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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

mäßigen neigt, wenn er aber einmal seine Empfindungen nuf eine bestimmte Ngnr
überträgt, so gelingt ihm das wundervoll. Das Mädchen singt:

Er sollte diese Form öfter versuchen, sie würde ihm ungesucht Abwechslung
bringen. Unter den Gelegenheitsgedichten (Bunter Reigen) finden wir eines über ein
Begräbnis in der Großstadt sehr schön, sowohl in dem anschaulichen Andenken der
Situation wie in den Gedanken. Daß sich jemand im Gedränge des Lebens nach
Ruhe, sogar der des Todes, sehnen kaun, ist um sich nicht neu, aber so wie dieser
Gedanke um in der Großstadttleiduug bei Busse erscheint, spricht er doch wieder
eine ganz frische Sprache:

Busses Lyrik führt sehr viel Schwermut mit sich, hoffentlich deshalb, weil
diese poetisch dankbarer oder doch leichter zu gestalten ist als die Fröhlichkeit, sonst
möchte und müßte man für einen solchen Dichter etwas mehr vom Leben erbitten.
Wir möchten lieber nuuehmeu, daß die Melancholie ein selbstgewahltes Kleid wäre,
eine Tracht, zu der ja jeden Meuscheu seine ernstere Naturanlage berechtigt, sodaß
sie gar nicht affektiert zu sein braucht, und wir finden dafür ein hübsches Beispiel
in einem Gedichte mit dem Anfang:

Diese neue Mutter ist die Nacht mit ihre" Kindern, den Trttumeu, die seine
Gespielen werden, und der er selbst folgt wie ein Kind, weil sie heimliche Lieder
hat. Sie hat, wie es zum Schluß heißt, ein Kraut Wider Schmerzen und Gramm,
sie sagt auch, sie will meine Brüder nehmen. Man sieht leicht, daß nur der Ver¬
gleich mit der gestorbnen Mutter den tiefmelancholischen Zug in das Bild der Nacht,
der an sich so freundlichen, gebracht hat. Unter den Gedichten von persönlichem
Charakter ließen sich mehrere als besonders gelungen hervorheben, vortrefflich im
Ton ist ein Truhgescmg mit demi Anfang:

Bekaimtlich lesen wir barbarischen Deutschen viel weniger als beispielsweise
die Franzosen Verse bloß zum Vergnügen, sondern hauptsächlich ans Pflichtgefühl,
weswegen denn auch manche Dichter, um deu Genuß substantieller zu machen, ihren
Lesern die Kultur des Schweinestnlls vorsetzen. Wer das nicht mag, findet in
Versen seinen Leserkreis schwerer, und vielleicht würde die der Begabung unsers
Dichters ebensogut liegende Prosa ihm ein dankbareres Gebiet sein.


Anton SPringers Kunstgeschichte

ist wieder in verjüngter Gestalt erschienen.
Daß sie in kurzer Frist abermals eine neue, die sechste Auflage erfährt, obwohl ihr
Schöpfer schon ein Jahrzehnt im Grabe ruht, ist gewiß ein Beweis für ihre Lebens¬
kraft. Man darf aber auch anerkennen, daß von den Eigentümern alles geschieht,



Handbuch der Kunstgeschichte von Anton Springer. Sechste Auflage,
bis lV. Leipzig, E, A. scamnum, 190l bis 1902.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

mäßigen neigt, wenn er aber einmal seine Empfindungen nuf eine bestimmte Ngnr
überträgt, so gelingt ihm das wundervoll. Das Mädchen singt:

Er sollte diese Form öfter versuchen, sie würde ihm ungesucht Abwechslung
bringen. Unter den Gelegenheitsgedichten (Bunter Reigen) finden wir eines über ein
Begräbnis in der Großstadt sehr schön, sowohl in dem anschaulichen Andenken der
Situation wie in den Gedanken. Daß sich jemand im Gedränge des Lebens nach
Ruhe, sogar der des Todes, sehnen kaun, ist um sich nicht neu, aber so wie dieser
Gedanke um in der Großstadttleiduug bei Busse erscheint, spricht er doch wieder
eine ganz frische Sprache:

Busses Lyrik führt sehr viel Schwermut mit sich, hoffentlich deshalb, weil
diese poetisch dankbarer oder doch leichter zu gestalten ist als die Fröhlichkeit, sonst
möchte und müßte man für einen solchen Dichter etwas mehr vom Leben erbitten.
Wir möchten lieber nuuehmeu, daß die Melancholie ein selbstgewahltes Kleid wäre,
eine Tracht, zu der ja jeden Meuscheu seine ernstere Naturanlage berechtigt, sodaß
sie gar nicht affektiert zu sein braucht, und wir finden dafür ein hübsches Beispiel
in einem Gedichte mit dem Anfang:

Diese neue Mutter ist die Nacht mit ihre» Kindern, den Trttumeu, die seine
Gespielen werden, und der er selbst folgt wie ein Kind, weil sie heimliche Lieder
hat. Sie hat, wie es zum Schluß heißt, ein Kraut Wider Schmerzen und Gramm,
sie sagt auch, sie will meine Brüder nehmen. Man sieht leicht, daß nur der Ver¬
gleich mit der gestorbnen Mutter den tiefmelancholischen Zug in das Bild der Nacht,
der an sich so freundlichen, gebracht hat. Unter den Gedichten von persönlichem
Charakter ließen sich mehrere als besonders gelungen hervorheben, vortrefflich im
Ton ist ein Truhgescmg mit demi Anfang:

Bekaimtlich lesen wir barbarischen Deutschen viel weniger als beispielsweise
die Franzosen Verse bloß zum Vergnügen, sondern hauptsächlich ans Pflichtgefühl,
weswegen denn auch manche Dichter, um deu Genuß substantieller zu machen, ihren
Lesern die Kultur des Schweinestnlls vorsetzen. Wer das nicht mag, findet in
Versen seinen Leserkreis schwerer, und vielleicht würde die der Begabung unsers
Dichters ebensogut liegende Prosa ihm ein dankbareres Gebiet sein.


Anton SPringers Kunstgeschichte

ist wieder in verjüngter Gestalt erschienen.
Daß sie in kurzer Frist abermals eine neue, die sechste Auflage erfährt, obwohl ihr
Schöpfer schon ein Jahrzehnt im Grabe ruht, ist gewiß ein Beweis für ihre Lebens¬
kraft. Man darf aber auch anerkennen, daß von den Eigentümern alles geschieht,



Handbuch der Kunstgeschichte von Anton Springer. Sechste Auflage,
bis lV. Leipzig, E, A. scamnum, 190l bis 1902.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/398>, abgerufen am 01.09.2024.