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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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als eine gewisse Erfrischung empfinden, insofern als sie sie zeitweise aus den
Krankensälen herausführen. Wenn es sich aber um ein Zuviel der Pflichten
überhaupt handelt und um eine thatsächliche Überbürdung, so darf man gewiß
unterscheiden zwischen den Arbeiten, die durchaus eine Diakonisse fordern, und
denen, die auch von jeder andern tüchtigen Arbeiterin verrichtet werden können.
In der Macht des Mutterhauses liegt es, bei den Kontrakten dafür zu sorgen,
daß die Diakonissen an Leib, Seele und Geist keinen Schaden nehmen. Bei den
Behörden und den Gemeinden ist der Wunsch verzeihlich, mit wenig Personal
möglichst viel Arbeit zu verrichten; wenn aber das Mutterhaus diesem Wunsch
entgegenkommt, so überflügelt es den eignen Opfersinn seiner Schwestern, und
es geschehn oft falsch angebrachte Aufopferungen der Schwestern um einer
öffentlichen Kasse willen.

Es liegt in der Art des Berufs, daß er keine Sonn- und Festtage frei¬
läßt, denn die Kranken dürfen dann nicht schlechter versorgt werden als all¬
tags. Und wenn die Neinigungsarbeiten an diesen Tage" auch möglichst
beschränkt werden, so drängt es wohl jede Schwester, die Festtage für die
Kranken dadurch auszuzeichnen, daß sie sich diesen mit mehr Muße als sonst
widmet. Es bedürfte der Warnungen des erwähnten Dinkonissenbüchleins
vor Freundschaft, Korrespondenz, vertrauter Aussprache, weltlicher Lektüre
und andern Freuden nicht; die Arbeit beschränkt gewöhnlich das alles auf ein
Minimum oder hindert es ganz. Auch der tägliche Spaziergang, der für
die in Privatpflege arbeitenden Schwestern ausbedungen wird, bleibt in der
Spitalarbeit Illusion. Die Schreiberin dieser Zeilen machte an einem Sonntag
des Juni ihren letzten Spaziergang als Probeschwester, der vorletzte hatte sie
durch eine Schneelandschaft geführt. Dabei lagen durchaus keine ungewöhn¬
lichen Behiuderungen vor.

Wer sich die Mühe nimmt, das genannte kleine Buch, das ein Leitfaden
für den Diakonissenunterricht sein will, zu prüfen, und wer besonders die
tzH 6 bis 18 und 28 aufmerksam durchliest, der wird die Segensmacht deS
Dialonissentums in ihren Ursachen begreifen, aber er wird auch deu Eindruck
von einer asketischen Lebensauffassung erhalten, die in einem evangelische"
Mutterhause befremden muß.

Zuletzt sei es nur erlaubt, noch etwas rein Äußerliches zu erwühueu, das
aber vielen Schwestern zwecklose Schwierigkeiten bereitet: die die Ohren be¬
deckende Hunde. Man hört schlechter unter ihr -- nicht bloß, weil der Schall
dnrch den Leinenstoff hindurch muß, sondern anch weil dieser bei jeder Kopf¬
bewegung ein Rauschen und Knistern vollführt. Das Rufen oder Klingeln der
Kranken, das Beobachten der Atmung bei manchen Patienten, die leisen Befehle
des Operateurs, das matte Sprechen Schwerkranker fordern ein besonders
scharfes Gehör. Diese Haube paßt für eine Nonne, bei der die Tracht auf
Tötung der Sinne hinwirken soll; evangelische Diakonissen brauchen alles zum
Dienst des Nächsten! Manche Schwester sieht man im Opercitionssaal und
anderswo verstohlen die Mütze ein wenig von den Ohren zurückziehn, obwohl es
nicht sein darf. Außerdem wirkt diese Haube schlecht auf die Kopfnerven und ver¬
ursacht denen, die gewöhnt gewesen sind, den Kopf kühl und frei zu tragen, leicht


