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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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halb weircr Grenzen unwesentlich ist. Zunächst trifft tels für alle Anfänger zu.
Für diese kommt es erst einmal darauf an, das System völlig zu beherrschen,
sodaß sie es besinnungslos handhaben können, wie die Kurrentschrift. Die
Schnelligkeit steht erst in zweiter Linie und wird einerseits durch das Be¬
dürfnis, andrerseits durch die Begabung begrenzt. Neunzig Prozent aller
Stenographierenden haben für die höchste" Geschwindigkeiten überhaupt keine
Verwendung, die wörtliche Aufnahme von Reden hat für sie nicht den min¬
desten Zweck. Ein Student thut viel besser daran, einen Vortrag uicht wort¬
getreu uachzustenographicren, anch wenn er es kann, da ihn die Zusammen¬
drängung des Gehörten zu eignem Nachdenken zwingt. Wie stark im übrigen
das Bedürfnis wechselt, das kann folgende einfache Erwägung veranschaulichen.
Für ein Kind, das in Kurrentschrift fünfundzwanzig Silben in der Minute
schreibt, bedeuten fünfundsiebzig Silben in Stenographie schon denselben Vor¬
teil, wie hundertfünfzig für einen Erwachsenen, der in Kurrentschrift ihrer
fünfzig leistet. Bis zu einem gewissen Grade nimmt die Schnelligkeit in beiden
Schriften gleichmüßig zu mit steigendem Alter und wachsender Übung. Soll
die stenographische Geschwindigkeit darüber hinaus gesteigert werden, so kann
dies nur an der Hand der Stnfengliederung des Systems geschehn. Sie wandelt
das zunächst spielend erlernte Instrument allmählich in der Hand des Lernenden
in ein leistungsfähigeres um. Dies darf aber immer nur in dem Maße ge¬
schehn, daß darunter die sichere Handhabung nicht leidet. Hierdurch wird jede
Stümperei ausgeschlossen. Gerade die ältern Systeme zogen massenhaft Stümper
Kroß, während die moderne Stenographie sich bemüht, jede Leistung, und sei
sie noch so bescheiden, zu einer in sich abgeschlossenen und vollwertigen zu
wachem

Die moderne stenographische Entwicklung zielt also vor allem dahin, die
erste Stufe möglichst vielen zugänglich zu machen, und dies so rasch und so
leicht, wie irgend denkbar. In der Nationalstenographic geht dieses Streben
so weit, daß alle niedern Bureaubcamten in deu Kreis der Erwägung gezogen
sind. Jeder, der Begabung genug hat, die Volksschule mit gutem Erfolge
durchzumachen, soll schon ans dieser die Kurzschrift erlernen können; denn
gerade die frühzeitige Aneignung bietet die Möglichkeit, völlig in ihr vertraut
zu werdeu, ehe hindernde änßere Umstände dazwischentreten. Ich selbst habe
"n't eignen Augen vierzehn- und fünfzehnjährige Volksschüler gesehen, die ihre
hundertvierzig bis hundertfünfzig Silben in: Wettschreiben leisteten, und habe
noch vou sehr vielen ähnlichen und bessern Erfolgen gehört. So hat es erst
jüngst ein elfjähriger Volksschüler in .Hannover auf hundertscchzig Silben ge¬
bracht. Den ältern Systemen ist dagegen die Volksschule so gut wie ver-
schlossen, und ähnliche Leistungen können mit ihnen nur in gereiftern Alter
und nach jahrelangen anstrengenden Übungen erreicht werden. Die leichte
Erlernbarkeit, die die moderne Stenographie auf ihre Fahne geschrieben hat,
ist also nichts welliger als ein bloßes Reklamemittel, sie ist vielmehr ein
Programm. Jede Lehrstunde weniger, die der bloßen Systcmgrundlage ge¬
widmet werden muß, bedeutet die Zulassung Tausender und die Vermeidung
nutzloser Stümperei.


