Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.Nationalitätskämpfe Gewinne es um anch in Österreich immer mehr den Anschein, als ob Soll hier wirklich durchgreifend Wandel geschafft werden, so genügt es Grenzboten I 1902 81
Nationalitätskämpfe Gewinne es um anch in Österreich immer mehr den Anschein, als ob Soll hier wirklich durchgreifend Wandel geschafft werden, so genügt es Grenzboten I 1902 81
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0649" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237173"/> <fw type="header" place="top"> Nationalitätskämpfe</fw><lb/> <p xml:id="ID_2716"> Gewinne es um anch in Österreich immer mehr den Anschein, als ob<lb/> das dort endlich aufgerüttelte Deutschtum imstande wäre, aus eigner Kraft<lb/> das auf seinem Boden vorgedrungne Slawentum zu bewältigen und vielleicht<lb/> mich manchen anscheinend schon Verlornen Posten wiederzugewinnen, so ist doch<lb/> von dem Deutschtum der preußischen Ostproviuzcn kaum etwas ähnliches zu<lb/> erwarten, wenn sich auch die Kräfte des Widerstandes dort auf deutscher Seite<lb/> noch ganz anders regen sollten, als es jetzt der Fall ist. Dort vollzieht sich<lb/> das Vordringen des Polentums gleichsam wie die Wirkung eines jedes mensch¬<lb/> lichen Widerstandes spottenden Naturgesetzes. Der durch das Daniederliegen<lb/> der Landwirtschaft mächtig geförderte Zug nach Westen und in die großen<lb/> Städte — unter diesem Worte kann man die hier hauptsächlich wirkenden<lb/> Thatsachen wohl zusammenfassen - muß die Stellung des Deutschtums im<lb/> Osten schwächen, die des Polentums im Westen aber desto mehr stärken bis<lb/> zu einem andauernden Vordringen, solange dieser Zug anhält. Inzwischen<lb/> hat sich die in frühern Jahren auf deutscher Seite dem Polentume gegenüber<lb/> herrschende siegesgewisse Sorglosigkeit, die sich hauptsächlich auf unsre doppelte<lb/> Überlegenheit der Zahl und Kulturhöhe begründete, schon nahezu ins Gegen¬<lb/> teil verwandelt. Und in der That, was es mit der Überlegenheit der Kultur<lb/> auf sich hat, ist ja schon erörtert worden, unsre zahlenmäßige Überlegenheit<lb/> aber ist gegenwärtig nur Schein. Sie füllt zwar sehr in die Augen, wenn<lb/> man die weit mehr als siebzig Millionen in Europa wohnenden Deutschen<lb/> den etwa sechzehn Millionen Polen gegenüberstellt; aber auf die Gesamtzahlen<lb/> kommt es hier gnr nicht um, sondern nur auf den Teil davou, der in den<lb/> nationalen Kampf verwickelt ist. Und der vermindert sich bei den Deutschen<lb/> durch Abströmen nach Westen immer mehr, während die Polen in ihrem un¬<lb/> aufhaltsamen Vordringen uach Westen bestündig neue Massen nachschieben.<lb/> So kann unter den ' gegenwärtigen Verhältnissen unsre überlegne Zahl im<lb/> Kampfe mit dem Poleiitnme gar nicht zur Geltung kommen; der Kampf wird<lb/> im örtlichen, landschaftlichen oder provinziellen Nahmen ausgefochten, und<lb/> in ihm werden die Deutschen mehr und mehr in die Minderheit gedrängt,<lb/> soweit sie nicht schon längst darin sind. Was frommt bei so unheilvoller<lb/> Entwicklung der Dinge den Deutschen unsrer Ostprovinzen das Bewußtsein,<lb/> daß sie siebzig Millionen Volksgenossen in dichten Massen hinter sich haben?<lb/> Ja, wenn man diese gewaltigen Kraftreserven gegen das Polentum mobil<lb/> '"achte, dann würde sich das Blatt im Osten wohl bald wenden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2717"> Soll hier wirklich durchgreifend Wandel geschafft werden, so genügt es<lb/> nicht, wenn die deutsche Bevölkerung der gefährdeten Provinzen die innere<lb/> Wiedergeburt durchmacht, wie sie gegenwärtig in Österreich vor sich geht.<lb/> Zwar ohne eine solche wird es sicher nicht gehn, wenn sie allein auch nicht<lb/> imstande sein wird, dem Drucke der sich vorwürtsschiebeuden polnischen Massen<lb/> zu widerstehn, dem Abströmen der eignen Volksgenossen Halt zu gebieten. Es<lb/> handelt sich hier um nichts geringeres, als einen schon seit einer langen Reihe<lb/> von Jahren rieselnden Völkerstrom aufzuhalten und ihn in die entgegengesetzte<lb/> Richtung umzuleiten; dem heute herrschenden Zug nach Westen einen solchen<lb/> "ach Osten entgegenzustellen.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1902 81</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0649]
