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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

Deutschland politisch an Nußland, aber das deutsche Volkstum ist durch das
polnische und das litauische vom russischen getrennt. Wird die großslawische
Idee das Polentum für sich gewinnen? Oder werden die historischen Erinne¬
rungen und die Gegensätze zwischen dein Christentum des Westens, das von
Rom, und dein des Ostens, das von Bhzanz ausging, jede Verbindung auch
in Zukunft unmöglich machen? Die Deutschen schmeicheln sich, es werde so
sein, und nehmen Mickiewiczs Dichterwort: "Es ist ein alter Haß im slawischen
Geschlechte" für ein wahres Wort.

Ich begreife, daß sie es glauben wollen, aber mit meinen alten Angen,
die an amerikanische Dimensionen gewöhnt sind, sehe ich die Unterschiede nicht
so groß, und da ich so viele Völkerunterschiede sich habe verwischen sehen, kann
ich nicht so fest gerade an die Dauer dieser glauben. Wenn man die hinreißende
Macht gesehen hat, womit räumlich große politische Gedanken auf die Gemüter
der Menschen wirken, legt man größere Maßstäbe auch ein die europäischen
Verhältnisse. Wie in Amerika zuerst der Staat vou Meer zu Meer, dann
der Grundsatz "Amerika den Amerikanern," endlich der Gedanke einer großen
pazifischen Politik, dem man in Europa noch immer nicht recht erfaßt hat,
schwungradgleich die politischen Auffassungen in Bewegung und im Wachsen
erhalten hat, ist im höchsten Grade lehrreich. Es ist ja möglich, daß kleinere
Differenzen, wie die alten zwischen Nord und Süd, oder die neuern zwischen
den atlantischen und den Mississippistaateu, darüber nur eingeschlummert sind.
Aber jedenfalls schlummern sie einstweilen sehr tief. Wenn ich nun sehe, wie den
großen politischen Gedanken die großen wirtschaftlichen Entwürfe folgen und auch
nicht etwa bloß Entwürfe bleiben, so muß ich jenen eine schöpferische Kraft zu¬
erkennen, die durch gewaltige Werke wie die Pazifikbahnen oder den Inter¬
ozeanischen Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken. Ich meine,
in Amerika gelernt zu haben und diese Lehre auf Europa anwenden zu dürfen:
die Kunst der Politik besteht zu einem sehr großen Teil darin, die politischen
Konflikte aus engen Räumen, wo sie sich wie Geschwüre einfressen, herauf¬
zuführen. Darin liegt das Heil, das die Erweiterung der Räume der Welt
gebracht hat. Es ist keine Beschwörung der Übel, aber eine für lange hinaus
heilsame Verteilung. Auch das gesunde Wachstum der Staaten neigt dazu,
sich in bestimmten Richtungen zusammenzudrängen und in andern dafür zurück¬
zubleiben. Beschränkten Erwägungen, fast Instinkten folgend, ging der un¬
gelenke Strom deutscher Auswandrung ein Jahrhundert lang nach dem Norden
der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Daß er so viel Größeres für das
ganze Deutschtum in Osteuropa, Vorderasien, Südafrika und Südamerika leisten
konnte, sah damals kein einziger "Staatsmann" ein, d. h. keiner erkannte die
Aufgabe, die von Rechts wegen die größte Hütte sein müssen. Einstweilen
sehe ich nur einige wenige fortgeschrittne Geister in ganz Mitteleuropa an der
Arbeit, ihre Volksgenossen zu lehren, Völker- und Staatengrenzcn zu Gunsten
eines größern Znkunftsgebilds weniger zu betonen, als das, was Völker und
Staat einigt. Auffallenderweise verschließen sich diesem Streben am allermeisten
die, die inner- und außerhalb Deutschlands einen hervorragend unpolitischen


Briefe eines Zurückgekehrten

Deutschland politisch an Nußland, aber das deutsche Volkstum ist durch das
polnische und das litauische vom russischen getrennt. Wird die großslawische
Idee das Polentum für sich gewinnen? Oder werden die historischen Erinne¬
rungen und die Gegensätze zwischen dein Christentum des Westens, das von
Rom, und dein des Ostens, das von Bhzanz ausging, jede Verbindung auch
in Zukunft unmöglich machen? Die Deutschen schmeicheln sich, es werde so
sein, und nehmen Mickiewiczs Dichterwort: „Es ist ein alter Haß im slawischen
Geschlechte" für ein wahres Wort.

