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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Tehren der Geschichte Hollands und Englands

nach den herrschenden Interessen der Vorteil gleichmäßig abgemessen war. Es
war nicht anders, als daß die Niederländer auch nach dem Tode Wilhelms
an der Seite Englands gegen Frankreich kämpfen mußten, aber es kam darauf
an, wie sie selbst ihre Stellung in diesem Koalitionskriege auffaßten.

Den Republikanern wurde dauernd der Vorwurf gemacht, daß sie die
holländische Landmacht vernachlässigten, ohne Zweifel mit gutem Grunde.
Aber auf der andern Seite darf mit einigem Recht auch die Frage auf¬
geworfen werden, ob nicht von oranischer Seite auf die Pflege der Sicherung
des Landes dnrch die herrschende politische Überzeugung zu viel Gewicht gelegt
worden sei. Wenn man in der holländischen Geschichte von der Not liest,
die der Haager Politik die Erhaltung der Festungsbarriere gegen Frankreich
gemacht hat, so drängt sich dem rückwärts schauenden Betrachter immer wieder der
Gedanke auf, daß mit deu auf diese Sorge verwandten Mitteln das Gleich¬
gewicht der Wehrkraft gestört worden sei, auf dessen Erhaltung Holland viel¬
leicht mehr hingewiesen war als irgend ein andrer Staat damaliger Zeit.

Daß die Niederlande der Angriffslust Frankreichs gegenüber starker
Grenzfestungen bedurften, darüber braucht es keine Worte weiter, aber über
dieser unzweifelhaften Notwendigkeit darf man nicht vergessen, daß die eigent¬
liche Stärke Hollands in seiner Lage am Meere beruht. Wenn es heißt, daß
dieses Land eine Seemacht war, so ist damit nicht genug gesagt, Holland
war das, was zu Zeiten der alten Griechen Athen bedeutete, und damit war ihm
auch dessen maritime Politik vorgeschrieben. Man hat niemals davon gehört,
daß Themistokles darauf ausgewesen sei, die Kraft zu brechen, die in der
Phalanx der Marathonkämpfer lag, aber er ruhte nicht, bis er der Flotte das
Recht verschafft hatte, das ihr gebührte, und damit Athen auf den freien Dreh¬
punkt gehoben hatte. Die Politik der "hölzernen Mauern" war die einzig
richtige für die Niederländer, sie mußten diese so weit muss Meer hinnus-
bauen, wie es nur eben anging. Nicht nur die geographische Lage ihres
Landes an der günstigsten Stelle Europas gebot ihnen das, sondern auch
ihre politische Stellung. Diese war so vorteilhaft wie jene und wies mit der
Stetigkeit der Magnetnadel in die Richtung, wohin das Staatsschiff zu lenken
war. Nicht bloß für die Republikaner, sondern auch für die Orcmicr. Mit
großem Erfolg hatte Johann de Wit diese Staatskunst geübt; als das
dynastische Interesse die Holländer nicht mehr an England knüpfte, mußten
ihre Staatsmänner dahin zurückkehren.

In der That, die Zeiten boten dem kleinen Holland eine Gunst, wie sie
in der Weise niemals wiederkehren kann. In der Lücke, die die Eifersucht
Frankreichs und Englands ließ, war es leicht, sich die Ellenbogenfreiheit zu
bewahren, die für die Selbständigkeit der Bewegung ausreichend war. Aller¬
dings gehörte nach der französischen Seite dazu eine wenigstens für den ersten
Anfall ausreichende Landmacht, während bei der viel größern englischen
Gefahr die Flotte nicht stark genug sein konnte. Die Holländer mußten jeder¬
zeit über eine Flotte gebieten, die ihnen nicht bloß die Freiheit der Meere
und die Ergebnisse ihres Handels sicherte, sondern ihnen anch in dem großen
Gedränge der politischen Gegensätze die völlige Unabhängigkeit ihres Entschlusses


Die Tehren der Geschichte Hollands und Englands

nach den herrschenden Interessen der Vorteil gleichmäßig abgemessen war. Es
war nicht anders, als daß die Niederländer auch nach dem Tode Wilhelms
an der Seite Englands gegen Frankreich kämpfen mußten, aber es kam darauf
an, wie sie selbst ihre Stellung in diesem Koalitionskriege auffaßten.

