Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.vom mittelalterlichen Judenrecht solcher abergläubischer Greuel schämte", argwöhnten sie sie bei andern, und vom mittelalterlichen Judenrecht solcher abergläubischer Greuel schämte», argwöhnten sie sie bei andern, und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236665"/> <fw type="header" place="top"> vom mittelalterlichen Judenrecht</fw><lb/> <p xml:id="ID_485" prev="#ID_484" next="#ID_486"> solcher abergläubischer Greuel schämte», argwöhnten sie sie bei andern, und<lb/> namentlich bei orientalischen Geheimknlten, in denen ja thatsächlich orgiastischer<lb/> Unfug und ekelhafte Verstümmelungen vorkamen. Den Christen wurden be¬<lb/> kanntlich thyestische Mahlzeiten nachgesagt. Was in den letzten Zeiten des<lb/> fränkischen Reichs dergleichen Gerüchte veranlaßt haben könnte, ist in dem<lb/> Aufsatze über Nüblings Buch S. 213 erwähnt worden. Auch der Ritus der<lb/> Beschneidung und die 2. Mos. 12, 4 vorgeschriebene Bestreichung der Thürpfosten<lb/> mit dein Blute des Osterlcimms sind geeignet, die Phantasie mit gefährlichen<lb/> Bildern zu erfüllen. So muß man es denn ganz natürlich finden, daß der<lb/> alte Argwohn in allen Zeiten großer Erbitterung gegen die Juden wieder<lb/> auflebt; auch in der nllerneusten Zeit haben die Chinesen ganz ähnliche Un¬<lb/> thaten von den Europäern geglaubt, unter anderm, daß diese zum Bahnbau<lb/> Kinderblut verwendeten. Die Kirche hat an diesem Volksglauben und an den<lb/> Verbrechen, zu denen er stachelte, keinen Teil. Scherer ist loyal und objektiv<lb/> genug, hervorzuheben, daß die Judengesetze der mohammedanischen Staaten die<lb/> der christlichem „an brutaler Gehässigkeit und chikanöser Intoleranz überbieten"<lb/> (so mußten alle „Ungläubigen": Juden, Christen und Parsen an der Kleidung<lb/> ein Zeichen tragen, woran erkannt werden konnte, welcher Religionsgemein¬<lb/> schaft ein jeder angehörte), und die zahlreichen zum Schutze der Juden erlassenen<lb/> Päpstlichen Bnlleii aufzuzählen. Als einen der Beweggründe zu Schutz-<lb/> bestimmuugen führt er richtig den Glauben der Kirche an, daß die Juden als<lb/> lebendige Zeugen für die Wahrheit des Evangeliums erhalten bleiben müßten.<lb/> Seite 34 berichtet er: Zur Sicherung der Juden gegen Gewaltthätigkeiten er¬<lb/> ließen die Päpste seit Calixtus II. (1119 bis 1124) Schutzbulleu, in denen<lb/> den Christen verboten wurde, die Juden gegen ihren Willen zur Taufe zu<lb/> zwingen, sie ohne gerichtliches Urteil zu töten oder zu verwunden, ihnen ihr<lb/> Geld abzunehmen oder ihre guten Gebräuche zu ändern, sie bei der Feier<lb/> ihrer Feste mit Knütteln oder Steinen zu stören. Niemand solle andre<lb/> Leistungen und Dienste von ihnen verlangen als die hergebrachten. Um der<lb/> Verkehrtheit und Habsucht schlechter Menschen zu begegnen, heißt es weiter,<lb/> Werde eingeschärft, daß niemand es wage, die Friedhöfe der Juden zu be¬<lb/> schädige« oder in sie einzudringen oder dort Leichname auszugraben, tun sie<lb/> zu berauben. Wer solchen Frevel verübe, solle Amt und Ehre verlieren und,<lb/> wofern er nicht entsprechende Genugthuung leiste, der Exkommunikation ver¬<lb/> fallen. Eine ähnliche Bulle Clemens III. (1187 bis 1191) wurde von sieb¬<lb/> zehn Päpsten, die Scherer mit Namen nennt, bestätigt und erneuert. Außer<lb/> diesen allgemeinen Schutzbullen wurden aus bestimmten Anlässen welche ver¬<lb/> kündigt. So richtete Gregor IX. zwei (1233 und 1236) an den französischen<lb/> Episkopat wegen Mißhandlung und Beraubung der Juden durch Kreuzfahrer,<lb/> Clemens VI. erließ 1348 eine gegen die Beschuldigung der Brunnenvergiftung.<lb/> Martin V. 1418 eine zu Gunsten der Juden in Deutschland und Savoyen,<lb/> und 1420 eine für die österreichischen Juden, die unter anderm verbot, Juden¬<lb/> kinder gegen den Willen ihrer Eltern zu taufen. Innocenz IV. nahm in zwei<lb/> an den Erzbischof von Vienne gerichteten Bullen die Juden gegen Ritual-<lb/> mordanklngen in Schutz. Als in Deutschland mehrere geistliche und weltliche</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0141]
