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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

andres gewesen ist als ein verwirrender Schein. Es handelt sich zunächst um
eine Finanzfrage, demnach allerdings um "schnödes Geld," aber um das Geld der
sächsischen Steuerzahler; es handelt sich einfach um die Frage: Ist der sächsische
Staat imstande, die Selbständigkeit seiner Eisenbahnverwaltung finanziell ohne un-
verhältnismäßige Opfer auch künftig zu behaupten, oder ist er es nicht? Wir
wissen nicht, ob er es sein wird. Es ist ja möglich, daß sich, wenn man im Ban
unrentabler Linien etwas "zurückhaltender" verfährt als bisher, wenn man die
Verwaltungskosten verringert, auch nicht mehr alle zuweilen sehr naiven lokalen
Wünsche befriedigt, und wenn der Geschäftsgang wieder besser wird, die Ein¬
nahmen wieder heben und die Ausgaben verringern. Aber einen festen Anhalt
dafür giebt es nicht. Ist er es aber nicht, nun dann würde es die Pflicht der
Regierung sein, in neue Bahnen einzulenken, denn regieren heißt voraussehen.

Fassen wir nun doch das Schreckensgespenst des Eintritts in eine größere
Eisenbahngemeinschaft etwas näher ins Ange! Zunächst ist doch anch jetzt die
sächsische Eisenbahnverwaltung so wenig ganz "unabhängig" wie die irgend eines
andern Mittelstaats; sie muß in Fahrplänen und Tarifen fortwährend Rücksichten
auf die Nachbarn, vor allem auf Preußen, nehmen, ohne doch irgendwelchen ent¬
sprechenden Einfluß auf dessen Leitung ausüben zu können. Nach wenig Wochen
mußten sich z. B. alle Mittelstaaten der in Preußen verfügten Giltigkeitsdauer der
Tagesbillets auf 45 Tage einfach unterwerfen, ohne daß auch nur Verhandlungen
stattgefunden hätten. Sodann und vor allein: die preußisch-hessische Eisenbcchn-
gemeinschaft ist eine Betriebs- und Finanzgemeinschnft, keine Besitzgemeiuschaft, der
hessische Staat ist vielmehr im Besitz seiner Eisenbahnen geblieben. Auch ist der
Betrieb gar nicht schlechtweg auf die preußische Verwaltung übergegangen, es besteht
vielmehr eine gemeinsame preußisch-hessische Eiscnbahndirektion in Mainz neben der
preußischen in Frankfurt a. M., beide stehn unter einem gemeinsamen Bezirks¬
eisenbahnrat, und überdies ist Hessen sowohl im preußischen Ministerium für öffent¬
liche Arbeiten als im preußischen Eisenbahnrat vertreten, hat also vollkommen Ge¬
legenheit, seine Interessen zu wahren. Von den gemeinsamen Einnahmen bezieht
es keineswegs eine feste Rente, sondern einen festen Prozentsatz (^/^,), es nimmt
also an den gemeinsamen Gewinnen und Verlusten entsprechend teil, die sich doch
offenbar bei einem so kolossalen Netz (gegen 32000 Kilometer) eher ausgleichen
als bei einem viel kleinern; jedenfalls bezieht es schon jetzt eine gegen früher be¬
trächtlich erhöhte Eiseubahnrente (7 Prozent).

