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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Über den Begriff des Dämonischen bei Goethe

"Wer weiß, erwidert Goethe, vielleicht auf Millionen!" Und im weitern
Verlauf spricht er den ernsten Gedanken aus: "Klüger und einsichtiger wird
die Menschheit werden, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder doch
nur auf Epochen!"

Doch auch eiuen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Gang
der Geschichte spricht Goethe dem dämonischen Weltelement zu, so bei der be¬
geisterten Erhebung von 1813 zur Abschüttlung der Fremdherrschaft. "Die
allgemeine Not und das allgemeine Gefühl der Schmach, ruft er aus, hatte
die Nation als etwas Dämonisches ergriffen; das begeisternde Feuer, das der
Dichter Hütte entzünden können, brannte bereits überall von selber." Aber
Goethe dachte sich das Eingreifen der dämonischen Macht auch als etwas den
Verlauf des persönlichen Lebens beeinflussendes. Am 18. Februar 1831 er¬
zählt er Eckermann, daß seine mit Soret unternommne Übersetzung der "Meta¬
morphose der Pflanzen" ins Französische anfangs auf widerwärtige Hindernisse
und Verzögerungen gestoßen wäre, die er im stillen oft verwünscht hätte.
Allein später habe er eingesehen, daß dieser Aufschub der Arbeit außerordentlich
zu statten gekommen sei, da inzwischen andre Schriften und Entdeckungen er¬
schienen waren, die sein eignes Werk ungemein gefördert hätten. Man kommt
dahin, meint Goethe, bei solchen wunderbaren Wendungen an die Einwirkung
einer dämonischen Macht zu glauben, der man, ohne sie fassen zu können,
Verehrung und Dank zu schulden fühlt.

"So waltete auch bei meiner Bekanntschaft mit Schiller durchaus etwas
Dämonisches ob, berichtet er um 24. März 1829. Wir konnten früher, wir
konnten später zusammengeführt werden: aber daß wir es gerade in der Epoche
wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte, und Schiller der philo¬
sophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und
für beide vom größten Erfolg."

Noch andre wichtige Beispiele solcher Schickungen der Vorsehung führt
Goethe an (12. Mai 1825). "Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter
waren als ich, und die beiden erstern auf meine Jugend, der letztere aber auf
mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung." Auch seine Über¬
siedlung nach Weimar schreibt er einer solchen "Schicksalsfügung" zu. Ju
einem Gespräch am 5. Mürz 1830, als Eckermann die Äußerung thut, daß
die Liebe sich nach dem Charakter und der Persönlichkeit der Person, die wir
lieben, modifiziere, sagt Goethe: "Sie haben vollkommen Recht: denn nicht
bloß wir sind die Liebe, sondern es ist auch das anreizende Objekt. Und dann,
was nicht zu vergesse", kommt als ein mächtiges drittes noch das Dämonische
hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt, und das in der Liebe sein
eigentliches Element findet. In meinem Verhältnis zu Lili war es besonders
wirksam, es gab meinem ganzen Leben eine andre Richtung, und ich sage nicht
zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges
Hiersein davon eine unmittelbare Folge war!"

Man sieht, einen wie großen Spielraum Goethe den Einwirkungen der
Vorsehung im menschlichen Leben einräumt, und wir werden kaum fehlgehu,
wenn wir in der nachstehenden Stelle aus der "Natürlichen Tochter" (Akt lo,


Über den Begriff des Dämonischen bei Goethe

„Wer weiß, erwidert Goethe, vielleicht auf Millionen!" Und im weitern
Verlauf spricht er den ernsten Gedanken aus: „Klüger und einsichtiger wird
die Menschheit werden, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder doch
nur auf Epochen!"

Doch auch eiuen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Gang
der Geschichte spricht Goethe dem dämonischen Weltelement zu, so bei der be¬
geisterten Erhebung von 1813 zur Abschüttlung der Fremdherrschaft. „Die
allgemeine Not und das allgemeine Gefühl der Schmach, ruft er aus, hatte
die Nation als etwas Dämonisches ergriffen; das begeisternde Feuer, das der
Dichter Hütte entzünden können, brannte bereits überall von selber." Aber
Goethe dachte sich das Eingreifen der dämonischen Macht auch als etwas den
Verlauf des persönlichen Lebens beeinflussendes. Am 18. Februar 1831 er¬
zählt er Eckermann, daß seine mit Soret unternommne Übersetzung der „Meta¬
morphose der Pflanzen" ins Französische anfangs auf widerwärtige Hindernisse
und Verzögerungen gestoßen wäre, die er im stillen oft verwünscht hätte.
Allein später habe er eingesehen, daß dieser Aufschub der Arbeit außerordentlich
zu statten gekommen sei, da inzwischen andre Schriften und Entdeckungen er¬
schienen waren, die sein eignes Werk ungemein gefördert hätten. Man kommt
dahin, meint Goethe, bei solchen wunderbaren Wendungen an die Einwirkung
einer dämonischen Macht zu glauben, der man, ohne sie fassen zu können,
Verehrung und Dank zu schulden fühlt.

„So waltete auch bei meiner Bekanntschaft mit Schiller durchaus etwas
Dämonisches ob, berichtet er um 24. März 1829. Wir konnten früher, wir
konnten später zusammengeführt werden: aber daß wir es gerade in der Epoche
wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte, und Schiller der philo¬
sophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und
für beide vom größten Erfolg."

Noch andre wichtige Beispiele solcher Schickungen der Vorsehung führt
Goethe an (12. Mai 1825). „Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter
waren als ich, und die beiden erstern auf meine Jugend, der letztere aber auf
mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung." Auch seine Über¬
siedlung nach Weimar schreibt er einer solchen „Schicksalsfügung" zu. Ju
einem Gespräch am 5. Mürz 1830, als Eckermann die Äußerung thut, daß
die Liebe sich nach dem Charakter und der Persönlichkeit der Person, die wir
lieben, modifiziere, sagt Goethe: „Sie haben vollkommen Recht: denn nicht
bloß wir sind die Liebe, sondern es ist auch das anreizende Objekt. Und dann,
was nicht zu vergesse», kommt als ein mächtiges drittes noch das Dämonische
hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt, und das in der Liebe sein
eigentliches Element findet. In meinem Verhältnis zu Lili war es besonders
wirksam, es gab meinem ganzen Leben eine andre Richtung, und ich sage nicht
zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges
Hiersein davon eine unmittelbare Folge war!"

Man sieht, einen wie großen Spielraum Goethe den Einwirkungen der
Vorsehung im menschlichen Leben einräumt, und wir werden kaum fehlgehu,
wenn wir in der nachstehenden Stelle aus der „Natürlichen Tochter" (Akt lo,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/332>, abgerufen am 01.07.2024.