als eine gewisse Erfrischung empfinden, insofern als sie sie zeitweise aus den
Krankensälen herausführen. Wenn es sich aber um ein Zuviel der Pflichten
überhaupt handelt und um eine thatsächliche Überbürdung, so darf man gewiß
unterscheiden zwischen den Arbeiten, die durchaus eine Diakonisse fordern, und
denen, die auch von jeder andern tüchtigen Arbeiterin verrichtet werden können.
In der Macht des Mutterhauses liegt es, bei den Kontrakten dafür zu sorgen,
daß die Diakonissen an Leib, Seele und Geist keinen Schaden nehmen. Bei den
Behörden und den Gemeinden ist der Wunsch verzeihlich, mit wenig Personal
möglichst viel Arbeit zu verrichten; wenn aber das Mutterhaus diesem Wunsch
entgegenkommt, so überflügelt es den eignen Opfersinn seiner Schwestern, und
es geschehn oft falsch angebrachte Aufopferungen der Schwestern um einer
öffentlichen Kasse willen.

Es liegt in der Art des Berufs, daß er keine Sonn- und Festtage frei¬
läßt, denn die Kranken dürfen dann nicht schlechter versorgt werden als all¬
tags. Und wenn die Neinigungsarbeiten an diesen Tage» auch möglichst
beschränkt werden, so drängt es wohl jede Schwester, die Festtage für die
Kranken dadurch auszuzeichnen, daß sie sich diesen mit mehr Muße als sonst
widmet. Es bedürfte der Warnungen des erwähnten Dinkonissenbüchleins
vor Freundschaft, Korrespondenz, vertrauter Aussprache, weltlicher Lektüre
und andern Freuden nicht; die Arbeit beschränkt gewöhnlich das alles auf ein
Minimum oder hindert es ganz. Auch der tägliche Spaziergang, der für
die in Privatpflege arbeitenden Schwestern ausbedungen wird, bleibt in der
Spitalarbeit Illusion. Die Schreiberin dieser Zeilen machte an einem Sonntag
des Juni ihren letzten Spaziergang als Probeschwester, der vorletzte hatte sie
durch eine Schneelandschaft geführt. Dabei lagen durchaus keine ungewöhn¬
lichen Behiuderungen vor.

Wer sich die Mühe nimmt, das genannte kleine Buch, das ein Leitfaden
für den Diakonissenunterricht sein will, zu prüfen, und wer besonders die
tzH 6 bis 18 und 28 aufmerksam durchliest, der wird die Segensmacht deS
Dialonissentums in ihren Ursachen begreifen, aber er wird auch deu Eindruck
von einer asketischen Lebensauffassung erhalten, die in einem evangelische»
Mutterhause befremden muß.

Zuletzt sei es nur erlaubt, noch etwas rein Äußerliches zu erwühueu, das
aber vielen Schwestern zwecklose Schwierigkeiten bereitet: die die Ohren be¬
deckende Hunde. Man hört schlechter unter ihr — nicht bloß, weil der Schall
dnrch den Leinenstoff hindurch muß, sondern anch weil dieser bei jeder Kopf¬
bewegung ein Rauschen und Knistern vollführt. Das Rufen oder Klingeln der
Kranken, das Beobachten der Atmung bei manchen Patienten, die leisen Befehle
des Operateurs, das matte Sprechen Schwerkranker fordern ein besonders
scharfes Gehör. Diese Haube paßt für eine Nonne, bei der die Tracht auf
Tötung der Sinne hinwirken soll; evangelische Diakonissen brauchen alles zum
Dienst des Nächsten! Manche Schwester sieht man im Opercitionssaal und
anderswo verstohlen die Mütze ein wenig von den Ohren zurückziehn, obwohl es
nicht sein darf. Außerdem wirkt diese Haube schlecht auf die Kopfnerven und ver¬
ursacht denen, die gewöhnt gewesen sind, den Kopf kühl und frei zu tragen, leicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/376>, abgerufen am 01.09.2024.