Ich begreife, daß sie es glauben wollen, aber mit meinen alten Angen,
die an amerikanische Dimensionen gewöhnt sind, sehe ich die Unterschiede nicht
so groß, und da ich so viele Völkerunterschiede sich habe verwischen sehen, kann
ich nicht so fest gerade an die Dauer dieser glauben. Wenn man die hinreißende
Macht gesehen hat, womit räumlich große politische Gedanken auf die Gemüter
der Menschen wirken, legt man größere Maßstäbe auch ein die europäischen
Verhältnisse. Wie in Amerika zuerst der Staat vou Meer zu Meer, dann
der Grundsatz „Amerika den Amerikanern," endlich der Gedanke einer großen
pazifischen Politik, dem man in Europa noch immer nicht recht erfaßt hat,
schwungradgleich die politischen Auffassungen in Bewegung und im Wachsen
erhalten hat, ist im höchsten Grade lehrreich. Es ist ja möglich, daß kleinere
Differenzen, wie die alten zwischen Nord und Süd, oder die neuern zwischen
den atlantischen und den Mississippistaateu, darüber nur eingeschlummert sind.
Aber jedenfalls schlummern sie einstweilen sehr tief. Wenn ich nun sehe, wie den
großen politischen Gedanken die großen wirtschaftlichen Entwürfe folgen und auch
nicht etwa bloß Entwürfe bleiben, so muß ich jenen eine schöpferische Kraft zu¬
erkennen, die durch gewaltige Werke wie die Pazifikbahnen oder den Inter¬
ozeanischen Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken. Ich meine,
in Amerika gelernt zu haben und diese Lehre auf Europa anwenden zu dürfen:
die Kunst der Politik besteht zu einem sehr großen Teil darin, die politischen
Konflikte aus engen Räumen, wo sie sich wie Geschwüre einfressen, herauf¬
zuführen. Darin liegt das Heil, das die Erweiterung der Räume der Welt
gebracht hat. Es ist keine Beschwörung der Übel, aber eine für lange hinaus
heilsame Verteilung. Auch das gesunde Wachstum der Staaten neigt dazu,
sich in bestimmten Richtungen zusammenzudrängen und in andern dafür zurück¬
zubleiben. Beschränkten Erwägungen, fast Instinkten folgend, ging der un¬
gelenke Strom deutscher Auswandrung ein Jahrhundert lang nach dem Norden
der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Daß er so viel Größeres für das
ganze Deutschtum in Osteuropa, Vorderasien, Südafrika und Südamerika leisten
konnte, sah damals kein einziger „Staatsmann" ein, d. h. keiner erkannte die
Aufgabe, die von Rechts wegen die größte Hütte sein müssen. Einstweilen
sehe ich nur einige wenige fortgeschrittne Geister in ganz Mitteleuropa an der
Arbeit, ihre Volksgenossen zu lehren, Völker- und Staatengrenzcn zu Gunsten
eines größern Znkunftsgebilds weniger zu betonen, als das, was Völker und
Staat einigt. Auffallenderweise verschließen sich diesem Streben am allermeisten
die, die inner- und außerhalb Deutschlands einen hervorragend unpolitischen


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[0602] Briefe eines Zurückgekehrten Deutschland politisch an Nußland, aber das deutsche Volkstum ist durch das polnische und das litauische vom russischen getrennt. Wird die großslawische Idee das Polentum für sich gewinnen? Oder werden die historischen Erinne¬ rungen und die Gegensätze zwischen dein Christentum des Westens, das von Rom, und dein des Ostens, das von Bhzanz ausging, jede Verbindung auch in Zukunft unmöglich machen? Die Deutschen schmeicheln sich, es werde so sein, und nehmen Mickiewiczs Dichterwort: „Es ist ein alter Haß im slawischen Geschlechte" für ein wahres Wort. Ich begreife, daß sie es glauben wollen, aber mit meinen alten Angen, die an amerikanische Dimensionen gewöhnt sind, sehe ich die Unterschiede nicht so groß, und da ich so viele Völkerunterschiede sich habe verwischen sehen, kann ich nicht so fest gerade an die Dauer dieser glauben. Wenn man die hinreißende Macht gesehen hat, womit räumlich große politische Gedanken auf die Gemüter der Menschen wirken, legt man größere Maßstäbe auch ein die europäischen Verhältnisse. Wie in Amerika zuerst der Staat vou Meer zu Meer, dann der Grundsatz „Amerika den Amerikanern," endlich der Gedanke einer großen pazifischen Politik, dem man in Europa noch immer nicht recht erfaßt hat, schwungradgleich die politischen Auffassungen in Bewegung und im Wachsen erhalten hat, ist im höchsten Grade lehrreich. Es ist ja möglich, daß kleinere Differenzen, wie die alten zwischen Nord und Süd, oder die neuern zwischen den atlantischen und den Mississippistaateu, darüber nur eingeschlummert sind. Aber jedenfalls schlummern sie einstweilen sehr tief. Wenn ich nun sehe, wie den großen politischen Gedanken die großen wirtschaftlichen Entwürfe folgen und auch nicht etwa bloß Entwürfe bleiben, so muß ich jenen eine schöpferische Kraft zu¬ erkennen, die durch gewaltige Werke wie die Pazifikbahnen oder den Inter¬ ozeanischen Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken. Ich meine, in Amerika gelernt zu haben und diese Lehre auf Europa anwenden zu dürfen: die Kunst der Politik besteht zu einem sehr großen Teil darin, die politischen Konflikte aus engen Räumen, wo sie sich wie Geschwüre einfressen, herauf¬ zuführen. Darin liegt das Heil, das die Erweiterung der Räume der Welt gebracht hat. Es ist keine Beschwörung der Übel, aber eine für lange hinaus heilsame Verteilung. Auch das gesunde Wachstum der Staaten neigt dazu, sich in bestimmten Richtungen zusammenzudrängen und in andern dafür zurück¬ zubleiben. Beschränkten Erwägungen, fast Instinkten folgend, ging der un¬ gelenke Strom deutscher Auswandrung ein Jahrhundert lang nach dem Norden der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Daß er so viel Größeres für das ganze Deutschtum in Osteuropa, Vorderasien, Südafrika und Südamerika leisten konnte, sah damals kein einziger „Staatsmann" ein, d. h. keiner erkannte die Aufgabe, die von Rechts wegen die größte Hütte sein müssen. Einstweilen sehe ich nur einige wenige fortgeschrittne Geister in ganz Mitteleuropa an der Arbeit, ihre Volksgenossen zu lehren, Völker- und Staatengrenzcn zu Gunsten eines größern Znkunftsgebilds weniger zu betonen, als das, was Völker und Staat einigt. Auffallenderweise verschließen sich diesem Streben am allermeisten die, die inner- und außerhalb Deutschlands einen hervorragend unpolitischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/602>, abgerufen am 27.07.2024.