Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
IZllkkntillÄgs

erst nach Erfurt und dann nach Trockenborn, und daß er gerade so war, wie er
war, und daß es nichts auf der Welt geben könne, was ihr besser gefiele.

Draußen zog eine Wolke über die Morgensonne, das Grün verlor seinen Gold¬
glanz, blaue Schatten trübten das Bildchen im Fensterrahmen, und ein jäher Schreck
machte Gretens Herz schneller schlagen.

Was nun, wenn er abreiste? Jetzt, nachdem sie acht Tage mit ihm in dem
grünen Dörfchen verbracht hatte -- nur mit ihm --, acht Tage in Arbeit und
Glück, sodaß nun ohne ihn keine Stunde mehr Sonnenschein haben konnte?

Sein Kommen fiel ihr ein, sein die Rasenlehne herabstürmen und der Willkomm¬
kuß -- sein Lachen und sein Ernsthaftsein, sein Singen und sein Pläneschmieden,
sein Schaffen im Garten und sein Plaudern am nackten Hvlzttsch der Muhme. Sie
hörte den Klang seiner Stimme und sah die Herzkirschenaugeu auf sich gerichtet,
abwechselnd in Zärtlichkeit und in Schelmerei. Und ohne das sollte sie weiterleben
und froh sein und die Menschen um sich her froh machen.

Nein nein nein! All die kleinen verdrießlichen Dinge des Lebens, die so oft
nicht die Mühe lohnen, waren in feiner Gegenwart Spiel und Freude gewesen;
die schweren Steine des Mißbehagens in ihrem Weg hatten durch sein einfaches
Dasein Flügel bekommen und waren wie Sommervögel davongeflogen -- ins Blaue
hinein, auf Nimmerwiedersehen.

Und all das wäre nur ein kurzer Festtag gewesen, ein verwöhnender Traum, nach
dessen Verblassen sie dem nüchternen Tag hilflos, verdrossen und wund gegenüberstand?

Plötzlich wußte sie, vor was Robert und die Muhme sie mit ungeschickter
Fürsorge hatten behüten wollen, vor dem Glück -- das so schwer zu entbehren
war, wenn man es erst kannte --, und in demselben Augenblick richtete sie sich auf
und begann den Kampf gegen ihre Sehnsucht. -- Nein, sie war kein gebrechliches
Geschöpf; sie hatte ein kräftiges Herz, und Lisa würde einsehen, daß ihre Rettung
dennoch unnötig gewesen war.

Aber schwere Glieder hatte sie doch, und ein seltsam fremdes, wehes Gefühl
ging mit ihr durch den ganzen Tag. Sie war die alte Grete, sie half der Mutter,
sie scherzte mit dem Vater, sie regierte die Knaben, ohne daß sie etwas davon
merkten, aber alle hatten das Gefühl, als sei die eigentliche Grek irgendwo anders
und habe ein Trugbild zur Stellvertretung geschickt.

Jean fand sich am schwersten zurecht. Er hatte in der Nacht einen langen
Brief an seinen Vater geschrieben, hatte ihn in frühster Morgenstunde auf den
Bahnhof getragen und dann im Garten auf das Gretel gewartet. Sie mußte ja
kommen, mußte wissen, daß sie nur dort allein miteinander reden konnten, mußte
ihm ebensoviel zu sagen haben, wie er ihr.

Der Tag verging; die fremde Grete that ihre Pflicht, wie ein milder, sonnen¬
loser Frühlingstag das Seine thut, und die audern gingen so vorsichtig ihrer Wege,
als könnte ein schneller Schritt oder ein hastiges Wort Unheil wecken.

Nur der Vater war harmlos vergnügt; freute sich, daß sein Mädel wieder
im Haus herumschwirrte, und daß Jean "ein ganzer Kerl" geworden war --
ohne jeden verknüpfenden Nebengedanken. Völlig unbefangen rauchte er in der
Haselnußlaube sein Feierabendpfeifcheu; alle saßen um ihn her und plauderten vom
Tageslauf, wie ers leiden möchte; Greten nur hatte die Mutter noch einmal hinauf¬
geschickt nach den Himbeeren, damit die hochreifen über Nacht nicht verdürben.

