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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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August der Gerechte läßt sich durch diese Lockung gerade so blenden, wie
Friedrich Wilhelm III. und seine Ratgeber zur Zeit der dritten Koalition
(1803 bis 1805), So wird das "Königreich Sachsen" ein Glied des Rhein¬
bundes und damit eine Domäne des Unersättlichen, Bald hat auch er die
strategische Wichtigkeit der beideu nordsächsischen Elbstädte Wittenberg und
Torgau erkannt; er verlangte zuerst, daß Wittenberg "zu einer die ganze Mittel-
elbe beherrschenden Festung ersten Ranges und zum Hnuptbollwerke des König¬
reichs" erhoben werde. Aber der König erschrak vor den ungeheuern Kosten
und schlug die Befestigung Torgans vor, das sich anch "durch seine Lage an
der Hauptstraße von der Oder nach Leipzig empfehle," und Napoleon war
damit zufrieden. Immerhin war auch dieser Bau auf 6074519 Thaler ver¬
anschlagt!

So begann mau denn gegen Ende des Jahres 1810 die Borstädte Torgaus
abzubrechen, wobei weder die vor dem.Hospitalthore liegende Kirche noch das
Waisenhaus noch die auf dem Gottesacker beerdigten Toten geschont wurden.
Der Bau der Wälle, Kasematten, Redouten. kurz, die ganze Festungsanlage
erfolgte nach den vom Kaiser genehmigten Plänen des sächsischen Jngemeur-
nmjors Aster, und es waren dabei im Sommer 1811 gegen 4000 Soldaten
und 700 Maurer und Zimmerleute beschäftigt; später stieg die Zahl der Civil¬
arbeiter bis auf 1500, die einen Tagelohn von 5 Groschen 6 Pfcumgcn und
außerdem wöchentlich 2 Groschen Quartiergcld erhielten; das entspricht nach
heutigem Geldwert etwa einem Tagelohn von 2 Mark. Gegen Ende des
Jahres 1811 war das große Werk, Sachsens Zwinguri, im Rohban fertig;
aber der Ausbau der ganzen Anlage wurde, obwohl die königlichen Kassen
dafür bis zur Erschöpfung in Anspruch genommen wurden, anch in den folgenden
beiden Jahren nicht ganz vollendet.

Im Frühjahr 1812 rauschen an deu Wällen der neuen Festung die Bolter-
ströme vorüber, die ein allmächtiger Wille gegen die Einöden Rußlands lenkt --
die Völkerstrvinc erstarren dort in Eis und Schnee - nnr dünne, verneselnde
Rinnsale kommen zurück. halbverhungerte und erfrorne Menschen, deren todes-
'"aller Blick immer nur dasselbe sagt:

Hnen alle" voran auf schnellem Schlitten der wahnwitzige Frevler, der ge¬
wissenlos dem Anblick des von ihm angestifteten Elends entfloh, und hinter
ihnen reiten als Boten des neuen Völkerfrühlings die bärtigen Kosaken auf
struppigen Steppenroß.

Es ist eine wundersame Zeit, die noch heute in den Erzählungen unsrer
Großmütter nachzittert. Aber ungleich fielen die Lose für die deutschen Stämme:
unsern preußischen Nachbarn war es vergönnt zu handeln, uns Sachsen vor¬
zugsweise nnr zu dulden. Welches von beiden ist wohl schwerer? Eine wirklich
..voraussetzuugslose" Geschichtschreibung giebt es nicht und kann es nicht geben,
weil jeder Mensch so und so viele "Voraussetzungen" unbewußt in sich trägt,
von denen er sich nicht befreien kann. Aber es erscheint mir abgeschmackt, heute


August der Gerechte läßt sich durch diese Lockung gerade so blenden, wie
Friedrich Wilhelm III. und seine Ratgeber zur Zeit der dritten Koalition
(1803 bis 1805), So wird das „Königreich Sachsen" ein Glied des Rhein¬
bundes und damit eine Domäne des Unersättlichen, Bald hat auch er die
strategische Wichtigkeit der beideu nordsächsischen Elbstädte Wittenberg und
Torgau erkannt; er verlangte zuerst, daß Wittenberg „zu einer die ganze Mittel-
elbe beherrschenden Festung ersten Ranges und zum Hnuptbollwerke des König¬
reichs" erhoben werde. Aber der König erschrak vor den ungeheuern Kosten
und schlug die Befestigung Torgans vor, das sich anch „durch seine Lage an
der Hauptstraße von der Oder nach Leipzig empfehle," und Napoleon war
damit zufrieden. Immerhin war auch dieser Bau auf 6074519 Thaler ver¬
anschlagt!

So begann mau denn gegen Ende des Jahres 1810 die Borstädte Torgaus
abzubrechen, wobei weder die vor dem.Hospitalthore liegende Kirche noch das
Waisenhaus noch die auf dem Gottesacker beerdigten Toten geschont wurden.
Der Bau der Wälle, Kasematten, Redouten. kurz, die ganze Festungsanlage
erfolgte nach den vom Kaiser genehmigten Plänen des sächsischen Jngemeur-
nmjors Aster, und es waren dabei im Sommer 1811 gegen 4000 Soldaten
und 700 Maurer und Zimmerleute beschäftigt; später stieg die Zahl der Civil¬
arbeiter bis auf 1500, die einen Tagelohn von 5 Groschen 6 Pfcumgcn und
außerdem wöchentlich 2 Groschen Quartiergcld erhielten; das entspricht nach
heutigem Geldwert etwa einem Tagelohn von 2 Mark. Gegen Ende des
Jahres 1811 war das große Werk, Sachsens Zwinguri, im Rohban fertig;
aber der Ausbau der ganzen Anlage wurde, obwohl die königlichen Kassen
dafür bis zur Erschöpfung in Anspruch genommen wurden, anch in den folgenden
beiden Jahren nicht ganz vollendet.

