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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

höhergestimmte humanitäre und politische und wissenschaftliche Meinungsäuße¬
rung. Man greift zur Muttersprache, die schon im Namen an die familienhafte
Geschlossenheit des Stammes erinnert, der seiner Natur nach unter dem Staat
steht, um an das Mitleid aller für unglückliche Volksverwandte zu appellieren,
die allerdings vielleicht kein Wort in dieser Sprache schreiben können, man
bespricht in ihr die Interessen der Schule und der Kirche, die über die engen
Grenzen der Völkerbruchstücke hinaus bis an die der Menschheit reichen, und
verständigt sich in ihr vor allem über das, was die Ausgewanderten mit der
Heimat noch zusammenbükt. In dieser Weise haben nicht bloß die Deutschen,
sondern innerhalb dieser wieder sogar die Luxemburger ihre besondre Litteratur
und Presse in Amerika gepflegt, und so ueben den Iren die Güter und die
Waliser und unzählige andre. Sogar unter den Anglokelten haben politisches
Bewußtsein Bruchteile dieser Familien ausgebildet, die sich in der fernen Insel -
Heimat nicht als Volkspersönlichkeiteu fühlten. In dieser Weise bildeten sich die
fest zusammenhaltenden Nachkommen der schottisch-protestantischen Einwandrer
M Nvrdostirland, kurzweg Irisli Lootoninöu, Irische Schotten, genannt, zu
einem ebenso thätigen wie selbstbewußten Völkchen mit einer ganz respektabel"
Litteratur aus, über die man sich in des liebenswürdigen Whittier ?rosk 'Works
unterrichten kann. Niemand kümmert sich politisch um all das, da von allen
die Voraussetzung stillschweigend anerkannt wird, dem Staat werde gegeben
werden, was er braucht, und der Verkehr werde sich das seine ebenfalls zu
schaffen wissen.

Hoffentlich kommt man in ähnlicher Weise auch in Deutschland und Öster¬
reich-Ungarn dazu, die Staatsnotwendigkeit scharf gegen das Lebensbedürfnis
der untergeordneten Glieder, der Stämme abzugrenzen.

Die wichtigsten Fragen alle ziehn in Deutschland langsam nach Osten
hin. Dort liegt die größte Gefahr, der Zug des Ostens nach Westen, der
nur über Deutschland weggehn kaun; und auch die größte Zukunft. Leider
stehn wir auch hier im Bann einer Geschichte, die uns in den polnischen An¬
gelegenheiten eine Politik aufnötigt, die wir offenbar nicht gewählt haben
würden, wenn wir überhaupt hätten wählen können. Dem großen enrasischen
Slawentum, das vom Dujepr bis zum Stillen Ozean reicht, ein westeuro¬
päisches entgegenzustellen, das stark genug war, um die Verwirklichung des
allslnwischeu Gedankens zu hindern, lag im Interesse Mitteleuropas. Es ist
die Politik, die Österreich-Ungarn unter manchen Schwankungen und Fehl¬
griffen befolgt, und zu der wir uns gemeinsam mit ihm auf der Balkanhalb¬
insel bekennen, soweit wir es für nötig halten, dort Stellung zu nehmen. Vor
allem diente ja bekanntlich auch die Einpflanzung einer deutschen Dynastie in
Rumänien diesem Gedanken mit großem Erfolge. Es ist weiter bekannt, wie im
Norden schon von dem Rückfluten der Deutschen nach Osten im frühen Mittel¬
alter an die Bedingungen für eine Einschiebung polnischer nud titanischer
Staaten zwischen Deutschen und Russen durch eine Jneinanderdränguug der
Wohnsitze besonders der Deutschen und der Polen erschwert und durch den
Zerfall des polnischen Staats unmöglich gemacht wurde. Dort grenzt nun


Grenzboten IV 1901 75
Briefe eines Zurückgekehrten

höhergestimmte humanitäre und politische und wissenschaftliche Meinungsäuße¬
rung. Man greift zur Muttersprache, die schon im Namen an die familienhafte
Geschlossenheit des Stammes erinnert, der seiner Natur nach unter dem Staat
steht, um an das Mitleid aller für unglückliche Volksverwandte zu appellieren,
die allerdings vielleicht kein Wort in dieser Sprache schreiben können, man
bespricht in ihr die Interessen der Schule und der Kirche, die über die engen
Grenzen der Völkerbruchstücke hinaus bis an die der Menschheit reichen, und
verständigt sich in ihr vor allem über das, was die Ausgewanderten mit der
Heimat noch zusammenbükt. In dieser Weise haben nicht bloß die Deutschen,
sondern innerhalb dieser wieder sogar die Luxemburger ihre besondre Litteratur
und Presse in Amerika gepflegt, und so ueben den Iren die Güter und die
Waliser und unzählige andre. Sogar unter den Anglokelten haben politisches
Bewußtsein Bruchteile dieser Familien ausgebildet, die sich in der fernen Insel -
Heimat nicht als Volkspersönlichkeiteu fühlten. In dieser Weise bildeten sich die
fest zusammenhaltenden Nachkommen der schottisch-protestantischen Einwandrer
M Nvrdostirland, kurzweg Irisli Lootoninöu, Irische Schotten, genannt, zu
einem ebenso thätigen wie selbstbewußten Völkchen mit einer ganz respektabel»
Litteratur aus, über die man sich in des liebenswürdigen Whittier ?rosk 'Works
unterrichten kann. Niemand kümmert sich politisch um all das, da von allen
die Voraussetzung stillschweigend anerkannt wird, dem Staat werde gegeben
werden, was er braucht, und der Verkehr werde sich das seine ebenfalls zu
schaffen wissen.

