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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über die Germania des Cacitus

Proben solcher Stimmungen begegnen uns unter anderen in der Dichtung
des Virgil und des Horaz: vollends zur Zeit des Taeitus, wo der Pessimismus
>vie ein schleichendes Gift um sich fraß, wo nur deutlicher und deutlicher zu
nhueil begann, daß das römische Reich dereinst nnter den Schwertschlügeu der
Gcrmaneukrieger zusanunenbrechen werde, war diese sentimentale Auffassung
mehr als je verbreitet, und man kann denken, daß namentlich in den Rhetoren-
schulen, too die römische Jngend damals ihre Bildung empfing, Themata ans
diesem Ideenkreise mit Vorliebe behandelt wurden. Da ist es denn kein
Wunder, daß Stimmungen von der Art der oben geschilderten, die übrigens
Periodisch in der Geschichte wiederkehren - man braucht nur an das Natur¬
evangelium Jean Jacques Rousseaus zu denken --, daß solche Stimmungen
anch in einem Buche zum Vorschein kommen, das ausschließlich den Sitten
und Zuständen des vermeintlichen Jdealvolks gewidmet war, und daß die
Kontraste zwischen Natur und Kultur, die sich ans der Vergleichung des
Germanentums und des Rvmertnms ganz von selbst ergaben, zu Ungunsten
des Römertnms mit mehr oder minder starken Accenten hervorgehoben werden.
Dennoch aber reichen diese Voraussetzungen nicht aus, die Abfassung der
Schrift des Taeitus über Deutschland völlig zu erklären. Hätte ihr Autor nichts
andres gewollt, als durch die Beleuchtung solcher Gegensätze als Bußprediger
oder als Dichter zu wirken, so würde das Buch zweifellos ein andres Ans-
sehe" bekommen haben. Dann wäre mutmaßlich der zweite Teil der Schrift,
der von der geographischen Lage und den Zuständen der einzelnen Stämme,
besonders der des östlichen Germaniens handelt, und manches andre weg¬
gefallen; aber auch die handgreiflichen Fehler der Germanen, ihre Trunk
sucht, ihre Spielwut, ihre Rauflust, ihre Trägheit hätten verschwiegen oder
wenigstens gemildert werden müssen.

Andre haben gemeint, die Germania sei eine Episode eines größern
Werks, der Historien, in denen bekanntlich die römische Geschichte vom Tode
Neros an dargestellt ist, oder wenigstens eine Art Vorwort dazu. Aber auch
diese Ansichten sind leicht zu widerlegen. Zwar giebt es ausführliche Episoden
in den Schriften des Taeitus, wie z. B. im Agricola, wo über das Land und das
Volk der Briten gehandelt wird, oder in den Historien, wo in eingehender
Weise die Zustünde und die Geschichte des jüdischen Volks beleuchtet werde",
aber zu glauben, daß die 4"> Kapitel der Germania mit ihren reichen Details
und ihrer wohlerwognen Komposition als eine bloße Episode eines größern
Werks auch nur gedacht seien, heißt die schriftstellerische Kunst des Taeitus allzu
sehr verkeimen. Aber auch als ein Vorwort zu den Historien kann die Ger¬
manin nicht angesehen werden, weil sie keinerlei Hinweis auf das größere
Werk enthält; vielmehr ist sie eine selbständige, in sich abgeschlossene Publi¬
kation, die allerdings zum Teil ans Vorstudien zu einem größern Werk hervor¬
gegangen sein könnte.

Welche Absicht hat denn aber Taeitus in Wirklichkeit bei der Abfassung
seines Buches über Deutschland verfolgt? Nach Müllenhoffs Meinung ist sein
Zweck hauptsächlich ein politischer gewesen. Um dies dmzuthuu, geht Mülleuhoff


Über die Germania des Cacitus

Proben solcher Stimmungen begegnen uns unter anderen in der Dichtung
des Virgil und des Horaz: vollends zur Zeit des Taeitus, wo der Pessimismus
>vie ein schleichendes Gift um sich fraß, wo nur deutlicher und deutlicher zu
nhueil begann, daß das römische Reich dereinst nnter den Schwertschlügeu der
Gcrmaneukrieger zusanunenbrechen werde, war diese sentimentale Auffassung
mehr als je verbreitet, und man kann denken, daß namentlich in den Rhetoren-
schulen, too die römische Jngend damals ihre Bildung empfing, Themata ans
diesem Ideenkreise mit Vorliebe behandelt wurden. Da ist es denn kein
Wunder, daß Stimmungen von der Art der oben geschilderten, die übrigens
Periodisch in der Geschichte wiederkehren - man braucht nur an das Natur¬
evangelium Jean Jacques Rousseaus zu denken —, daß solche Stimmungen
anch in einem Buche zum Vorschein kommen, das ausschließlich den Sitten
und Zuständen des vermeintlichen Jdealvolks gewidmet war, und daß die
Kontraste zwischen Natur und Kultur, die sich ans der Vergleichung des
Germanentums und des Rvmertnms ganz von selbst ergaben, zu Ungunsten
des Römertnms mit mehr oder minder starken Accenten hervorgehoben werden.
Dennoch aber reichen diese Voraussetzungen nicht aus, die Abfassung der
Schrift des Taeitus über Deutschland völlig zu erklären. Hätte ihr Autor nichts
andres gewollt, als durch die Beleuchtung solcher Gegensätze als Bußprediger
oder als Dichter zu wirken, so würde das Buch zweifellos ein andres Ans-
sehe» bekommen haben. Dann wäre mutmaßlich der zweite Teil der Schrift,
der von der geographischen Lage und den Zuständen der einzelnen Stämme,
besonders der des östlichen Germaniens handelt, und manches andre weg¬
gefallen; aber auch die handgreiflichen Fehler der Germanen, ihre Trunk
sucht, ihre Spielwut, ihre Rauflust, ihre Trägheit hätten verschwiegen oder
wenigstens gemildert werden müssen.

