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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zurückgehn, vor allem auf das Bibelwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die
ersten französischen Sozialisten hätten aus dieser Quelle geschöpft. Pierre Leroux habe
nicht allein das Wort Sozialismus geschaffen, sondern auch den biblischen Begriff der
menschlichen Solidarität wieder belebt und gelehrt: Wir sind alle Menschen, find
Brüder; Wir sollen alle glücklich sein, und die einen sollen es durch die andern
werden. Nur indem wir einander lieben, einander achten, einander helfen, können wir
an das Ziel gelangen, das der Menschheit vorgezeichnet ist. In der Kritik der
kapitalistischen Gesellschaft giebt Nossig den Sozialdemokraten an Schärfe nichts nach
und stützt sie mit manchem bisher unverwandten Material. Besonders hebt er die
schlimme Lage der kleinern Unternehmer hervor und die von den Trusts allen
Klassen ohne Ausnahme drohenden Gefahren. Er hätte noch das Wort Carnegies
anführen sollen: Die Nationalökonomen sind Esel, das Gesetz von Angebot und
Nachfrage ist Unsinn; wir machen den Preis, und wir bestimmen, was produziert
werden soll. Recht deutlich erkennt man aus seiner historischen Übersicht, wie sich
alle Vorwürfe, die der Sozialismus gegen die kapitalistische Ordnung erhebt, auf
Aussprüche der Verteidiger dieser Ordnung stützen, ja geradezu der klassischen
Ökonomie entlehnt sind. Daß z. B. das eherne Lohngesetz in der ruchlosen Formel
von Malthus steckt, ist ja allgemein bekannt, wird aber in der Polemik gegen den
Sozialismus gewöhnlich übersehen. Aber auch Ricardo sagt: es giebt kein andres
Mittel, die Einkünfte öder Unternehmers hoch, als das, die Löhne niedrig zu halten.
Sehr schön zeigt Nossig, wie die Manchesterlehre aus dem auf mangelhafter Kenntnis
der Geschichte beruhenden großen Irrtum Adam Smiths, seiner Spartheorie, hernns-
gesponnen worden ist, während man die wichtigen Wahrheiten in der Lehre des
edeln Schotten dem dummen Publikum verschwieg und, dürfen wir hinzufügen, bis
heute verschweigt.

Wie der Marxismus in volkswirtschaftlicher Beziehung nur eine folgerichtige
Anwendung der klassischen Ökonomie ist, so ist seine Philosophie nur die letzte Kon¬
sequenz des Hegeltmns. Nachdem David Strauß, Bruno Bauer und Feuerbach
aus Hegels Shstem die reine Diesseitigkeit gefolgert hatten, blieb nur uoch die
Wahl zwischen dem Himmel auf Erden und der Pessimistischen Flucht aus der
irdischen Hölle. Die Entscheidung für den ersten war das dem europäischen Geiste
angemessenere und zugleich das vernünftigere und seltsamere, weil eine utopische
Hoffnung nicht, wie der Buddhismus, lahmt, sondern im Bunde mit der Begierde
zum Handeln treibt. Dr. David Koigen liefert mit seinem Buche: Zur Vor¬
geschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland
(26. Band der von Professor Dr. Ludwig Stein herausgegebnen Berner Studien
zur Philosophie und ihrer Geschichte; Bern, C. Sturzeuegger, 1901) eine (nicht
beabsichtigte) Ergänzung des Buches von Mehring, das wir zu dem Aufsatze
"Marx als Philosoph" gebraucht haben. Außer den drei oben genannten Jung¬
hegelianern behandelt er Max Stirner, "den Philosophen des Lumpenprole¬
tariats," Moses Heß, Karl Grün und Otto Lüning. Auch Lorenz von Stein, der
von den Sozialisten verspottete Reaktionär, wird berücksichtigt, weil er eben¬
falls von Hegel ausgegangen ist, und weil seine sozialistischen Gegner ihn stark
benutzt haben. Er zeigt, welche Rolle der Besitz in der politischen Entwicklung
spielt, ferner, daß keine Zeit vor der unsern ein Proletariat gehabt hat, und daß
die Lage der Armen in der heutigen Welt von der in den Staaten des Alter¬
tums grundverschieden ist; er bestreitet, daß es zur Erzeugung des Klassenhasses
einer besondern Agitation bedürfe; dieser sei durch die Lage der Dinge, namentlich
durch den Widerspruch zwischen der formellen Gleichberechtigung und der that¬
sächlichen Ungleichheit der Besitzenden und der Nichtbesitzenden unvermeidlich ge¬
geben. Marx ist nach Koigen vom Fenerbnchianismus, der erst jetzt, z. B. bei
Simmel, durchdringe, einen Schritt zurückgegangen. Der Marxismus wird in einem
Satznngehener charakterisiert, das die ganze Seite 257 füllt, und von dem wir
wenigstens den Anfang hersetzen Wollen. Karl Marx ist "das bedeutendste Er¬
gebnis des Chaos, das sich aus der Kreuzung des deutschen Idealismus und des