Denken wir uns nun Sachsen in dieselbe Lage versetzt, so würde es sein Eigen¬
tumsrecht an seinen Staatsbahnen behalten wie bisher; es würden nur ein oder
auch zwei gemeinsame Eisenbahndirektionen in Dresden und Leipzig nnter einem ge¬
meinsamen Eisenbahnrat zu errichten sein, und Sachsen würde seine Vertretung in
Berlin haben, also auf den Gesamtbetrieb Einfluß gewinnen, der ihm jetzt völlig
fehlt, und an dein Gewinn auch der preußischen Konlurrenzlinien einen Anteil haben,
die jetzt auf seine Eiseubahnrente drücken, und seine eignen Eisenbahnverbindungen
wesentlich verbessern, die jetzt für Leipzig, die größte Stadt des Landes, nach ver-
schiednen Richtungen hin geradezu skandalös sind, weit die preußische Verwaltung
auf Leipzig keine Rücksicht zu nehmen braucht. Da Sachsen ein musterhaft ver¬
waltetes Eisenbahnnetz von etwa 3000 Kilometern besitzt, würde es unzweifelhaft
wesentlich günstigere Bedingungen erlangen können, als das um so viel kleinere
Hessen. Es wäre z. B. wohl möglich, daß es sich das Anstellungsrecht für die
Beamten in Sachsen vorbehielte. Und wenn nicht alle seine Linien Aufnahme finden
sollten, so ist nicht abzusehen, warum nicht auch in Sachsen die Bezirke Neben-
und Kleinbahnen übernehmen könnten, die freilich viel billiger gebant und verwaltet
werden müßten als bisher. Solche tief eingreifende Fragen werden nur durch die
sorgfältigste" Erwägungen entschieden, nicht dnrch erregte Deklamationen. Wenn ein
(eingesandter) Artikel der Leipziger Zeitung vom 9. Maid. I. sagt, "wir würden
dann nicht mehr Herr im eignen Hanse sein," so ist das eine bestechende, aber in¬
haltslose Phrase. Kein deutscher Staat ist heute mehr ganz "Herr im eignen
Hause," sie sind alle von der Reichsgewalt in bald größerm, bald geringerm


Maßgebliches und Unmaßgebliches

andres gewesen ist als ein verwirrender Schein. Es handelt sich zunächst um
eine Finanzfrage, demnach allerdings um „schnödes Geld," aber um das Geld der
sächsischen Steuerzahler; es handelt sich einfach um die Frage: Ist der sächsische
Staat imstande, die Selbständigkeit seiner Eisenbahnverwaltung finanziell ohne un-
verhältnismäßige Opfer auch künftig zu behaupten, oder ist er es nicht? Wir
wissen nicht, ob er es sein wird. Es ist ja möglich, daß sich, wenn man im Ban
unrentabler Linien etwas „zurückhaltender" verfährt als bisher, wenn man die
Verwaltungskosten verringert, auch nicht mehr alle zuweilen sehr naiven lokalen
Wünsche befriedigt, und wenn der Geschäftsgang wieder besser wird, die Ein¬
nahmen wieder heben und die Ausgaben verringern. Aber einen festen Anhalt
dafür giebt es nicht. Ist er es aber nicht, nun dann würde es die Pflicht der
Regierung sein, in neue Bahnen einzulenken, denn regieren heißt voraussehen.

Fassen wir nun doch das Schreckensgespenst des Eintritts in eine größere
Eisenbahngemeinschaft etwas näher ins Ange! Zunächst ist doch anch jetzt die
sächsische Eisenbahnverwaltung so wenig ganz „unabhängig" wie die irgend eines
andern Mittelstaats; sie muß in Fahrplänen und Tarifen fortwährend Rücksichten
auf die Nachbarn, vor allem auf Preußen, nehmen, ohne doch irgendwelchen ent¬
sprechenden Einfluß auf dessen Leitung ausüben zu können. Nach wenig Wochen
mußten sich z. B. alle Mittelstaaten der in Preußen verfügten Giltigkeitsdauer der
Tagesbillets auf 45 Tage einfach unterwerfen, ohne daß auch nur Verhandlungen
stattgefunden hätten. Sodann und vor allein: die preußisch-hessische Eisenbcchn-
gemeinschaft ist eine Betriebs- und Finanzgemeinschnft, keine Besitzgemeiuschaft, der
hessische Staat ist vielmehr im Besitz seiner Eisenbahnen geblieben. Auch ist der
Betrieb gar nicht schlechtweg auf die preußische Verwaltung übergegangen, es besteht
vielmehr eine gemeinsame preußisch-hessische Eiscnbahndirektion in Mainz neben der
preußischen in Frankfurt a. M., beide stehn unter einem gemeinsamen Bezirks¬
eisenbahnrat, und überdies ist Hessen sowohl im preußischen Ministerium für öffent¬
liche Arbeiten als im preußischen Eisenbahnrat vertreten, hat also vollkommen Ge¬
legenheit, seine Interessen zu wahren. Von den gemeinsamen Einnahmen bezieht
es keineswegs eine feste Rente, sondern einen festen Prozentsatz (^/^,), es nimmt
also an den gemeinsamen Gewinnen und Verlusten entsprechend teil, die sich doch
offenbar bei einem so kolossalen Netz (gegen 32000 Kilometer) eher ausgleichen
als bei einem viel kleinern; jedenfalls bezieht es schon jetzt eine gegen früher be¬
trächtlich erhöhte Eiseubahnrente (7 Prozent).