Hoffentlich kommt man in ähnlicher Weise auch in Deutschland und Öster¬
reich-Ungarn dazu, die Staatsnotwendigkeit scharf gegen das Lebensbedürfnis
der untergeordneten Glieder, der Stämme abzugrenzen.

Die wichtigsten Fragen alle ziehn in Deutschland langsam nach Osten
hin. Dort liegt die größte Gefahr, der Zug des Ostens nach Westen, der
nur über Deutschland weggehn kaun; und auch die größte Zukunft. Leider
stehn wir auch hier im Bann einer Geschichte, die uns in den polnischen An¬
gelegenheiten eine Politik aufnötigt, die wir offenbar nicht gewählt haben
würden, wenn wir überhaupt hätten wählen können. Dem großen enrasischen
Slawentum, das vom Dujepr bis zum Stillen Ozean reicht, ein westeuro¬
päisches entgegenzustellen, das stark genug war, um die Verwirklichung des
allslnwischeu Gedankens zu hindern, lag im Interesse Mitteleuropas. Es ist
die Politik, die Österreich-Ungarn unter manchen Schwankungen und Fehl¬
griffen befolgt, und zu der wir uns gemeinsam mit ihm auf der Balkanhalb¬
insel bekennen, soweit wir es für nötig halten, dort Stellung zu nehmen. Vor
allem diente ja bekanntlich auch die Einpflanzung einer deutschen Dynastie in
Rumänien diesem Gedanken mit großem Erfolge. Es ist weiter bekannt, wie im
Norden schon von dem Rückfluten der Deutschen nach Osten im frühen Mittel¬
alter an die Bedingungen für eine Einschiebung polnischer nud titanischer
Staaten zwischen Deutschen und Russen durch eine Jneinanderdränguug der
Wohnsitze besonders der Deutschen und der Polen erschwert und durch den
Zerfall des polnischen Staats unmöglich gemacht wurde. Dort grenzt nun


Grenzboten IV 1901 75
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[0601] Briefe eines Zurückgekehrten höhergestimmte humanitäre und politische und wissenschaftliche Meinungsäuße¬ rung. Man greift zur Muttersprache, die schon im Namen an die familienhafte Geschlossenheit des Stammes erinnert, der seiner Natur nach unter dem Staat steht, um an das Mitleid aller für unglückliche Volksverwandte zu appellieren, die allerdings vielleicht kein Wort in dieser Sprache schreiben können, man bespricht in ihr die Interessen der Schule und der Kirche, die über die engen Grenzen der Völkerbruchstücke hinaus bis an die der Menschheit reichen, und verständigt sich in ihr vor allem über das, was die Ausgewanderten mit der Heimat noch zusammenbükt. In dieser Weise haben nicht bloß die Deutschen, sondern innerhalb dieser wieder sogar die Luxemburger ihre besondre Litteratur und Presse in Amerika gepflegt, und so ueben den Iren die Güter und die Waliser und unzählige andre. Sogar unter den Anglokelten haben politisches Bewußtsein Bruchteile dieser Familien ausgebildet, die sich in der fernen Insel - Heimat nicht als Volkspersönlichkeiteu fühlten. In dieser Weise bildeten sich die fest zusammenhaltenden Nachkommen der schottisch-protestantischen Einwandrer M Nvrdostirland, kurzweg Irisli Lootoninöu, Irische Schotten, genannt, zu einem ebenso thätigen wie selbstbewußten Völkchen mit einer ganz respektabel» Litteratur aus, über die man sich in des liebenswürdigen Whittier ?rosk 'Works unterrichten kann. Niemand kümmert sich politisch um all das, da von allen die Voraussetzung stillschweigend anerkannt wird, dem Staat werde gegeben werden, was er braucht, und der Verkehr werde sich das seine ebenfalls zu schaffen wissen. Hoffentlich kommt man in ähnlicher Weise auch in Deutschland und Öster¬ reich-Ungarn dazu, die Staatsnotwendigkeit scharf gegen das Lebensbedürfnis der untergeordneten Glieder, der Stämme abzugrenzen. Die wichtigsten Fragen alle ziehn in Deutschland langsam nach Osten hin. Dort liegt die größte Gefahr, der Zug des Ostens nach Westen, der nur über Deutschland weggehn kaun; und auch die größte Zukunft. Leider stehn wir auch hier im Bann einer Geschichte, die uns in den polnischen An¬ gelegenheiten eine Politik aufnötigt, die wir offenbar nicht gewählt haben würden, wenn wir überhaupt hätten wählen können. Dem großen enrasischen Slawentum, das vom Dujepr bis zum Stillen Ozean reicht, ein westeuro¬ päisches entgegenzustellen, das stark genug war, um die Verwirklichung des allslnwischeu Gedankens zu hindern, lag im Interesse Mitteleuropas. Es ist die Politik, die Österreich-Ungarn unter manchen Schwankungen und Fehl¬ griffen befolgt, und zu der wir uns gemeinsam mit ihm auf der Balkanhalb¬ insel bekennen, soweit wir es für nötig halten, dort Stellung zu nehmen. Vor allem diente ja bekanntlich auch die Einpflanzung einer deutschen Dynastie in Rumänien diesem Gedanken mit großem Erfolge. Es ist weiter bekannt, wie im Norden schon von dem Rückfluten der Deutschen nach Osten im frühen Mittel¬ alter an die Bedingungen für eine Einschiebung polnischer nud titanischer Staaten zwischen Deutschen und Russen durch eine Jneinanderdränguug der Wohnsitze besonders der Deutschen und der Polen erschwert und durch den Zerfall des polnischen Staats unmöglich gemacht wurde. Dort grenzt nun Grenzboten IV 1901 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/601>, abgerufen am 27.07.2024.