Grenzboten II 1802 93
Maßgebliches und Unmaßgebliches

zurückgehn, vor allem auf das Bibelwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die
ersten französischen Sozialisten hätten aus dieser Quelle geschöpft. Pierre Leroux habe
nicht allein das Wort Sozialismus geschaffen, sondern auch den biblischen Begriff der
menschlichen Solidarität wieder belebt und gelehrt: Wir sind alle Menschen, find
Brüder; Wir sollen alle glücklich sein, und die einen sollen es durch die andern
werden. Nur indem wir einander lieben, einander achten, einander helfen, können wir
an das Ziel gelangen, das der Menschheit vorgezeichnet ist. In der Kritik der
kapitalistischen Gesellschaft giebt Nossig den Sozialdemokraten an Schärfe nichts nach
und stützt sie mit manchem bisher unverwandten Material. Besonders hebt er die
schlimme Lage der kleinern Unternehmer hervor und die von den Trusts allen
Klassen ohne Ausnahme drohenden Gefahren. Er hätte noch das Wort Carnegies
anführen sollen: Die Nationalökonomen sind Esel, das Gesetz von Angebot und
Nachfrage ist Unsinn; wir machen den Preis, und wir bestimmen, was produziert
werden soll. Recht deutlich erkennt man aus seiner historischen Übersicht, wie sich
alle Vorwürfe, die der Sozialismus gegen die kapitalistische Ordnung erhebt, auf
Aussprüche der Verteidiger dieser Ordnung stützen, ja geradezu der klassischen
Ökonomie entlehnt sind. Daß z. B. das eherne Lohngesetz in der ruchlosen Formel
von Malthus steckt, ist ja allgemein bekannt, wird aber in der Polemik gegen den
Sozialismus gewöhnlich übersehen. Aber auch Ricardo sagt: es giebt kein andres
Mittel, die Einkünfte öder Unternehmers hoch, als das, die Löhne niedrig zu halten.
Sehr schön zeigt Nossig, wie die Manchesterlehre aus dem auf mangelhafter Kenntnis
der Geschichte beruhenden großen Irrtum Adam Smiths, seiner Spartheorie, hernns-
gesponnen worden ist, während man die wichtigen Wahrheiten in der Lehre des
edeln Schotten dem dummen Publikum verschwieg und, dürfen wir hinzufügen, bis
heute verschweigt.

Wie der Marxismus in volkswirtschaftlicher Beziehung nur eine folgerichtige
Anwendung der klassischen Ökonomie ist, so ist seine Philosophie nur die letzte Kon¬
sequenz des Hegeltmns. Nachdem David Strauß, Bruno Bauer und Feuerbach
aus Hegels Shstem die reine Diesseitigkeit gefolgert hatten, blieb nur uoch die
Wahl zwischen dem Himmel auf Erden und der Pessimistischen Flucht aus der
irdischen Hölle. Die Entscheidung für den ersten war das dem europäischen Geiste
angemessenere und zugleich das vernünftigere und seltsamere, weil eine utopische
Hoffnung nicht, wie der Buddhismus, lahmt, sondern im Bunde mit der Begierde
zum Handeln treibt. Dr. David Koigen liefert mit seinem Buche: Zur Vor¬
geschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland
(26. Band der von Professor Dr. Ludwig Stein herausgegebnen Berner Studien
zur Philosophie und ihrer Geschichte; Bern, C. Sturzeuegger, 1901) eine (nicht
beabsichtigte) Ergänzung des Buches von Mehring, das wir zu dem Aufsatze
„Marx als Philosoph" gebraucht haben. Außer den drei oben genannten Jung¬
hegelianern behandelt er Max Stirner, „den Philosophen des Lumpenprole¬
tariats," Moses Heß, Karl Grün und Otto Lüning. Auch Lorenz von Stein, der
von den Sozialisten verspottete Reaktionär, wird berücksichtigt, weil er eben¬
falls von Hegel ausgegangen ist, und weil seine sozialistischen Gegner ihn stark
benutzt haben. Er zeigt, welche Rolle der Besitz in der politischen Entwicklung
spielt, ferner, daß keine Zeit vor der unsern ein Proletariat gehabt hat, und daß
die Lage der Armen in der heutigen Welt von der in den Staaten des Alter¬
tums grundverschieden ist; er bestreitet, daß es zur Erzeugung des Klassenhasses
einer besondern Agitation bedürfe; dieser sei durch die Lage der Dinge, namentlich
durch den Widerspruch zwischen der formellen Gleichberechtigung und der that¬
sächlichen Ungleichheit der Besitzenden und der Nichtbesitzenden unvermeidlich ge¬
geben. Marx ist nach Koigen vom Fenerbnchianismus, der erst jetzt, z. B. bei
Simmel, durchdringe, einen Schritt zurückgegangen. Der Marxismus wird in einem
Satznngehener charakterisiert, das die ganze Seite 257 füllt, und von dem wir
wenigstens den Anfang hersetzen Wollen. Karl Marx ist „das bedeutendste Er¬
gebnis des Chaos, das sich aus der Kreuzung des deutschen Idealismus und des