vom mittelalterlichen Judenrecht
solcher abergläubischer Greuel schämte», argwöhnten sie sie bei andern, und
namentlich bei orientalischen Geheimknlten, in denen ja thatsächlich orgiastischer
Unfug und ekelhafte Verstümmelungen vorkamen. Den Christen wurden be¬
kanntlich thyestische Mahlzeiten nachgesagt. Was in den letzten Zeiten des
fränkischen Reichs dergleichen Gerüchte veranlaßt haben könnte, ist in dem
Aufsatze über Nüblings Buch S. 213 erwähnt worden. Auch der Ritus der
Beschneidung und die 2. Mos. 12, 4 vorgeschriebene Bestreichung der Thürpfosten
mit dein Blute des Osterlcimms sind geeignet, die Phantasie mit gefährlichen
Bildern zu erfüllen. So muß man es denn ganz natürlich finden, daß der
alte Argwohn in allen Zeiten großer Erbitterung gegen die Juden wieder
auflebt; auch in der nllerneusten Zeit haben die Chinesen ganz ähnliche Un¬
thaten von den Europäern geglaubt, unter anderm, daß diese zum Bahnbau
Kinderblut verwendeten. Die Kirche hat an diesem Volksglauben und an den
Verbrechen, zu denen er stachelte, keinen Teil. Scherer ist loyal und objektiv
genug, hervorzuheben, daß die Judengesetze der mohammedanischen Staaten die
der christlichem „an brutaler Gehässigkeit und chikanöser Intoleranz überbieten"
(so mußten alle „Ungläubigen": Juden, Christen und Parsen an der Kleidung
ein Zeichen tragen, woran erkannt werden konnte, welcher Religionsgemein¬
schaft ein jeder angehörte), und die zahlreichen zum Schutze der Juden erlassenen
Päpstlichen Bnlleii aufzuzählen. Als einen der Beweggründe zu Schutz-
bestimmuugen führt er richtig den Glauben der Kirche an, daß die Juden als
lebendige Zeugen für die Wahrheit des Evangeliums erhalten bleiben müßten.
Seite 34 berichtet er: Zur Sicherung der Juden gegen Gewaltthätigkeiten er¬
ließen die Päpste seit Calixtus II. (1119 bis 1124) Schutzbulleu, in denen
den Christen verboten wurde, die Juden gegen ihren Willen zur Taufe zu
zwingen, sie ohne gerichtliches Urteil zu töten oder zu verwunden, ihnen ihr
Geld abzunehmen oder ihre guten Gebräuche zu ändern, sie bei der Feier
ihrer Feste mit Knütteln oder Steinen zu stören. Niemand solle andre
Leistungen und Dienste von ihnen verlangen als die hergebrachten. Um der
Verkehrtheit und Habsucht schlechter Menschen zu begegnen, heißt es weiter,
Werde eingeschärft, daß niemand es wage, die Friedhöfe der Juden zu be¬
schädige« oder in sie einzudringen oder dort Leichname auszugraben, tun sie
zu berauben. Wer solchen Frevel verübe, solle Amt und Ehre verlieren und,
wofern er nicht entsprechende Genugthuung leiste, der Exkommunikation ver¬
fallen. Eine ähnliche Bulle Clemens III. (1187 bis 1191) wurde von sieb¬
zehn Päpsten, die Scherer mit Namen nennt, bestätigt und erneuert. Außer
diesen allgemeinen Schutzbullen wurden aus bestimmten Anlässen welche ver¬
kündigt. So richtete Gregor IX. zwei (1233 und 1236) an den französischen
Episkopat wegen Mißhandlung und Beraubung der Juden durch Kreuzfahrer,
Clemens VI. erließ 1348 eine gegen die Beschuldigung der Brunnenvergiftung.
Martin V. 1418 eine zu Gunsten der Juden in Deutschland und Savoyen,
und 1420 eine für die österreichischen Juden, die unter anderm verbot, Juden¬
kinder gegen den Willen ihrer Eltern zu taufen. Innocenz IV. nahm in zwei
an den Erzbischof von Vienne gerichteten Bullen die Juden gegen Ritual-
mordanklngen in Schutz. Als in Deutschland mehrere geistliche und weltliche
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