Nationalitätskämpfe
Gewinne es um anch in Österreich immer mehr den Anschein, als ob
das dort endlich aufgerüttelte Deutschtum imstande wäre, aus eigner Kraft
das auf seinem Boden vorgedrungne Slawentum zu bewältigen und vielleicht
mich manchen anscheinend schon Verlornen Posten wiederzugewinnen, so ist doch
von dem Deutschtum der preußischen Ostproviuzcn kaum etwas ähnliches zu
erwarten, wenn sich auch die Kräfte des Widerstandes dort auf deutscher Seite
noch ganz anders regen sollten, als es jetzt der Fall ist. Dort vollzieht sich
das Vordringen des Polentums gleichsam wie die Wirkung eines jedes mensch¬
lichen Widerstandes spottenden Naturgesetzes. Der durch das Daniederliegen
der Landwirtschaft mächtig geförderte Zug nach Westen und in die großen
Städte — unter diesem Worte kann man die hier hauptsächlich wirkenden
Thatsachen wohl zusammenfassen - muß die Stellung des Deutschtums im
Osten schwächen, die des Polentums im Westen aber desto mehr stärken bis
zu einem andauernden Vordringen, solange dieser Zug anhält. Inzwischen
hat sich die in frühern Jahren auf deutscher Seite dem Polentume gegenüber
herrschende siegesgewisse Sorglosigkeit, die sich hauptsächlich auf unsre doppelte
Überlegenheit der Zahl und Kulturhöhe begründete, schon nahezu ins Gegen¬
teil verwandelt. Und in der That, was es mit der Überlegenheit der Kultur
auf sich hat, ist ja schon erörtert worden, unsre zahlenmäßige Überlegenheit
aber ist gegenwärtig nur Schein. Sie füllt zwar sehr in die Augen, wenn
man die weit mehr als siebzig Millionen in Europa wohnenden Deutschen
den etwa sechzehn Millionen Polen gegenüberstellt; aber auf die Gesamtzahlen
kommt es hier gnr nicht um, sondern nur auf den Teil davou, der in den
nationalen Kampf verwickelt ist. Und der vermindert sich bei den Deutschen
durch Abströmen nach Westen immer mehr, während die Polen in ihrem un¬
aufhaltsamen Vordringen uach Westen bestündig neue Massen nachschieben.
So kann unter den ' gegenwärtigen Verhältnissen unsre überlegne Zahl im
Kampfe mit dem Poleiitnme gar nicht zur Geltung kommen; der Kampf wird
im örtlichen, landschaftlichen oder provinziellen Nahmen ausgefochten, und
in ihm werden die Deutschen mehr und mehr in die Minderheit gedrängt,
soweit sie nicht schon längst darin sind. Was frommt bei so unheilvoller
Entwicklung der Dinge den Deutschen unsrer Ostprovinzen das Bewußtsein,
daß sie siebzig Millionen Volksgenossen in dichten Massen hinter sich haben?
Ja, wenn man diese gewaltigen Kraftreserven gegen das Polentum mobil
'"achte, dann würde sich das Blatt im Osten wohl bald wenden.
Soll hier wirklich durchgreifend Wandel geschafft werden, so genügt es
nicht, wenn die deutsche Bevölkerung der gefährdeten Provinzen die innere
Wiedergeburt durchmacht, wie sie gegenwärtig in Österreich vor sich geht.
Zwar ohne eine solche wird es sicher nicht gehn, wenn sie allein auch nicht
imstande sein wird, dem Drucke der sich vorwürtsschiebeuden polnischen Massen
zu widerstehn, dem Abströmen der eignen Volksgenossen Halt zu gebieten. Es
handelt sich hier um nichts geringeres, als einen schon seit einer langen Reihe
von Jahren rieselnden Völkerstrom aufzuhalten und ihn in die entgegengesetzte
Richtung umzuleiten; dem heute herrschenden Zug nach Westen einen solchen
"ach Osten entgegenzustellen.
Grenzboten I 1902 81
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