
sonders gerade in Deutschland. Es sei hier nur daran erinnert, daß Wieland,
^' eifrige Freund des klassischen Altertums, eine Abhandlung über die Helene
schrieb und dieses Stück in das Deutsche übertrug, daß Goethe durch die
Wunsche Iphigenie zu einem seiner schönsten Dramen angeregt wurde, und daß
Mller die anlische Iphigenie und Szenen aus den Phönizierinnen in freier
/the übersetzte. So sehr aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die
^ ieratur über Euripides angewachsen und so viel auch im einzelnen für das
^ ^'stündnis und die Herstellung seiner Dramen geleistet ist, so begegnet man
och noch immer auch bei Kennern des Altertums einem absprechender und
Mefen Gesamturteil über deu Dichter. K. Lehrs z. B. nennt ihn einmal
eder eine gute uoch eine schöne Seele, und Jak. Burckhardt bezeichnet ihn in
!^ner griechischen Kulturgeschichte als einen wandelbaren Theologen, der von
w Gedanken des Anaxagoras und von andern das Ungefährliche aufgreift und
Mner Zuhörerschaft eine straflose Impietät gönnt; seine Tragödien sind nach
nur der Sprechsaal, aus dem uns das damalige allgemeine ätherische




Der Dichter der griechischen Ausklärung

omer allein ausgenommen hat kein griechischer Dichter einen
solchen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt wie Euripides, der
jüngste der drei großen Tragödiendichter des fünften Jahrhun¬
derts v. Chr, Von seinen Zeitgenossen freilich wurde er nicht
recht verstanden, denn nur fünfmal gelang es ihm, an den tra¬
gischen Wettkämpfen, an denen er sich wenigstens zweiundzwanzig mal beteiligte,
Wien Sieg zu erringen, und die Dichter der alten Komödie, Aristophanes an
^ Spitze, sielen mit bitterm Hohn und Spott über ihn her. Aber schon die
unttlere und die neuere Komödie nahm sich in ihren Motiven die kunstvolle und
ginnend verflochtne Handlung der enripideischen Tragödie zum Vorbild, und
e>n Euripides vorzugsweise entnahm Aristoteles seine Normen für das Wesen
Und die Wirkung der Tragödie. Sein großer Schiller Alexander schätzte den
Euripides nächst Homer vor allen andern Dichtern, und fast alle spätern grie¬
chischen Schriftsteller von Bedeutung nehmen irgendwie Stellung zu ihm oder
stieren ihn wenigstens. Viele seiner Aussprüche wurden zu geflügelten Worten
^ kommen als solche sogar in der Apostelgeschichte und in den paulinischen
^efen vor. Auch der bildenden Kunst bot der Dichter eine reiche Fülle von
^Wurfen, die berühmte Gruppe des farnesischen Stieres z. B. geht auf seine
»tiope zurück, und auf Thvugefäßen findet man sehr oft euripideische Szenen
""d Figuren dargestellt.

Nicht minder stark ist der Einfluß des Dichters in der neuern Zeit seit
^'"Wiederaufleben der griechischen Sprache und Litteratur gewesen, und zwar
sonders gerade in Deutschland. Es sei hier nur daran erinnert, daß Wieland,
^' eifrige Freund des klassischen Altertums, eine Abhandlung über die Helene
schrieb und dieses Stück in das Deutsche übertrug, daß Goethe durch die
Wunsche Iphigenie zu einem seiner schönsten Dramen angeregt wurde, und daß
Mller die anlische Iphigenie und Szenen aus den Phönizierinnen in freier
/the übersetzte. So sehr aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die
^ ieratur über Euripides angewachsen und so viel auch im einzelnen für das
^ ^'stündnis und die Herstellung seiner Dramen geleistet ist, so begegnet man
och noch immer auch bei Kennern des Altertums einem absprechender und
Mefen Gesamturteil über deu Dichter. K. Lehrs z. B. nennt ihn einmal
eder eine gute uoch eine schöne Seele, und Jak. Burckhardt bezeichnet ihn in
!^ner griechischen Kulturgeschichte als einen wandelbaren Theologen, der von
w Gedanken des Anaxagoras und von andern das Ungefährliche aufgreift und
Mner Zuhörerschaft eine straflose Impietät gönnt; seine Tragödien sind nach
nur der Sprechsaal, aus dem uns das damalige allgemeine ätherische


