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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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statten. Auf eigne Faust wird er höchstens eine Anzahl von Abstrakten, von
Thätigkeits- und Leidensbegriffen wie Hunger, Schwermut, Schlacht, Gefecht
und Eid zu Göttern gemacht haben. Daß die Zeugungen, Kämpfe und Un¬
thaten der alten Götter Personifikationen von Naturvorgängen sind, sieht man
bei einzelnen ganz deutlich, so wenn die in Hesiods Weltkreise berühmtesten
Strome als Kinder des Okeanos aufgezählt werden. Die Entthronung der
alten Götter durch die Olympier ist bald als Sinnbild der Bändigung wilder
Naturkräfte durch den Menschen und der Aufrichtung einer gesetzlichen Ordnung,
bald als Erinnerung daran aufgefaßt worden, daß der Kult älterer, wüster,
orientalischer Gottheiten durch den der griechischen verdrängt worden sei,
Nägelsbach verwirft beide Erklärungen; die erste, weil zum ältern, titanischen
Göttergeschlecht auch Themis und Prometheus gehören, das Recht und die
aus der Vernunft hervorgehende menschliche Kultur; die zweite, weil schlechter¬
dings kein Beweis dafür erbracht werden kann, daß die Griechen in der pelas-
gischen Zeit andre, orientalische Götter verehrt hätten, obwohl nicht bloß in
jener alten, sondern auch in späterer Zeit manches Orientalische und Ägyptische,
wie die Kuhgestalt der Jo, die Zwölfzahl der Thaten des Herakles, der Or-
giasmus der Dionhsosfestc in die Mythologie und den Kultus der Griechen
eingedrungen ist. Vielmehr deutet, wie schon bemerkt worden ist, so manches
an, daß Zeus, der indische Himmelsgott Dyaus, nicht bloß der erste, sondern
ursprünglich der einzige Gott der griechischen Arier gewesen ist, so der uralte
dodonüische Spruch: Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein. Die Titcmen-
gcschichten, meint Nägelsbach, seien ein Produkt der Grübelei, Weil die Götter
nicht ewig, sondern entstanden und dabei als menschenähnliche Personen ge¬
dacht wurden, mußte man zu ihnen Eltern, Großeltern, Stammbäume hinzu¬
denken und einen Grund ersinnen, warum die alten Götter, die doch nicht
gestorben waren, nicht mehr regierten. Die Naturmythen, die zeigen, wie die
Elemente auseinander hervorgehen und einander verschlingen, boten den Stoff
dar für die Genealogien.

Abgesehen von der bedenklichen Bereicherung des Göttergeschlechts durch
immer neue Gestalten erfuhr die Vorstellung von der Gottheit nach Homer
keine wesentliche Veränderung mehr. Die Menschenähnlichkeit der Götter wurde
so stark betont, daß Heraklit die Menschen sterbliche Götter und die Götter
unsterbliche Menschen nennen dürfte. Außerordentlich befestigt wurde der
Glaube an die menschenähnliche konkrete Individualität der Götter durch die
Plastik. Diese gewaltige und unvergleichliche Leistung des griechischen Geistes
brachte auf dem Gebiete der Religion ganz entgegengesetzte Wirkungen hervor.
Einerseits wurde durch die Schönheit der Götterbilder die Gottesidee veredelt,
alles Häßliche, Gemeine, Rohe, Wüstphantastische und Teuflische, das die orien¬
talischen Fratzen darbieten, davon ausgeschieden. Nur das Edelste und das
Höchste, was der Mensch zu denken vermag, wurde im Götterbilde verkörpert.
Von der ursprünglichen Vorstellung, wonach die Götter nichts andres waren
als die Elemente, die großen Naturkörper und Naturerscheinungen, blieb gar
nichts mehr übrig, seitdem die Bildhauer das Werk des Homer, der die Götter


statten. Auf eigne Faust wird er höchstens eine Anzahl von Abstrakten, von
Thätigkeits- und Leidensbegriffen wie Hunger, Schwermut, Schlacht, Gefecht
und Eid zu Göttern gemacht haben. Daß die Zeugungen, Kämpfe und Un¬
thaten der alten Götter Personifikationen von Naturvorgängen sind, sieht man
bei einzelnen ganz deutlich, so wenn die in Hesiods Weltkreise berühmtesten
Strome als Kinder des Okeanos aufgezählt werden. Die Entthronung der
alten Götter durch die Olympier ist bald als Sinnbild der Bändigung wilder
Naturkräfte durch den Menschen und der Aufrichtung einer gesetzlichen Ordnung,
bald als Erinnerung daran aufgefaßt worden, daß der Kult älterer, wüster,
orientalischer Gottheiten durch den der griechischen verdrängt worden sei,
Nägelsbach verwirft beide Erklärungen; die erste, weil zum ältern, titanischen
Göttergeschlecht auch Themis und Prometheus gehören, das Recht und die
aus der Vernunft hervorgehende menschliche Kultur; die zweite, weil schlechter¬
dings kein Beweis dafür erbracht werden kann, daß die Griechen in der pelas-
gischen Zeit andre, orientalische Götter verehrt hätten, obwohl nicht bloß in
jener alten, sondern auch in späterer Zeit manches Orientalische und Ägyptische,
wie die Kuhgestalt der Jo, die Zwölfzahl der Thaten des Herakles, der Or-
giasmus der Dionhsosfestc in die Mythologie und den Kultus der Griechen
eingedrungen ist. Vielmehr deutet, wie schon bemerkt worden ist, so manches
an, daß Zeus, der indische Himmelsgott Dyaus, nicht bloß der erste, sondern
ursprünglich der einzige Gott der griechischen Arier gewesen ist, so der uralte
dodonüische Spruch: Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein. Die Titcmen-
gcschichten, meint Nägelsbach, seien ein Produkt der Grübelei, Weil die Götter
nicht ewig, sondern entstanden und dabei als menschenähnliche Personen ge¬
dacht wurden, mußte man zu ihnen Eltern, Großeltern, Stammbäume hinzu¬
denken und einen Grund ersinnen, warum die alten Götter, die doch nicht
gestorben waren, nicht mehr regierten. Die Naturmythen, die zeigen, wie die
Elemente auseinander hervorgehen und einander verschlingen, boten den Stoff
dar für die Genealogien.

Abgesehen von der bedenklichen Bereicherung des Göttergeschlechts durch
immer neue Gestalten erfuhr die Vorstellung von der Gottheit nach Homer
keine wesentliche Veränderung mehr. Die Menschenähnlichkeit der Götter wurde
so stark betont, daß Heraklit die Menschen sterbliche Götter und die Götter
unsterbliche Menschen nennen dürfte. Außerordentlich befestigt wurde der
Glaube an die menschenähnliche konkrete Individualität der Götter durch die
Plastik. Diese gewaltige und unvergleichliche Leistung des griechischen Geistes
brachte auf dem Gebiete der Religion ganz entgegengesetzte Wirkungen hervor.
Einerseits wurde durch die Schönheit der Götterbilder die Gottesidee veredelt,
alles Häßliche, Gemeine, Rohe, Wüstphantastische und Teuflische, das die orien¬
talischen Fratzen darbieten, davon ausgeschieden. Nur das Edelste und das
Höchste, was der Mensch zu denken vermag, wurde im Götterbilde verkörpert.
Von der ursprünglichen Vorstellung, wonach die Götter nichts andres waren
als die Elemente, die großen Naturkörper und Naturerscheinungen, blieb gar
nichts mehr übrig, seitdem die Bildhauer das Werk des Homer, der die Götter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/543>, abgerufen am 01.09.2024.