Endlich! -- Mutter fühlte einen Händedruck Jeans, den sie nicht verstand; erst
sein finstres Gesicht, als Lisa und Robert jetzt beide zugleich mit botanischen Fragen
auf ihn einstürmten, brachte sie ans einmal ganz nah um die Wahrheit. Ehe sie aber
alles, was von Freud und Leid ans dieser Wahrheit für sie heraufstieg, nur halb¬
wegs gefaßt hatte, kamen die Buben gerannt.

Mitten hinein in eine Erörterung über Nelkenstecklinge rief Jean: Buben,
wer läuft mit mir wett? Und ehe Robert abwehren konnte, flog der schlanke
Jean, gefolgt von den drei jauchzenden Knaben, den Garten hinauf.


IZllkkntillÄgs

erst nach Erfurt und dann nach Trockenborn, und daß er gerade so war, wie er
war, und daß es nichts auf der Welt geben könne, was ihr besser gefiele.

Draußen zog eine Wolke über die Morgensonne, das Grün verlor seinen Gold¬
glanz, blaue Schatten trübten das Bildchen im Fensterrahmen, und ein jäher Schreck
machte Gretens Herz schneller schlagen.

Was nun, wenn er abreiste? Jetzt, nachdem sie acht Tage mit ihm in dem
grünen Dörfchen verbracht hatte — nur mit ihm —, acht Tage in Arbeit und
Glück, sodaß nun ohne ihn keine Stunde mehr Sonnenschein haben konnte?

Sein Kommen fiel ihr ein, sein die Rasenlehne herabstürmen und der Willkomm¬
kuß — sein Lachen und sein Ernsthaftsein, sein Singen und sein Pläneschmieden,
sein Schaffen im Garten und sein Plaudern am nackten Hvlzttsch der Muhme. Sie
hörte den Klang seiner Stimme und sah die Herzkirschenaugeu auf sich gerichtet,
abwechselnd in Zärtlichkeit und in Schelmerei. Und ohne das sollte sie weiterleben
und froh sein und die Menschen um sich her froh machen.

Nein nein nein! All die kleinen verdrießlichen Dinge des Lebens, die so oft
nicht die Mühe lohnen, waren in feiner Gegenwart Spiel und Freude gewesen;
die schweren Steine des Mißbehagens in ihrem Weg hatten durch sein einfaches
Dasein Flügel bekommen und waren wie Sommervögel davongeflogen — ins Blaue
hinein, auf Nimmerwiedersehen.

Und all das wäre nur ein kurzer Festtag gewesen, ein verwöhnender Traum, nach
dessen Verblassen sie dem nüchternen Tag hilflos, verdrossen und wund gegenüberstand?

Plötzlich wußte sie, vor was Robert und die Muhme sie mit ungeschickter
Fürsorge hatten behüten wollen, vor dem Glück — das so schwer zu entbehren
war, wenn man es erst kannte —, und in demselben Augenblick richtete sie sich auf
und begann den Kampf gegen ihre Sehnsucht. — Nein, sie war kein gebrechliches
Geschöpf; sie hatte ein kräftiges Herz, und Lisa würde einsehen, daß ihre Rettung
dennoch unnötig gewesen war.

Aber schwere Glieder hatte sie doch, und ein seltsam fremdes, wehes Gefühl
ging mit ihr durch den ganzen Tag. Sie war die alte Grete, sie half der Mutter,
sie scherzte mit dem Vater, sie regierte die Knaben, ohne daß sie etwas davon
merkten, aber alle hatten das Gefühl, als sei die eigentliche Grek irgendwo anders
und habe ein Trugbild zur Stellvertretung geschickt.

Jean fand sich am schwersten zurecht. Er hatte in der Nacht einen langen
Brief an seinen Vater geschrieben, hatte ihn in frühster Morgenstunde auf den
Bahnhof getragen und dann im Garten auf das Gretel gewartet. Sie mußte ja
kommen, mußte wissen, daß sie nur dort allein miteinander reden konnten, mußte
ihm ebensoviel zu sagen haben, wie er ihr.

