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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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vom mittelalterlichen Iudenrecht

österreichische Gesetzgebung ausführlich behandelt, wird die der übrigen Länder
noch oft zur Vergleichung herangezogen.

Bekanntlich sind die Juden schon im heidnischen Rom verachtet, gehaßt
und einigemal ausgetrieben worden. Trotzdem wird es stimmen, daß sich, wie
Scherer meint, ihre Lage unter den christlichen Kaisern verschlechtert habe.
Wie die Protestanten die Gegenreformation und die Bartholomäusnacht bis
auf den heutigen Tag noch nicht vergessen haben und in einigen Staaten der
Ausbreitung des Katholizismus gesetzliche Hindernisse in den Weg stellen, so
hatten die Christen des vierten Jahrhunderts die Kreuzigung Christi, die
Steinigung des Stephanus und die Verfolgungen noch nicht vergessen, die die
Apostel überall von den Synagogengcmeinden erduldet haben, und jeder
Christ kannte die Strafpredigten Jesu gegen die Mnsterjuden, das Apostel¬
geschichte 7, 51 über das ganze Judenvolk ausgesprvchne harte Urteil und die
Polemik Pauli gegen die Juden. Wenn jedoch Scherer sagt, die Gesetzgebung
der christlichen Kaiser offenbare die Tendenz, die Juden als eine verächtliche
Menschenklasse und ihren Gottesdienst als gotteslästerlich darzustellen, so er¬
scheint das durch die von ihm selbst angeführten Gesetze nicht gerechtfertigt.
Diese Gesetze bezwecken unparteiisch sowohl den Schutz der Christen vor den
Juden als auch den der Juden vor den Christen. Die Juden dürfen unge¬
hindert ihre Religion ausüben und erfreuen sich der Selbstverwaltung. Es
werden über sie keine Verfolgungen verhängt, wie sie byzantinische Kaiser über
die Gegner der vom Hofe begünstigten Kirchenpartei zu verhängen pflegten.
Der Ausschluß vom Kriegsdienst und die Befreiung vom Dekurioncit waren
Vergünstigungen,*) mit denen sich die Juden sicherlich über die Zurücksetzung ge¬
tröstet haben werden, die in der Ausschließung von den meisten Staatsümtern
lag. Wenn in einigen gegen die Juden gerichteten Gesetzen beschimpfende
Worte vorkommen, so mag daran erinnert werden, daß katholische und pro¬
testantische Machthaber, vom Papst und Luther anzufangen, auch nicht immer
in den schmeichelhaftesten Ausdrücken voneinander geredet haben.

An einem Hauptwendepunkt der europäischen Judenpolitik, bei der Dar¬
stellung der Judengesetzgebung Ludwigs des Frommen, läßt der Verfasser seine
sonst unanfechtbare Objektivität vermissen. Er sagt Seite 142 bis 143, es
seien zwar Schutzbriefe dieses Kaisers für einzelne Juden vorhanden, der Inhalt
seines allgemeinen Gesetzes für die Juden seines Reichs aber sei unbekannt.
Sollte sich dieser Inhalt nicht aus Agobards Schrift vo wsolöritiA ^uäksoium,
der Hauptsache uach folgern lassen? Von dieser Streitschrift, die die Macht



Wie die Juden schon damals wegen ihres Reichtums und ihrer privilegierten Stellung
beneidet wurden, beweisen folgende Verse aus dein Itinerarium des Rutilius, el"es Dichters
des fünften Jahrhunderts:
Grenz boten 1 1902 17
vom mittelalterlichen Iudenrecht

österreichische Gesetzgebung ausführlich behandelt, wird die der übrigen Länder
noch oft zur Vergleichung herangezogen.

Bekanntlich sind die Juden schon im heidnischen Rom verachtet, gehaßt
und einigemal ausgetrieben worden. Trotzdem wird es stimmen, daß sich, wie
Scherer meint, ihre Lage unter den christlichen Kaisern verschlechtert habe.
Wie die Protestanten die Gegenreformation und die Bartholomäusnacht bis
auf den heutigen Tag noch nicht vergessen haben und in einigen Staaten der
Ausbreitung des Katholizismus gesetzliche Hindernisse in den Weg stellen, so
hatten die Christen des vierten Jahrhunderts die Kreuzigung Christi, die
Steinigung des Stephanus und die Verfolgungen noch nicht vergessen, die die
Apostel überall von den Synagogengcmeinden erduldet haben, und jeder
Christ kannte die Strafpredigten Jesu gegen die Mnsterjuden, das Apostel¬
geschichte 7, 51 über das ganze Judenvolk ausgesprvchne harte Urteil und die
Polemik Pauli gegen die Juden. Wenn jedoch Scherer sagt, die Gesetzgebung
der christlichen Kaiser offenbare die Tendenz, die Juden als eine verächtliche
Menschenklasse und ihren Gottesdienst als gotteslästerlich darzustellen, so er¬
scheint das durch die von ihm selbst angeführten Gesetze nicht gerechtfertigt.
Diese Gesetze bezwecken unparteiisch sowohl den Schutz der Christen vor den
Juden als auch den der Juden vor den Christen. Die Juden dürfen unge¬
hindert ihre Religion ausüben und erfreuen sich der Selbstverwaltung. Es
werden über sie keine Verfolgungen verhängt, wie sie byzantinische Kaiser über
die Gegner der vom Hofe begünstigten Kirchenpartei zu verhängen pflegten.
Der Ausschluß vom Kriegsdienst und die Befreiung vom Dekurioncit waren
Vergünstigungen,*) mit denen sich die Juden sicherlich über die Zurücksetzung ge¬
tröstet haben werden, die in der Ausschließung von den meisten Staatsümtern
lag. Wenn in einigen gegen die Juden gerichteten Gesetzen beschimpfende
Worte vorkommen, so mag daran erinnert werden, daß katholische und pro¬
testantische Machthaber, vom Papst und Luther anzufangen, auch nicht immer
in den schmeichelhaftesten Ausdrücken voneinander geredet haben.