Im Frühjahr 1812 rauschen an deu Wällen der neuen Festung die Bolter-
ströme vorüber, die ein allmächtiger Wille gegen die Einöden Rußlands lenkt --
die Völkerstrvinc erstarren dort in Eis und Schnee - nnr dünne, verneselnde
Rinnsale kommen zurück. halbverhungerte und erfrorne Menschen, deren todes-
'»aller Blick immer nur dasselbe sagt:

Hnen alle» voran auf schnellem Schlitten der wahnwitzige Frevler, der ge¬
wissenlos dem Anblick des von ihm angestifteten Elends entfloh, und hinter
ihnen reiten als Boten des neuen Völkerfrühlings die bärtigen Kosaken auf
struppigen Steppenroß.

Es ist eine wundersame Zeit, die noch heute in den Erzählungen unsrer
Großmütter nachzittert. Aber ungleich fielen die Lose für die deutschen Stämme:
unsern preußischen Nachbarn war es vergönnt zu handeln, uns Sachsen vor¬
zugsweise nnr zu dulden. Welches von beiden ist wohl schwerer? Eine wirklich
..voraussetzuugslose" Geschichtschreibung giebt es nicht und kann es nicht geben,
weil jeder Mensch so und so viele „Voraussetzungen" unbewußt in sich trägt,
von denen er sich nicht befreien kann. Aber es erscheint mir abgeschmackt, heute


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[0675] August der Gerechte läßt sich durch diese Lockung gerade so blenden, wie Friedrich Wilhelm III. und seine Ratgeber zur Zeit der dritten Koalition (1803 bis 1805), So wird das „Königreich Sachsen" ein Glied des Rhein¬ bundes und damit eine Domäne des Unersättlichen, Bald hat auch er die strategische Wichtigkeit der beideu nordsächsischen Elbstädte Wittenberg und Torgau erkannt; er verlangte zuerst, daß Wittenberg „zu einer die ganze Mittel- elbe beherrschenden Festung ersten Ranges und zum Hnuptbollwerke des König¬ reichs" erhoben werde. Aber der König erschrak vor den ungeheuern Kosten und schlug die Befestigung Torgans vor, das sich anch „durch seine Lage an der Hauptstraße von der Oder nach Leipzig empfehle," und Napoleon war damit zufrieden. Immerhin war auch dieser Bau auf 6074519 Thaler ver¬ anschlagt! So begann mau denn gegen Ende des Jahres 1810 die Borstädte Torgaus abzubrechen, wobei weder die vor dem.Hospitalthore liegende Kirche noch das Waisenhaus noch die auf dem Gottesacker beerdigten Toten geschont wurden. Der Bau der Wälle, Kasematten, Redouten. kurz, die ganze Festungsanlage erfolgte nach den vom Kaiser genehmigten Plänen des sächsischen Jngemeur- nmjors Aster, und es waren dabei im Sommer 1811 gegen 4000 Soldaten und 700 Maurer und Zimmerleute beschäftigt; später stieg die Zahl der Civil¬ arbeiter bis auf 1500, die einen Tagelohn von 5 Groschen 6 Pfcumgcn und außerdem wöchentlich 2 Groschen Quartiergcld erhielten; das entspricht nach heutigem Geldwert etwa einem Tagelohn von 2 Mark. Gegen Ende des Jahres 1811 war das große Werk, Sachsens Zwinguri, im Rohban fertig; aber der Ausbau der ganzen Anlage wurde, obwohl die königlichen Kassen dafür bis zur Erschöpfung in Anspruch genommen wurden, anch in den folgenden beiden Jahren nicht ganz vollendet. Im Frühjahr 1812 rauschen an deu Wällen der neuen Festung die Bolter- ströme vorüber, die ein allmächtiger Wille gegen die Einöden Rußlands lenkt -- die Völkerstrvinc erstarren dort in Eis und Schnee - nnr dünne, verneselnde Rinnsale kommen zurück. halbverhungerte und erfrorne Menschen, deren todes- '»aller Blick immer nur dasselbe sagt: Hnen alle» voran auf schnellem Schlitten der wahnwitzige Frevler, der ge¬ wissenlos dem Anblick des von ihm angestifteten Elends entfloh, und hinter ihnen reiten als Boten des neuen Völkerfrühlings die bärtigen Kosaken auf struppigen Steppenroß. Es ist eine wundersame Zeit, die noch heute in den Erzählungen unsrer Großmütter nachzittert. Aber ungleich fielen die Lose für die deutschen Stämme: unsern preußischen Nachbarn war es vergönnt zu handeln, uns Sachsen vor¬ zugsweise nnr zu dulden. Welches von beiden ist wohl schwerer? Eine wirklich ..voraussetzuugslose" Geschichtschreibung giebt es nicht und kann es nicht geben, weil jeder Mensch so und so viele „Voraussetzungen" unbewußt in sich trägt, von denen er sich nicht befreien kann. Aber es erscheint mir abgeschmackt, heute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/675>, abgerufen am 27.09.2024.