Der Tag verging; die fremde Grete that ihre Pflicht, wie ein milder, sonnen¬
loser Frühlingstag das Seine thut, und die audern gingen so vorsichtig ihrer Wege,
als könnte ein schneller Schritt oder ein hastiges Wort Unheil wecken.

Nur der Vater war harmlos vergnügt; freute sich, daß sein Mädel wieder
im Haus herumschwirrte, und daß Jean „ein ganzer Kerl" geworden war —
ohne jeden verknüpfenden Nebengedanken. Völlig unbefangen rauchte er in der
Haselnußlaube sein Feierabendpfeifcheu; alle saßen um ihn her und plauderten vom
Tageslauf, wie ers leiden möchte; Greten nur hatte die Mutter noch einmal hinauf¬
geschickt nach den Himbeeren, damit die hochreifen über Nacht nicht verdürben.

Endlich! — Mutter fühlte einen Händedruck Jeans, den sie nicht verstand; erst
sein finstres Gesicht, als Lisa und Robert jetzt beide zugleich mit botanischen Fragen
auf ihn einstürmten, brachte sie ans einmal ganz nah um die Wahrheit. Ehe sie aber
alles, was von Freud und Leid ans dieser Wahrheit für sie heraufstieg, nur halb¬
wegs gefaßt hatte, kamen die Buben gerannt.