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0425" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239213"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341875_238787/figures/grenzboten_341875_238787_239213_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Dichter der griechischen Ausklärung</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2125"> omer allein ausgenommen hat kein griechischer Dichter einen<lb/>
solchen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt wie Euripides, der<lb/>
jüngste der drei großen Tragödiendichter des fünften Jahrhun¬<lb/>
derts v. Chr, Von seinen Zeitgenossen freilich wurde er nicht<lb/>
recht verstanden, denn nur fünfmal gelang es ihm, an den tra¬<lb/>
gischen Wettkämpfen, an denen er sich wenigstens zweiundzwanzig mal beteiligte,<lb/>
Wien Sieg zu erringen, und die Dichter der alten Komödie, Aristophanes an<lb/>
^ Spitze, sielen mit bitterm Hohn und Spott über ihn her. Aber schon die<lb/>
unttlere und die neuere Komödie nahm sich in ihren Motiven die kunstvolle und<lb/>
ginnend verflochtne Handlung der enripideischen Tragödie zum Vorbild, und<lb/>
e&gt;n Euripides vorzugsweise entnahm Aristoteles seine Normen für das Wesen<lb/>
Und die Wirkung der Tragödie. Sein großer Schiller Alexander schätzte den<lb/>
Euripides nächst Homer vor allen andern Dichtern, und fast alle spätern grie¬<lb/>
chischen Schriftsteller von Bedeutung nehmen irgendwie Stellung zu ihm oder<lb/>
stieren ihn wenigstens. Viele seiner Aussprüche wurden zu geflügelten Worten<lb/>
^ kommen als solche sogar in der Apostelgeschichte und in den paulinischen<lb/>
^efen vor. Auch der bildenden Kunst bot der Dichter eine reiche Fülle von<lb/>
^Wurfen, die berühmte Gruppe des farnesischen Stieres z. B. geht auf seine<lb/>
»tiope zurück, und auf Thvugefäßen findet man sehr oft euripideische Szenen<lb/>
""d Figuren dargestellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2126" next="#ID_2127"> Nicht minder stark ist der Einfluß des Dichters in der neuern Zeit seit<lb/>
^'"Wiederaufleben der griechischen Sprache und Litteratur gewesen, und zwar<lb/>
sonders gerade in Deutschland. Es sei hier nur daran erinnert, daß Wieland,<lb/>
^' eifrige Freund des klassischen Altertums, eine Abhandlung über die Helene<lb/>
schrieb und dieses Stück in das Deutsche übertrug, daß Goethe durch die<lb/>
Wunsche Iphigenie zu einem seiner schönsten Dramen angeregt wurde, und daß<lb/>
Mller die anlische Iphigenie und Szenen aus den Phönizierinnen in freier<lb/>
/the übersetzte.  So sehr aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die<lb/>
^ ieratur über Euripides angewachsen und so viel auch im einzelnen für das<lb/>
^ ^'stündnis und die Herstellung seiner Dramen geleistet ist, so begegnet man<lb/>
och noch immer auch bei Kennern des Altertums einem absprechender und<lb/>
Mefen Gesamturteil über deu Dichter.  K. Lehrs z. B. nennt ihn einmal<lb/>
eder eine gute uoch eine schöne Seele, und Jak. Burckhardt bezeichnet ihn in<lb/>
!^ner griechischen Kulturgeschichte als einen wandelbaren Theologen, der von<lb/>
w Gedanken des Anaxagoras und von andern das Ungefährliche aufgreift und<lb/>
Mner Zuhörerschaft eine straflose Impietät gönnt; seine Tragödien sind nach<lb/>
nur der Sprechsaal, aus dem uns das damalige allgemeine ätherische</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0425] [Abbildung] Der Dichter der griechischen Ausklärung omer allein ausgenommen hat kein griechischer Dichter einen solchen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt wie Euripides, der jüngste der drei großen Tragödiendichter des fünften Jahrhun¬ derts v. Chr, Von seinen Zeitgenossen freilich wurde er nicht recht verstanden, denn nur fünfmal gelang es ihm, an den tra¬ gischen Wettkämpfen, an denen er sich wenigstens zweiundzwanzig mal beteiligte, Wien Sieg zu erringen, und die Dichter der alten Komödie, Aristophanes an ^ Spitze, sielen mit bitterm Hohn und Spott über ihn her. Aber schon die unttlere und die neuere Komödie nahm sich in ihren Motiven die kunstvolle und ginnend verflochtne Handlung der enripideischen Tragödie zum Vorbild, und e>n Euripides vorzugsweise entnahm Aristoteles seine Normen für das Wesen Und die Wirkung der Tragödie. Sein großer Schiller Alexander schätzte den Euripides nächst Homer vor allen andern Dichtern, und fast alle spätern grie¬ chischen Schriftsteller von Bedeutung nehmen irgendwie Stellung zu ihm oder stieren ihn wenigstens. Viele seiner Aussprüche wurden zu geflügelten Worten ^ kommen als solche sogar in der Apostelgeschichte und in den paulinischen ^efen vor. Auch der bildenden Kunst bot der Dichter eine reiche Fülle von ^Wurfen, die berühmte Gruppe des farnesischen Stieres z. B. geht auf seine »tiope zurück, und auf Thvugefäßen findet man sehr oft euripideische Szenen ""d Figuren dargestellt. Nicht minder stark ist der Einfluß des Dichters in der neuern Zeit seit ^'"Wiederaufleben der griechischen Sprache und Litteratur gewesen, und zwar sonders gerade in Deutschland. Es sei hier nur daran erinnert, daß Wieland, ^' eifrige Freund des klassischen Altertums, eine Abhandlung über die Helene schrieb und dieses Stück in das Deutsche übertrug, daß Goethe durch die Wunsche Iphigenie zu einem seiner schönsten Dramen angeregt wurde, und daß Mller die anlische Iphigenie und Szenen aus den Phönizierinnen in freier /the übersetzte. So sehr aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die ^ ieratur über Euripides angewachsen und so viel auch im einzelnen für das ^ ^'stündnis und die Herstellung seiner Dramen geleistet ist, so begegnet man och noch immer auch bei Kennern des Altertums einem absprechender und Mefen Gesamturteil über deu Dichter. K. Lehrs z. B. nennt ihn einmal eder eine gute uoch eine schöne Seele, und Jak. Burckhardt bezeichnet ihn in !^ner griechischen Kulturgeschichte als einen wandelbaren Theologen, der von w Gedanken des Anaxagoras und von andern das Ungefährliche aufgreift und Mner Zuhörerschaft eine straflose Impietät gönnt; seine Tragödien sind nach nur der Sprechsaal, aus dem uns das damalige allgemeine ätherische

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/425
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/425>, abgerufen am 01.09.2024.