Den Republikanern wurde dauernd der Vorwurf gemacht, daß sie die
holländische Landmacht vernachlässigten, ohne Zweifel mit gutem Grunde.
Aber auf der andern Seite darf mit einigem Recht auch die Frage auf¬
geworfen werden, ob nicht von oranischer Seite auf die Pflege der Sicherung
des Landes dnrch die herrschende politische Überzeugung zu viel Gewicht gelegt
worden sei. Wenn man in der holländischen Geschichte von der Not liest,
die der Haager Politik die Erhaltung der Festungsbarriere gegen Frankreich
gemacht hat, so drängt sich dem rückwärts schauenden Betrachter immer wieder der
Gedanke auf, daß mit deu auf diese Sorge verwandten Mitteln das Gleich¬
gewicht der Wehrkraft gestört worden sei, auf dessen Erhaltung Holland viel¬
leicht mehr hingewiesen war als irgend ein andrer Staat damaliger Zeit.

Daß die Niederlande der Angriffslust Frankreichs gegenüber starker
Grenzfestungen bedurften, darüber braucht es keine Worte weiter, aber über
dieser unzweifelhaften Notwendigkeit darf man nicht vergessen, daß die eigent¬
liche Stärke Hollands in seiner Lage am Meere beruht. Wenn es heißt, daß
dieses Land eine Seemacht war, so ist damit nicht genug gesagt, Holland
war das, was zu Zeiten der alten Griechen Athen bedeutete, und damit war ihm
auch dessen maritime Politik vorgeschrieben. Man hat niemals davon gehört,
daß Themistokles darauf ausgewesen sei, die Kraft zu brechen, die in der
Phalanx der Marathonkämpfer lag, aber er ruhte nicht, bis er der Flotte das
Recht verschafft hatte, das ihr gebührte, und damit Athen auf den freien Dreh¬
punkt gehoben hatte. Die Politik der „hölzernen Mauern" war die einzig
richtige für die Niederländer, sie mußten diese so weit muss Meer hinnus-
bauen, wie es nur eben anging. Nicht nur die geographische Lage ihres
Landes an der günstigsten Stelle Europas gebot ihnen das, sondern auch
ihre politische Stellung. Diese war so vorteilhaft wie jene und wies mit der
Stetigkeit der Magnetnadel in die Richtung, wohin das Staatsschiff zu lenken
war. Nicht bloß für die Republikaner, sondern auch für die Orcmicr. Mit
großem Erfolg hatte Johann de Wit diese Staatskunst geübt; als das
dynastische Interesse die Holländer nicht mehr an England knüpfte, mußten
ihre Staatsmänner dahin zurückkehren.

In der That, die Zeiten boten dem kleinen Holland eine Gunst, wie sie
in der Weise niemals wiederkehren kann. In der Lücke, die die Eifersucht
Frankreichs und Englands ließ, war es leicht, sich die Ellenbogenfreiheit zu
bewahren, die für die Selbständigkeit der Bewegung ausreichend war. Aller¬
dings gehörte nach der französischen Seite dazu eine wenigstens für den ersten
Anfall ausreichende Landmacht, während bei der viel größern englischen
Gefahr die Flotte nicht stark genug sein konnte. Die Holländer mußten jeder¬
zeit über eine Flotte gebieten, die ihnen nicht bloß die Freiheit der Meere
und die Ergebnisse ihres Handels sicherte, sondern ihnen anch in dem großen
Gedränge der politischen Gegensätze die völlige Unabhängigkeit ihres Entschlusses