Mitten hinein in eine Erörterung über Nelkenstecklinge rief Jean: Buben,
wer läuft mit mir wett? Und ehe Robert abwehren konnte, flog der schlanke
Jean, gefolgt von den drei jauchzenden Knaben, den Garten hinauf.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239178"/>
          <fw type="header" place="top"> IZllkkntillÄgs</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1961" prev="#ID_1960"> erst nach Erfurt und dann nach Trockenborn, und daß er gerade so war, wie er<lb/>
war, und daß es nichts auf der Welt geben könne, was ihr besser gefiele.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1962"> Draußen zog eine Wolke über die Morgensonne, das Grün verlor seinen Gold¬<lb/>
glanz, blaue Schatten trübten das Bildchen im Fensterrahmen, und ein jäher Schreck<lb/>
machte Gretens Herz schneller schlagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1963"> Was nun, wenn er abreiste? Jetzt, nachdem sie acht Tage mit ihm in dem<lb/>
grünen Dörfchen verbracht hatte &#x2014; nur mit ihm &#x2014;, acht Tage in Arbeit und<lb/>
Glück, sodaß nun ohne ihn keine Stunde mehr Sonnenschein haben konnte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1964"> Sein Kommen fiel ihr ein, sein die Rasenlehne herabstürmen und der Willkomm¬<lb/>
kuß &#x2014; sein Lachen und sein Ernsthaftsein, sein Singen und sein Pläneschmieden,<lb/>
sein Schaffen im Garten und sein Plaudern am nackten Hvlzttsch der Muhme. Sie<lb/>
hörte den Klang seiner Stimme und sah die Herzkirschenaugeu auf sich gerichtet,<lb/>
abwechselnd in Zärtlichkeit und in Schelmerei. Und ohne das sollte sie weiterleben<lb/>
und froh sein und die Menschen um sich her froh machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1965"> Nein nein nein! All die kleinen verdrießlichen Dinge des Lebens, die so oft<lb/>
nicht die Mühe lohnen, waren in feiner Gegenwart Spiel und Freude gewesen;<lb/>
die schweren Steine des Mißbehagens in ihrem Weg hatten durch sein einfaches<lb/>
Dasein Flügel bekommen und waren wie Sommervögel davongeflogen &#x2014; ins Blaue<lb/>
hinein, auf Nimmerwiedersehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1966"> Und all das wäre nur ein kurzer Festtag gewesen, ein verwöhnender Traum, nach<lb/>
dessen Verblassen sie dem nüchternen Tag hilflos, verdrossen und wund gegenüberstand?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1967"> Plötzlich wußte sie, vor was Robert und die Muhme sie mit ungeschickter<lb/>
Fürsorge hatten behüten wollen, vor dem Glück &#x2014; das so schwer zu entbehren<lb/>
war, wenn man es erst kannte &#x2014;, und in demselben Augenblick richtete sie sich auf<lb/>
und begann den Kampf gegen ihre Sehnsucht. &#x2014; Nein, sie war kein gebrechliches<lb/>
Geschöpf; sie hatte ein kräftiges Herz, und Lisa würde einsehen, daß ihre Rettung<lb/>
dennoch unnötig gewesen war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1968"> Aber schwere Glieder hatte sie doch, und ein seltsam fremdes, wehes Gefühl<lb/>
ging mit ihr durch den ganzen Tag. Sie war die alte Grete, sie half der Mutter,<lb/>
sie scherzte mit dem Vater, sie regierte die Knaben, ohne daß sie etwas davon<lb/>
merkten, aber alle hatten das Gefühl, als sei die eigentliche Grek irgendwo anders<lb/>
und habe ein Trugbild zur Stellvertretung geschickt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1969"> Jean fand sich am schwersten zurecht. Er hatte in der Nacht einen langen<lb/>
Brief an seinen Vater geschrieben, hatte ihn in frühster Morgenstunde auf den<lb/>
Bahnhof getragen und dann im Garten auf das Gretel gewartet. Sie mußte ja<lb/>
kommen, mußte wissen, daß sie nur dort allein miteinander reden konnten, mußte<lb/>
ihm ebensoviel zu sagen haben, wie er ihr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1970"> Der Tag verging; die fremde Grete that ihre Pflicht, wie ein milder, sonnen¬<lb/>
loser Frühlingstag das Seine thut, und die audern gingen so vorsichtig ihrer Wege,<lb/>
als könnte ein schneller Schritt oder ein hastiges Wort Unheil wecken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1971"> Nur der Vater war harmlos vergnügt; freute sich, daß sein Mädel wieder<lb/>
im Haus herumschwirrte, und daß Jean &#x201E;ein ganzer Kerl" geworden war &#x2014;<lb/>
ohne jeden verknüpfenden Nebengedanken. Völlig unbefangen rauchte er in der<lb/>
Haselnußlaube sein Feierabendpfeifcheu; alle saßen um ihn her und plauderten vom<lb/>
Tageslauf, wie ers leiden möchte; Greten nur hatte die Mutter noch einmal hinauf¬<lb/>
geschickt nach den Himbeeren, damit die hochreifen über Nacht nicht verdürben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1972"> Endlich! &#x2014; Mutter fühlte einen Händedruck Jeans, den sie nicht verstand; erst<lb/>