Denken wir uns nun Sachsen in dieselbe Lage versetzt, so würde es sein Eigen¬
tumsrecht an seinen Staatsbahnen behalten wie bisher; es würden nur ein oder
auch zwei gemeinsame Eisenbahndirektionen in Dresden und Leipzig nnter einem ge¬
meinsamen Eisenbahnrat zu errichten sein, und Sachsen würde seine Vertretung in
Berlin haben, also auf den Gesamtbetrieb Einfluß gewinnen, der ihm jetzt völlig
fehlt, und an dein Gewinn auch der preußischen Konlurrenzlinien einen Anteil haben,
die jetzt auf seine Eiseubahnrente drücken, und seine eignen Eisenbahnverbindungen
wesentlich verbessern, die jetzt für Leipzig, die größte Stadt des Landes, nach ver-
schiednen Richtungen hin geradezu skandalös sind, weit die preußische Verwaltung
auf Leipzig keine Rücksicht zu nehmen braucht. Da Sachsen ein musterhaft ver¬
waltetes Eisenbahnnetz von etwa 3000 Kilometern besitzt, würde es unzweifelhaft
wesentlich günstigere Bedingungen erlangen können, als das um so viel kleinere
Hessen. Es wäre z. B. wohl möglich, daß es sich das Anstellungsrecht für die
Beamten in Sachsen vorbehielte. Und wenn nicht alle seine Linien Aufnahme finden
sollten, so ist nicht abzusehen, warum nicht auch in Sachsen die Bezirke Neben-
und Kleinbahnen übernehmen könnten, die freilich viel billiger gebant und verwaltet
werden müßten als bisher. Solche tief eingreifende Fragen werden nur durch die
sorgfältigste» Erwägungen entschieden, nicht dnrch erregte Deklamationen. Wenn ein
(eingesandter) Artikel der Leipziger Zeitung vom 9. Maid. I. sagt, „wir würden
dann nicht mehr Herr im eignen Hanse sein," so ist das eine bestechende, aber in¬
haltslose Phrase. Kein deutscher Staat ist heute mehr ganz „Herr im eignen
Hause," sie sind alle von der Reichsgewalt in bald größerm, bald geringerm