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[0356] Die Tehren der Geschichte Hollands und Englands nach den herrschenden Interessen der Vorteil gleichmäßig abgemessen war. Es war nicht anders, als daß die Niederländer auch nach dem Tode Wilhelms an der Seite Englands gegen Frankreich kämpfen mußten, aber es kam darauf an, wie sie selbst ihre Stellung in diesem Koalitionskriege auffaßten. Den Republikanern wurde dauernd der Vorwurf gemacht, daß sie die holländische Landmacht vernachlässigten, ohne Zweifel mit gutem Grunde. Aber auf der andern Seite darf mit einigem Recht auch die Frage auf¬ geworfen werden, ob nicht von oranischer Seite auf die Pflege der Sicherung des Landes dnrch die herrschende politische Überzeugung zu viel Gewicht gelegt worden sei. Wenn man in der holländischen Geschichte von der Not liest, die der Haager Politik die Erhaltung der Festungsbarriere gegen Frankreich gemacht hat, so drängt sich dem rückwärts schauenden Betrachter immer wieder der Gedanke auf, daß mit deu auf diese Sorge verwandten Mitteln das Gleich¬ gewicht der Wehrkraft gestört worden sei, auf dessen Erhaltung Holland viel¬ leicht mehr hingewiesen war als irgend ein andrer Staat damaliger Zeit. Daß die Niederlande der Angriffslust Frankreichs gegenüber starker Grenzfestungen bedurften, darüber braucht es keine Worte weiter, aber über dieser unzweifelhaften Notwendigkeit darf man nicht vergessen, daß die eigent¬ liche Stärke Hollands in seiner Lage am Meere beruht. Wenn es heißt, daß dieses Land eine Seemacht war, so ist damit nicht genug gesagt, Holland war das, was zu Zeiten der alten Griechen Athen bedeutete, und damit war ihm auch dessen maritime Politik vorgeschrieben. Man hat niemals davon gehört, daß Themistokles darauf ausgewesen sei, die Kraft zu brechen, die in der Phalanx der Marathonkämpfer lag, aber er ruhte nicht, bis er der Flotte das Recht verschafft hatte, das ihr gebührte, und damit Athen auf den freien Dreh¬ punkt gehoben hatte. Die Politik der „hölzernen Mauern" war die einzig richtige für die Niederländer, sie mußten diese so weit muss Meer hinnus- bauen, wie es nur eben anging. Nicht nur die geographische Lage ihres Landes an der günstigsten Stelle Europas gebot ihnen das, sondern auch ihre politische Stellung. Diese war so vorteilhaft wie jene und wies mit der Stetigkeit der Magnetnadel in die Richtung, wohin das Staatsschiff zu lenken war. Nicht bloß für die Republikaner, sondern auch für die Orcmicr. Mit großem Erfolg hatte Johann de Wit diese Staatskunst geübt; als das dynastische Interesse die Holländer nicht mehr an England knüpfte, mußten ihre Staatsmänner dahin zurückkehren. In der That, die Zeiten boten dem kleinen Holland eine Gunst, wie sie in der Weise niemals wiederkehren kann. In der Lücke, die die Eifersucht Frankreichs und Englands ließ, war es leicht, sich die Ellenbogenfreiheit zu bewahren, die für die Selbständigkeit der Bewegung ausreichend war. Aller¬ dings gehörte nach der französischen Seite dazu eine wenigstens für den ersten Anfall ausreichende Landmacht, während bei der viel größern englischen Gefahr die Flotte nicht stark genug sein konnte. Die Holländer mußten jeder¬ zeit über eine Flotte gebieten, die ihnen nicht bloß die Freiheit der Meere und die Ergebnisse ihres Handels sicherte, sondern ihnen anch in dem großen Gedränge der politischen Gegensätze die völlige Unabhängigkeit ihres Entschlusses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/356>, abgerufen am 29.06.2024.