sein finstres Gesicht, als Lisa und Robert jetzt beide zugleich mit botanischen Fragen<lb/>
auf ihn einstürmten, brachte sie ans einmal ganz nah um die Wahrheit. Ehe sie aber<lb/>
alles, was von Freud und Leid ans dieser Wahrheit für sie heraufstieg, nur halb¬<lb/>
wegs gefaßt hatte, kamen die Buben gerannt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1973"> Mitten hinein in eine Erörterung über Nelkenstecklinge rief Jean: Buben,<lb/>
wer läuft mit mir wett? Und ehe Robert abwehren konnte, flog der schlanke<lb/>
Jean, gefolgt von den drei jauchzenden Knaben, den Garten hinauf.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0390] IZllkkntillÄgs erst nach Erfurt und dann nach Trockenborn, und daß er gerade so war, wie er war, und daß es nichts auf der Welt geben könne, was ihr besser gefiele. Draußen zog eine Wolke über die Morgensonne, das Grün verlor seinen Gold¬ glanz, blaue Schatten trübten das Bildchen im Fensterrahmen, und ein jäher Schreck machte Gretens Herz schneller schlagen. Was nun, wenn er abreiste? Jetzt, nachdem sie acht Tage mit ihm in dem grünen Dörfchen verbracht hatte — nur mit ihm —, acht Tage in Arbeit und Glück, sodaß nun ohne ihn keine Stunde mehr Sonnenschein haben konnte? Sein Kommen fiel ihr ein, sein die Rasenlehne herabstürmen und der Willkomm¬ kuß — sein Lachen und sein Ernsthaftsein, sein Singen und sein Pläneschmieden, sein Schaffen im Garten und sein Plaudern am nackten Hvlzttsch der Muhme. Sie hörte den Klang seiner Stimme und sah die Herzkirschenaugeu auf sich gerichtet, abwechselnd in Zärtlichkeit und in Schelmerei. Und ohne das sollte sie weiterleben und froh sein und die Menschen um sich her froh machen. Nein nein nein! All die kleinen verdrießlichen Dinge des Lebens, die so oft nicht die Mühe lohnen, waren in feiner Gegenwart Spiel und Freude gewesen; die schweren Steine des Mißbehagens in ihrem Weg hatten durch sein einfaches Dasein Flügel bekommen und waren wie Sommervögel davongeflogen — ins Blaue hinein, auf Nimmerwiedersehen. Und all das wäre nur ein kurzer Festtag gewesen, ein verwöhnender Traum, nach dessen Verblassen sie dem nüchternen Tag hilflos, verdrossen und wund gegenüberstand? Plötzlich wußte sie, vor was Robert und die Muhme sie mit ungeschickter Fürsorge hatten behüten wollen, vor dem Glück — das so schwer zu entbehren war, wenn man es erst kannte —, und in demselben Augenblick richtete sie sich auf und begann den Kampf gegen ihre Sehnsucht. — Nein, sie war kein gebrechliches Geschöpf; sie hatte ein kräftiges Herz, und Lisa würde einsehen, daß ihre Rettung dennoch unnötig gewesen war. Aber schwere Glieder hatte sie doch, und ein seltsam fremdes, wehes Gefühl ging mit ihr durch den ganzen Tag. Sie war die alte Grete, sie half der Mutter, sie scherzte mit dem Vater, sie regierte die Knaben, ohne daß sie etwas davon merkten, aber alle hatten das Gefühl, als sei die eigentliche Grek irgendwo anders und habe ein Trugbild zur Stellvertretung geschickt. Jean fand sich am schwersten zurecht. Er hatte in der Nacht einen langen Brief an seinen Vater geschrieben, hatte ihn in frühster Morgenstunde auf den Bahnhof getragen und dann im Garten auf das Gretel gewartet. Sie mußte ja kommen, mußte wissen, daß sie nur dort allein miteinander reden konnten, mußte ihm ebensoviel zu sagen haben, wie er ihr. Der Tag verging; die fremde Grete that ihre Pflicht, wie ein milder, sonnen¬ loser Frühlingstag das Seine thut, und die audern gingen so vorsichtig ihrer Wege, als könnte ein schneller Schritt oder ein hastiges Wort Unheil wecken. Nur der Vater war harmlos vergnügt; freute sich, daß sein Mädel wieder im Haus herumschwirrte, und daß Jean „ein ganzer Kerl" geworden war — ohne jeden verknüpfenden Nebengedanken. Völlig unbefangen rauchte er in der Haselnußlaube sein Feierabendpfeifcheu; alle saßen um ihn her und plauderten vom Tageslauf, wie ers leiden möchte; Greten nur hatte die Mutter noch einmal hinauf¬ geschickt nach den Himbeeren, damit die hochreifen über Nacht nicht verdürben. Endlich! — Mutter fühlte einen Händedruck Jeans, den sie nicht verstand; erst sein finstres Gesicht, als Lisa und Robert jetzt beide zugleich mit botanischen Fragen auf ihn einstürmten, brachte sie ans einmal ganz nah um die Wahrheit. Ehe sie aber alles, was von Freud und Leid ans dieser Wahrheit für sie heraufstieg, nur halb¬ wegs gefaßt hatte, kamen die Buben gerannt. Mitten hinein in eine Erörterung über Nelkenstecklinge rief Jean: Buben, wer läuft mit mir wett? Und ehe Robert abwehren konnte, flog der schlanke Jean, gefolgt von den drei jauchzenden Knaben, den Garten hinauf.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/390
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/390>, abgerufen am 01.09.2024.