Andre haben gemeint, die Germania sei eine Episode eines größern
Werks, der Historien, in denen bekanntlich die römische Geschichte vom Tode
Neros an dargestellt ist, oder wenigstens eine Art Vorwort dazu. Aber auch
diese Ansichten sind leicht zu widerlegen. Zwar giebt es ausführliche Episoden
in den Schriften des Taeitus, wie z. B. im Agricola, wo über das Land und das
Volk der Briten gehandelt wird, oder in den Historien, wo in eingehender
Weise die Zustünde und die Geschichte des jüdischen Volks beleuchtet werde»,
aber zu glauben, daß die 4«> Kapitel der Germania mit ihren reichen Details
und ihrer wohlerwognen Komposition als eine bloße Episode eines größern
Werks auch nur gedacht seien, heißt die schriftstellerische Kunst des Taeitus allzu
sehr verkeimen. Aber auch als ein Vorwort zu den Historien kann die Ger¬
manin nicht angesehen werden, weil sie keinerlei Hinweis auf das größere
Werk enthält; vielmehr ist sie eine selbständige, in sich abgeschlossene Publi¬
kation, die allerdings zum Teil ans Vorstudien zu einem größern Werk hervor¬
gegangen sein könnte.

Welche Absicht hat denn aber Taeitus in Wirklichkeit bei der Abfassung
seines Buches über Deutschland verfolgt? Nach Müllenhoffs Meinung ist sein
Zweck hauptsächlich ein politischer gewesen. Um dies dmzuthuu, geht Mülleuhoff


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[0645] Über die Germania des Cacitus Proben solcher Stimmungen begegnen uns unter anderen in der Dichtung des Virgil und des Horaz: vollends zur Zeit des Taeitus, wo der Pessimismus >vie ein schleichendes Gift um sich fraß, wo nur deutlicher und deutlicher zu nhueil begann, daß das römische Reich dereinst nnter den Schwertschlügeu der Gcrmaneukrieger zusanunenbrechen werde, war diese sentimentale Auffassung mehr als je verbreitet, und man kann denken, daß namentlich in den Rhetoren- schulen, too die römische Jngend damals ihre Bildung empfing, Themata ans diesem Ideenkreise mit Vorliebe behandelt wurden. Da ist es denn kein Wunder, daß Stimmungen von der Art der oben geschilderten, die übrigens Periodisch in der Geschichte wiederkehren - man braucht nur an das Natur¬ evangelium Jean Jacques Rousseaus zu denken —, daß solche Stimmungen anch in einem Buche zum Vorschein kommen, das ausschließlich den Sitten und Zuständen des vermeintlichen Jdealvolks gewidmet war, und daß die Kontraste zwischen Natur und Kultur, die sich ans der Vergleichung des Germanentums und des Rvmertnms ganz von selbst ergaben, zu Ungunsten des Römertnms mit mehr oder minder starken Accenten hervorgehoben werden. Dennoch aber reichen diese Voraussetzungen nicht aus, die Abfassung der Schrift des Taeitus über Deutschland völlig zu erklären. Hätte ihr Autor nichts andres gewollt, als durch die Beleuchtung solcher Gegensätze als Bußprediger oder als Dichter zu wirken, so würde das Buch zweifellos ein andres Ans- sehe» bekommen haben. Dann wäre mutmaßlich der zweite Teil der Schrift, der von der geographischen Lage und den Zuständen der einzelnen Stämme, besonders der des östlichen Germaniens handelt, und manches andre weg¬ gefallen; aber auch die handgreiflichen Fehler der Germanen, ihre Trunk sucht, ihre Spielwut, ihre Rauflust, ihre Trägheit hätten verschwiegen oder wenigstens gemildert werden müssen. Andre haben gemeint, die Germania sei eine Episode eines größern Werks, der Historien, in denen bekanntlich die römische Geschichte vom Tode Neros an dargestellt ist, oder wenigstens eine Art Vorwort dazu. Aber auch diese Ansichten sind leicht zu widerlegen. Zwar giebt es ausführliche Episoden in den Schriften des Taeitus, wie z. B. im Agricola, wo über das Land und das Volk der Briten gehandelt wird, oder in den Historien, wo in eingehender Weise die Zustünde und die Geschichte des jüdischen Volks beleuchtet werde», aber zu glauben, daß die 4«> Kapitel der Germania mit ihren reichen Details und ihrer wohlerwognen Komposition als eine bloße Episode eines größern Werks auch nur gedacht seien, heißt die schriftstellerische Kunst des Taeitus allzu sehr verkeimen. Aber auch als ein Vorwort zu den Historien kann die Ger¬ manin nicht angesehen werden, weil sie keinerlei Hinweis auf das größere Werk enthält; vielmehr ist sie eine selbständige, in sich abgeschlossene Publi¬ kation, die allerdings zum Teil ans Vorstudien zu einem größern Werk hervor¬ gegangen sein könnte. Welche Absicht hat denn aber Taeitus in Wirklichkeit bei der Abfassung seines Buches über Deutschland verfolgt? Nach Müllenhoffs Meinung ist sein Zweck hauptsächlich ein politischer gewesen. Um dies dmzuthuu, geht Mülleuhoff

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/645>, abgerufen am 27.07.2024.