Grenzboten II 1802 93
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[0747] Maßgebliches und Unmaßgebliches zurückgehn, vor allem auf das Bibelwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die ersten französischen Sozialisten hätten aus dieser Quelle geschöpft. Pierre Leroux habe nicht allein das Wort Sozialismus geschaffen, sondern auch den biblischen Begriff der menschlichen Solidarität wieder belebt und gelehrt: Wir sind alle Menschen, find Brüder; Wir sollen alle glücklich sein, und die einen sollen es durch die andern werden. Nur indem wir einander lieben, einander achten, einander helfen, können wir an das Ziel gelangen, das der Menschheit vorgezeichnet ist. In der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft giebt Nossig den Sozialdemokraten an Schärfe nichts nach und stützt sie mit manchem bisher unverwandten Material. Besonders hebt er die schlimme Lage der kleinern Unternehmer hervor und die von den Trusts allen Klassen ohne Ausnahme drohenden Gefahren. Er hätte noch das Wort Carnegies anführen sollen: Die Nationalökonomen sind Esel, das Gesetz von Angebot und Nachfrage ist Unsinn; wir machen den Preis, und wir bestimmen, was produziert werden soll. Recht deutlich erkennt man aus seiner historischen Übersicht, wie sich alle Vorwürfe, die der Sozialismus gegen die kapitalistische Ordnung erhebt, auf Aussprüche der Verteidiger dieser Ordnung stützen, ja geradezu der klassischen Ökonomie entlehnt sind. Daß z. B. das eherne Lohngesetz in der ruchlosen Formel von Malthus steckt, ist ja allgemein bekannt, wird aber in der Polemik gegen den Sozialismus gewöhnlich übersehen. Aber auch Ricardo sagt: es giebt kein andres Mittel, die Einkünfte öder Unternehmers hoch, als das, die Löhne niedrig zu halten. Sehr schön zeigt Nossig, wie die Manchesterlehre aus dem auf mangelhafter Kenntnis der Geschichte beruhenden großen Irrtum Adam Smiths, seiner Spartheorie, hernns- gesponnen worden ist, während man die wichtigen Wahrheiten in der Lehre des edeln Schotten dem dummen Publikum verschwieg und, dürfen wir hinzufügen, bis heute verschweigt. Wie der Marxismus in volkswirtschaftlicher Beziehung nur eine folgerichtige Anwendung der klassischen Ökonomie ist, so ist seine Philosophie nur die letzte Kon¬ sequenz des Hegeltmns. Nachdem David Strauß, Bruno Bauer und Feuerbach aus Hegels Shstem die reine Diesseitigkeit gefolgert hatten, blieb nur uoch die Wahl zwischen dem Himmel auf Erden und der Pessimistischen Flucht aus der irdischen Hölle. Die Entscheidung für den ersten war das dem europäischen Geiste angemessenere und zugleich das vernünftigere und seltsamere, weil eine utopische Hoffnung nicht, wie der Buddhismus, lahmt, sondern im Bunde mit der Begierde zum Handeln treibt. Dr. David Koigen liefert mit seinem Buche: Zur Vor¬ geschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland (26. Band der von Professor Dr. Ludwig Stein herausgegebnen Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte; Bern, C. Sturzeuegger, 1901) eine (nicht beabsichtigte) Ergänzung des Buches von Mehring, das wir zu dem Aufsatze „Marx als Philosoph" gebraucht haben. Außer den drei oben genannten Jung¬ hegelianern behandelt er Max Stirner, „den Philosophen des Lumpenprole¬ tariats," Moses Heß, Karl Grün und Otto Lüning. Auch Lorenz von Stein, der von den Sozialisten verspottete Reaktionär, wird berücksichtigt, weil er eben¬ falls von Hegel ausgegangen ist, und weil seine sozialistischen Gegner ihn stark benutzt haben. Er zeigt, welche Rolle der Besitz in der politischen Entwicklung spielt, ferner, daß keine Zeit vor der unsern ein Proletariat gehabt hat, und daß die Lage der Armen in der heutigen Welt von der in den Staaten des Alter¬ tums grundverschieden ist; er bestreitet, daß es zur Erzeugung des Klassenhasses einer besondern Agitation bedürfe; dieser sei durch die Lage der Dinge, namentlich durch den Widerspruch zwischen der formellen Gleichberechtigung und der that¬ sächlichen Ungleichheit der Besitzenden und der Nichtbesitzenden unvermeidlich ge¬ geben. Marx ist nach Koigen vom Fenerbnchianismus, der erst jetzt, z. B. bei Simmel, durchdringe, einen Schritt zurückgegangen. Der Marxismus wird in einem Satznngehener charakterisiert, das die ganze Seite 257 füllt, und von dem wir wenigstens den Anfang hersetzen Wollen. Karl Marx ist „das bedeutendste Er¬ gebnis des Chaos, das sich aus der Kreuzung des deutschen Idealismus und des Grenzboten II 1802 93

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/747>, abgerufen am 26.06.2024.