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[0460] Maßgebliches und Unmaßgebliches andres gewesen ist als ein verwirrender Schein. Es handelt sich zunächst um eine Finanzfrage, demnach allerdings um „schnödes Geld," aber um das Geld der sächsischen Steuerzahler; es handelt sich einfach um die Frage: Ist der sächsische Staat imstande, die Selbständigkeit seiner Eisenbahnverwaltung finanziell ohne un- verhältnismäßige Opfer auch künftig zu behaupten, oder ist er es nicht? Wir wissen nicht, ob er es sein wird. Es ist ja möglich, daß sich, wenn man im Ban unrentabler Linien etwas „zurückhaltender" verfährt als bisher, wenn man die Verwaltungskosten verringert, auch nicht mehr alle zuweilen sehr naiven lokalen Wünsche befriedigt, und wenn der Geschäftsgang wieder besser wird, die Ein¬ nahmen wieder heben und die Ausgaben verringern. Aber einen festen Anhalt dafür giebt es nicht. Ist er es aber nicht, nun dann würde es die Pflicht der Regierung sein, in neue Bahnen einzulenken, denn regieren heißt voraussehen. Fassen wir nun doch das Schreckensgespenst des Eintritts in eine größere Eisenbahngemeinschaft etwas näher ins Ange! Zunächst ist doch anch jetzt die sächsische Eisenbahnverwaltung so wenig ganz „unabhängig" wie die irgend eines andern Mittelstaats; sie muß in Fahrplänen und Tarifen fortwährend Rücksichten auf die Nachbarn, vor allem auf Preußen, nehmen, ohne doch irgendwelchen ent¬ sprechenden Einfluß auf dessen Leitung ausüben zu können. Nach wenig Wochen mußten sich z. B. alle Mittelstaaten der in Preußen verfügten Giltigkeitsdauer der Tagesbillets auf 45 Tage einfach unterwerfen, ohne daß auch nur Verhandlungen stattgefunden hätten. Sodann und vor allein: die preußisch-hessische Eisenbcchn- gemeinschaft ist eine Betriebs- und Finanzgemeinschnft, keine Besitzgemeiuschaft, der hessische Staat ist vielmehr im Besitz seiner Eisenbahnen geblieben. Auch ist der Betrieb gar nicht schlechtweg auf die preußische Verwaltung übergegangen, es besteht vielmehr eine gemeinsame preußisch-hessische Eiscnbahndirektion in Mainz neben der preußischen in Frankfurt a. M., beide stehn unter einem gemeinsamen Bezirks¬ eisenbahnrat, und überdies ist Hessen sowohl im preußischen Ministerium für öffent¬ liche Arbeiten als im preußischen Eisenbahnrat vertreten, hat also vollkommen Ge¬ legenheit, seine Interessen zu wahren. Von den gemeinsamen Einnahmen bezieht es keineswegs eine feste Rente, sondern einen festen Prozentsatz (^/^,), es nimmt also an den gemeinsamen Gewinnen und Verlusten entsprechend teil, die sich doch offenbar bei einem so kolossalen Netz (gegen 32000 Kilometer) eher ausgleichen als bei einem viel kleinern; jedenfalls bezieht es schon jetzt eine gegen früher be¬ trächtlich erhöhte Eiseubahnrente (7 Prozent). Denken wir uns nun Sachsen in dieselbe Lage versetzt, so würde es sein Eigen¬ tumsrecht an seinen Staatsbahnen behalten wie bisher; es würden nur ein oder auch zwei gemeinsame Eisenbahndirektionen in Dresden und Leipzig nnter einem ge¬ meinsamen Eisenbahnrat zu errichten sein, und Sachsen würde seine Vertretung in Berlin haben, also auf den Gesamtbetrieb Einfluß gewinnen, der ihm jetzt völlig fehlt, und an dein Gewinn auch der preußischen Konlurrenzlinien einen Anteil haben, die jetzt auf seine Eiseubahnrente drücken, und seine eignen Eisenbahnverbindungen wesentlich verbessern, die jetzt für Leipzig, die größte Stadt des Landes, nach ver- schiednen Richtungen hin geradezu skandalös sind, weit die preußische Verwaltung auf Leipzig keine Rücksicht zu nehmen braucht. Da Sachsen ein musterhaft ver¬ waltetes Eisenbahnnetz von etwa 3000 Kilometern besitzt, würde es unzweifelhaft wesentlich günstigere Bedingungen erlangen können, als das um so viel kleinere Hessen. Es wäre z. B. wohl möglich, daß es sich das Anstellungsrecht für die Beamten in Sachsen vorbehielte. Und wenn nicht alle seine Linien Aufnahme finden sollten, so ist nicht abzusehen, warum nicht auch in Sachsen die Bezirke Neben- und Kleinbahnen übernehmen könnten, die freilich viel billiger gebant und verwaltet werden müßten als bisher. Solche tief eingreifende Fragen werden nur durch die sorgfältigste» Erwägungen entschieden, nicht dnrch erregte Deklamationen. Wenn ein (eingesandter) Artikel der Leipziger Zeitung vom 9. Maid. I. sagt, „wir würden dann nicht mehr Herr im eignen Hanse sein," so ist das eine bestechende, aber in¬ haltslose Phrase. Kein deutscher Staat ist heute mehr ganz „Herr im eignen Hause," sie sind alle von der Reichsgewalt in bald größerm, bald geringerm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/460>, abgerufen am 29.06.2024.