An einem Hauptwendepunkt der europäischen Judenpolitik, bei der Dar¬
stellung der Judengesetzgebung Ludwigs des Frommen, läßt der Verfasser seine
sonst unanfechtbare Objektivität vermissen. Er sagt Seite 142 bis 143, es
seien zwar Schutzbriefe dieses Kaisers für einzelne Juden vorhanden, der Inhalt
seines allgemeinen Gesetzes für die Juden seines Reichs aber sei unbekannt.
Sollte sich dieser Inhalt nicht aus Agobards Schrift vo wsolöritiA ^uäksoium,
der Hauptsache uach folgern lassen? Von dieser Streitschrift, die die Macht



Wie die Juden schon damals wegen ihres Reichtums und ihrer privilegierten Stellung
beneidet wurden, beweisen folgende Verse aus dein Itinerarium des Rutilius, el»es Dichters
des fünften Jahrhunderts:
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[0137] vom mittelalterlichen Iudenrecht österreichische Gesetzgebung ausführlich behandelt, wird die der übrigen Länder noch oft zur Vergleichung herangezogen. Bekanntlich sind die Juden schon im heidnischen Rom verachtet, gehaßt und einigemal ausgetrieben worden. Trotzdem wird es stimmen, daß sich, wie Scherer meint, ihre Lage unter den christlichen Kaisern verschlechtert habe. Wie die Protestanten die Gegenreformation und die Bartholomäusnacht bis auf den heutigen Tag noch nicht vergessen haben und in einigen Staaten der Ausbreitung des Katholizismus gesetzliche Hindernisse in den Weg stellen, so hatten die Christen des vierten Jahrhunderts die Kreuzigung Christi, die Steinigung des Stephanus und die Verfolgungen noch nicht vergessen, die die Apostel überall von den Synagogengcmeinden erduldet haben, und jeder Christ kannte die Strafpredigten Jesu gegen die Mnsterjuden, das Apostel¬ geschichte 7, 51 über das ganze Judenvolk ausgesprvchne harte Urteil und die Polemik Pauli gegen die Juden. Wenn jedoch Scherer sagt, die Gesetzgebung der christlichen Kaiser offenbare die Tendenz, die Juden als eine verächtliche Menschenklasse und ihren Gottesdienst als gotteslästerlich darzustellen, so er¬ scheint das durch die von ihm selbst angeführten Gesetze nicht gerechtfertigt. Diese Gesetze bezwecken unparteiisch sowohl den Schutz der Christen vor den Juden als auch den der Juden vor den Christen. Die Juden dürfen unge¬ hindert ihre Religion ausüben und erfreuen sich der Selbstverwaltung. Es werden über sie keine Verfolgungen verhängt, wie sie byzantinische Kaiser über die Gegner der vom Hofe begünstigten Kirchenpartei zu verhängen pflegten. Der Ausschluß vom Kriegsdienst und die Befreiung vom Dekurioncit waren Vergünstigungen,*) mit denen sich die Juden sicherlich über die Zurücksetzung ge¬ tröstet haben werden, die in der Ausschließung von den meisten Staatsümtern lag. Wenn in einigen gegen die Juden gerichteten Gesetzen beschimpfende Worte vorkommen, so mag daran erinnert werden, daß katholische und pro¬ testantische Machthaber, vom Papst und Luther anzufangen, auch nicht immer in den schmeichelhaftesten Ausdrücken voneinander geredet haben. An einem Hauptwendepunkt der europäischen Judenpolitik, bei der Dar¬ stellung der Judengesetzgebung Ludwigs des Frommen, läßt der Verfasser seine sonst unanfechtbare Objektivität vermissen. Er sagt Seite 142 bis 143, es seien zwar Schutzbriefe dieses Kaisers für einzelne Juden vorhanden, der Inhalt seines allgemeinen Gesetzes für die Juden seines Reichs aber sei unbekannt. Sollte sich dieser Inhalt nicht aus Agobards Schrift vo wsolöritiA ^uäksoium, der Hauptsache uach folgern lassen? Von dieser Streitschrift, die die Macht Wie die Juden schon damals wegen ihres Reichtums und ihrer privilegierten Stellung beneidet wurden, beweisen folgende Verse aus dein Itinerarium des Rutilius, el»es Dichters des fünften Jahrhunderts: Grenz boten 1 1902 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/137>, abgerufen am 19.10.2024.