Grenzboten II 1902 33

halb weircr Grenzen unwesentlich ist. Zunächst trifft tels für alle Anfänger zu.
Für diese kommt es erst einmal darauf an, das System völlig zu beherrschen,
sodaß sie es besinnungslos handhaben können, wie die Kurrentschrift. Die
Schnelligkeit steht erst in zweiter Linie und wird einerseits durch das Be¬
dürfnis, andrerseits durch die Begabung begrenzt. Neunzig Prozent aller
Stenographierenden haben für die höchste» Geschwindigkeiten überhaupt keine
Verwendung, die wörtliche Aufnahme von Reden hat für sie nicht den min¬
desten Zweck. Ein Student thut viel besser daran, einen Vortrag uicht wort¬
getreu uachzustenographicren, anch wenn er es kann, da ihn die Zusammen¬
drängung des Gehörten zu eignem Nachdenken zwingt. Wie stark im übrigen
das Bedürfnis wechselt, das kann folgende einfache Erwägung veranschaulichen.
Für ein Kind, das in Kurrentschrift fünfundzwanzig Silben in der Minute
schreibt, bedeuten fünfundsiebzig Silben in Stenographie schon denselben Vor¬
teil, wie hundertfünfzig für einen Erwachsenen, der in Kurrentschrift ihrer
fünfzig leistet. Bis zu einem gewissen Grade nimmt die Schnelligkeit in beiden
Schriften gleichmüßig zu mit steigendem Alter und wachsender Übung. Soll
die stenographische Geschwindigkeit darüber hinaus gesteigert werden, so kann
dies nur an der Hand der Stnfengliederung des Systems geschehn. Sie wandelt
das zunächst spielend erlernte Instrument allmählich in der Hand des Lernenden
in ein leistungsfähigeres um. Dies darf aber immer nur in dem Maße ge¬
schehn, daß darunter die sichere Handhabung nicht leidet. Hierdurch wird jede
Stümperei ausgeschlossen. Gerade die ältern Systeme zogen massenhaft Stümper
Kroß, während die moderne Stenographie sich bemüht, jede Leistung, und sei
sie noch so bescheiden, zu einer in sich abgeschlossenen und vollwertigen zu
wachem

Die moderne stenographische Entwicklung zielt also vor allem dahin, die
erste Stufe möglichst vielen zugänglich zu machen, und dies so rasch und so
leicht, wie irgend denkbar. In der Nationalstenographic geht dieses Streben
so weit, daß alle niedern Bureaubcamten in deu Kreis der Erwägung gezogen
sind. Jeder, der Begabung genug hat, die Volksschule mit gutem Erfolge
durchzumachen, soll schon ans dieser die Kurzschrift erlernen können; denn
gerade die frühzeitige Aneignung bietet die Möglichkeit, völlig in ihr vertraut
zu werdeu, ehe hindernde änßere Umstände dazwischentreten. Ich selbst habe
"n't eignen Augen vierzehn- und fünfzehnjährige Volksschüler gesehen, die ihre
hundertvierzig bis hundertfünfzig Silben in: Wettschreiben leisteten, und habe
noch vou sehr vielen ähnlichen und bessern Erfolgen gehört. So hat es erst
jüngst ein elfjähriger Volksschüler in .Hannover auf hundertscchzig Silben ge¬
bracht. Den ältern Systemen ist dagegen die Volksschule so gut wie ver-
schlossen, und ähnliche Leistungen können mit ihnen nur in gereiftern Alter
und nach jahrelangen anstrengenden Übungen erreicht werden. Die leichte
Erlernbarkeit, die die moderne Stenographie auf ihre Fahne geschrieben hat,
ist also nichts welliger als ein bloßes Reklamemittel, sie ist vielmehr ein
Programm. Jede Lehrstunde weniger, die der bloßen Systcmgrundlage ge¬
widmet werden muß, bedeutet die Zulassung Tausender und die Vermeidung
nutzloser Stümperei.


Grenzboten II 1902 33
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/265>, abgerufen am 01.07.2024.